Ruth Klüger – Der gespielte Jude * Rezession zu Gerhard Scheit, Verborgener Staat, lebendiges Geld
Ruth Klüger
Der gespielte Jude
Gerhard Scheits Buch über die Dramaturgie des Antisemitismus
Das Buch von fast 600 Seiten besticht zunächst durch die Fülle an Material, die hier zusammengetragen wurde. Gleichzeitig taucht man hier als Leserin in einen Sumpf von Dummheit und Bosheit, der in der Literaturgeschichte wohl einzigartig deprimierend wirkt, von den Passionsspielen bis zu Fassbinder reicht und solche Eigentümlichkeiten wie jüdische Vergewaltiger von christlichen Pilgerinnen wie menstruierende männliche Juden einschließt. Dass darunter auch einige Glanzstücke sind, macht die Sache nicht besser, eher trauriger. Scheit ist ein hervorragender Kenner der Theaterliteratur, wie er in seinen früheren Büchern “Hanswurst und der Staat” und “Dramaturgie der Geschlechter” bewiesen hat. Die Judenfeinde, so Scheit, haben von alters her eine unstillbare Neigung, die Juden zu imitieren, sie zu “spielen”, ob am Stammtisch oder auf der Bühne. Juden und Antisemitismus im Theater, Oper und Film erweisen sich als eine schier unerschöpfliche Quelle von Vorurteil, Mißgunst, und jene zwei Spielarten des Aberglaubens, den christlich-religiösen, dem die lebendigen Juden die Gottesmörder sind, welche selbst den Tod verdienen und den pseudo-wissenschaftlichen Aberglauben, der rassistische Unterscheidungen vorzunehmen vorgibt, für die er statt Beweise virulente Behauptungen erbringt. Scheits These, dass diese beiden, der alte und der moderne Antijudaismus, einen Fortsetzungsroman bilden, ist nicht neu. Neu und nützlich ist die Beharrlichkeit und Ausführlichkeit, mit der der Autor die Judenfeindlichkeit in beiden Spielarten auf denselben Nenner bringt, den der Verbindung von Blut- und Geldgier, von mörderischem Impuls und Habsucht. Juden als “Personifikation des Geldes” machen das Geld darstellbar und gewähren dem Judenfeind einen Vorwand seine eigenen tabuisierten Wünsche, darunter auch sexuelle, auszuleben und gleichzeitig zu verdammen. Scheit fügt hinzu, dass sich dahinter immer auch staatliche, politische Interessen verbergen.
Scheit beginnt mit den Evangelien und zwar nicht, wie üblich, mit Judas‘ Verrat und Jesus‘ Kreuzigung, sondern mit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel, die er als eine “Urszene” des Christentums vorschlägt. Der Materialismus der Juden gegenüber dem geistigen Erbe der Christen sei von dieser Szene her festgeschrieben. In seiner Analyse der Passionsspiele stehen sich dann nicht nur Synagoga und Ecclesia gegenüber sondern auch Hostie und Münze, die sich ähnlich sehen wie Christus und Antichrist, die erstere als “gutes” Geld “im Himmel verortet”, das schlechte, wirkliche Geld “mit dem Judentum identifiziert”. Dazu kommt die gewagte Feststellung, dass die Passionsspiele und Bachs Passionsoratorien das “sadomasochistische Geheimnis der christlichen Lust” enthalten und auch ausplaudern, eine Lust, die man aus guten Gründen den angeblichen Gottesmördern in die Schuhe schieben muß.
Scheit erkennt die zentrale Bedeutung von Shakespeares Shylock auch für die spätere Gestaltung der Judenfiguren auf der Bühne und widmet dem “Kaufmann von Venedig” entsprechende Aufmerksamkeit. Eine billig humanisierende Deutung dieses schillernden Bösewichts lehnt er ganz richtig ab. Shylocks Gegenspieler Antonio sieht er vielmehr als einen säkularisierten Heiland, dessen Kapital sich wunderbarerweise zinsfrei vermehrt und dem der in der Geldsymbolik verankerte Jude sinngemäß nachstellt und nach dem Leben trachtet, wie die Juden dem heilsbringenden Christus von eh und je nach dem Leben getrachtet haben. Der “Dämonisierung des zinstragenden Kapitals in Gestalt des Juden” setzt Scheit die Rationalisierung des Geldes in Lessings “Nathan der Weise” gegenüber. “Der Reichtum hat für Lessing nichts von einer ungreifbaren, gespenstischen Gegenständlichkeit – er ist das Vernünftige, das nur verallgemeinert werden muß für alle.” Und doch gibt es auch hier die Abkehrung vom Profit in der Gestalt des AI Hafi, der am Ganges ein Leben ohne Geld sucht. Systematisch rückt Scheit die Geldproblematik in den Mittelpunkt der Diskussion und wirft neues Licht sowohl auf den Nathan wie auf den Shylock. Hier scheint die manchmal einseitig anmutende Darstellung mehr als gerechtfertigt.
