Manfred Steglich – Sohn-Rethels Texte aus der „Höhle des Löwen“
Manfred Steglich
Sohn-Rethels Texte aus der „Höhle des Löwen“
Der kleine Freiburger ça ira Verlag hat sich dankenswerterweise der sicherlich nicht ganz einfachen und schon gar nicht lukrativen Aufgabe angenommen, Alfred Sohn-Rethels Schriften in einer – von Carl Freytag und Oliver Schlaudt vorzüglich edierten – Werkausgabe herauszugeben. Nach dem 2012 erschienenen ersten Band, der die frühen Schriften Sohn-Rethels dokumentiert, so u.a. seine Dissertation „Von der Analytik des Wirtschaftens“, folgt nun zum Jahresbeginn 2016 der zweite Band.[1] Dieser enthält schwerpunktmäßig die von Sohn-Rethel für den Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT) erarbeiteten Analysen, die vor allem im Deutschen Volkswirt und den sogenannten Deutschen Führerbriefen[2] veröffentlicht wurden sowie seine nicht-öffentlichen Aufzeichnungen und Kommentare. Ergänzt wird das Buch durch Publikationen aus der Nachkriegszeit, die sich der Wirtschaftspolitik im Nazifaschismus widmen und einer beigelegten DVD mit dem Film „Zwischen den Kriegen“ des 2014 verstorbenen Autors und Filmemachers Harun Farocki.
Nach einem durch eine Lungenkrankheit erzwungenen zweijährigen Kuraufaufenthalt in Davos waren Sohn-Rethels Bemühungen um eine akademische Karriere Ende der 20er Jahre ins Stocken geraten. So scheiterte zunächst sein Vorhaben, sich bei Emil Lederer zu habilitieren, bei dem er bereits 1928 in Heidelberg über die Grenznutzentheorie Joseph Schumpeters promoviert hatte. Und auch seine Hoffnung, irgendwie am Frankfurter Institut für Sozialforschung unterzukommen, blieb letztlich unerfüllt. Schließlich vermittelte ihm 1931 sein Pflegevater, der Düsseldorfer Stahlindustrielle und Großunternehmer Ernst Poensgen, eine wissenschaftliche Hilfskraftstelle im Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT), einem informellen Interessenverband der wirtschaftlich führenden Unternehmen, Banken und Verbände in Deutschland. In seinem kleinen Büro am Berliner Landwehrkanal erhielt der marxistische „Agent“ Sohn-Rethel so die einmalige Chance, die Strategien und Arbeitsweisen des Großkapitals nicht nur aus der Binnensicht kennenzulernen, sondern auch mit dem entsprechenden Handwerkszeug des Marxisten zu analysieren und für die linke Opposition der Weimarer Republik fruchtbar zu machen. Freilich sollte Alfred Sohn-Rethel erst vierzig Jahre später die Gelegenheit erhalten, seine damaligen Aufzeichnungen unter dem Titel „Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus“[3] zu publizieren. Sie stehen in der Fassung der revidierten und erweiterten Ausgabe von 1992 unter dem Titel „Industrie und Nationalsozialismus“ im Zentrum des vorliegenden zweiten Bands der Werkausgabe.
Wie Carl Freytag in seinem überaus fakten- und kenntnisreichen Vorwort ausführt, war für Sohn-Rethels Arbeit in der „Höhle des Löwen“ (Stephan Berkholz) eine gehörige Portion Mut und Camouflage notwendig. So musste Sohn-Rethel in seinen Beiträgen in den Deutschen Führerbriefen und im Deutschen Volkswirt „naturgemäß die jeweils geltenden Sprachregelungen einhalten, seinen eigenen marxistischen Standpunkt verbergen und den Vorgaben der MWT-Politik folgen, deren oberstes Ziel die Stärkung des Privatkapitals und die Förderung seiner Stellung im geregelten Kapitalismus war.“ Mit anderen Worten: Die Taktik bestand darin, die Pläne und Gedanken der herrschenden Klasse in der Sprache des Kapitals, aber mit dem Instrumentarium des kritischen Marxisten offenzulegen. Wie Sohn-Rethel dies gelang und wie er seine Doppelexistenz zu nutzen wusste, um der Linken entsprechende marxistische Analysen aus dem Strategiezentrum des Kapitals zu vermitteln, zeigt exemplarisch sein im Band dokumentierter, zweiteiliger Artikel über „Die soziale Rekonsolidierung des deutschen Kapitalismus“ in den Deutschen Führerbriefen. Darin entwickelt er – vom vermeintlichen Standpunkt des Kapitals aus – eine glasklare, marxistische Klassenanalyse des aufkommenden NS-Regimes. Wenn Sohn-Rethel etwa die Spaltung der Arbeiterklasse als „notwendige Vorbedingung“ des deutschen Nazifaschismus analysiert, lässt sich daraus ebenso die Notwendigkeit des Aufbaus einer Volksfront gegen den NS-Faschismus und die hohe Bedeutung der Geschlossenheit der Arbeiterbewegung herauslesen. „Die notwendige Bedingung jeder sozialen Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft, die in Deutschland seit dem Kriege möglich ist, ist die Spaltung der Arbeiterschaft. Jede geschlossene, von unten hervorwachsende Arbeiterbewegung müsste revolutionär sein, und gegen sie wäre diese Herrschaft dauernd nicht zu halten, auch nicht mit den Mitteln der militärischen Gewalt.“ (ASR, S. 61)
Sohn-Rethel zufolge unterscheiden sich nun auf der gemeinsamen Basis dieser notwendigen Voraussetzung die verschiedenen Systeme der bürgerlichen Konsolidierung nach den Bedingungen, die hinzukommen müssen, um den Staat und das Bürgertum bis in breite Schichten der gespaltenen Arbeiterklasse hinein zu verankern. Für die Konsolidierungsphase zwischen 1924 und 1930 benennt er vor allem die von der Arbeiterbewegung und den Gewerkschaften erkämpften lohn- und sozialpolitischen Errungenschaften. Diese wurden von der deutschen Sozialdemokratie dazu genutzt, den „revolutionären Ansturm“ der Arbeiterklasse in einer Art Schleusenmechanismus zu kanalisieren und damit die Spaltung des beschäftigten und fest organisierten Teils der Arbeiterkasse einerseits und des zunehmend verarmenden und erwerbslosen Teils andererseits noch zu vertiefen.
Dabei verlaufe die politische Grenze zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus fast genau auf der sozialen und wirtschaftlichen Linie dieses Schleusendamms. „Da zudem aber die sozialdemokratische Ummünzung der Revolution in Sozialpolitik zusammenfiel mit der Verlegung des Kampfes aus den Betrieben und von der Strasse in das Parlament, die Ministerien und die Kanzleien, d.h. mit der Verwandlung des Kampfes »von unten« in