Heikler ist die Behandlung des sogenannten “strukturellen Antisemitismus”, bei dem jüdische Gestalten gar nicht auftreten, sondern nur durch Analogie von Eingeweihten erkannt werden können. Damit sind wir und Scheit mitten in der Debatte um das Für und Wider des Antisemitismus in Wagners Opern, das heißt der Frage, ob der anderswo erwiesene Antisemitismus des Komponisten sich auch in den Gestalten von Mime, Hagen, Kundry, Beckmesser äußert. Mir scheint hier ein logisches Problem zu liegen, das man theoretisch lösen müßte. Nämlich so: ein Autor, der in den Juden schlechte Eigenschaften sieht, diese Eigenschaften aber christlichen Gestalten zuschreibt, macht diese letzteren ja nicht zu Juden, sondern verallgemeinert die hassenswerten oder verächtlichen Eigenschaften. Wenn der betreffende Nichtjude ein integrierter Bürger einer deutschen Stadt ist, wie Beckmesser in den “Meistersingern”, dann kann auch das Anklingen eines jüdischen Motivs, wie die musikalische Assoziation mit dem Märchen vom “Juden im Dorn”, ihn nicht zum Außenseiter und Juden stempeln. Wenn einer sagt: Du benimmst dich wie ein Jude, so bedeutet das noch nicht: Du bist Jude. Ob sich diese beiden Aussagen in der Fiktion doch manchmal überschneiden, müßte mit aller Geduld durchdiskutiert werden, unter Berücksichtigung des grundsätzlichen Unterschieds zwischen Vergleich und Gleichsetzung sowie der Anwendung auf den spezifischen Fall. Auch in Fritz Langs frühen Filmen sieht Scheit die antisemitische Tendenz dort, wo kein Jude erwähnt wird. Es stimmt, dass die Hunnen, welche die Nibelungen in Langs Film überfallen, rassisch anders und häßlicher aussehen als die Germanen. Doch solche Vergröberungen, die man heute vermeiden würde, waren damals überall auf der Welt zu finden. Es waren eben schlechte Zeiten für Feinfühligkeit. Das macht den Regisseur Lang noch nicht zum Antisemiten, bei dem man sich wundern muß, wie Scheit es tut, dass er später in Hollywood antifaschistische Filme drehte. So einfach geht‘s nicht.
Beim Lesen stellen sich oft Schwierigkeiten ein. Die Pointen entgleiten, man ist sich nicht immer sicher, worauf eine Darstellung hinausläuft. Das hat gewiß zum Teil damit zu tun, dass Scheit seine wirtschaftlichen und soziologischen Voraussetzungen für bewiesen hält. Er geht wohl von einem marxistischen Ansatz aus, der aber im Detail oft verloren geht, was gelegentlich das Verständnis erschwert. Vor allem die Rolle des Staats, die Scheit für wichtig genug hält, um sie im Buchtitel festzuhalten, ist in vielen Fällen unklar. Dass zum Beispiel Shakespeares Portia in der Gerichtsszene den Staat verkörpert, ist richtig, doch der Hinweis auf die Signifikanz dieser Rolle kommt zu spät, als dass man sie in die Interpretation eingliedern könnte. Oft folgt man einem Argument, das in der Schlußfolgerung auf einmal verschwimmt. Das fällt besonders bei politischen Erwägungen auf. So steht am Ende, als Zusammenfassung, die befremdliche Behauptung, der Vernichtungskrieg sei die Grundlage des heutigen Wohlstands der Deutschen und Österreicher. “Denn die allseitige Vernichtung bereinigte die große Krise, beseitigte den durchs Kapital nicht verwertbaren Überschuß an Arbeitskräften und Produktionskapazitäten; und ohne das totale Feindbild der ,Weltverschwörung des Judentums’… wäre dieser Krieg nicht zum lsquo;totalen Krieg’ geworden”. Das klingt ganz, als hätte die Vernichtung der europäischen Juden einen Sinn gehabt, was aber sicherlich vom Autor nicht so gemeint ist. Eine grü ndlichere Darstellung seiner Voraussetzungen hätte solchen Fehlschlüssen vorbeugen können.
Und doch entwertet diese Einschränkung nicht die scharfen Analysen sowohl der dargestellten Werke wie deren Hintergründe. Hier ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung einer Vergangenheit geliefert worden, die leider gar nicht die jüngste ist, sondern eine 2000jährige Geschichte hat.
Das Buch ist mit reichlichen Anmerkungen versehen, hat aber bedauerlicherweise kein Register.
aus: Zwischenwelt. Literatur – Widerstand – Exil (Wien) 17. Jg., Nr. 2, Juli 2000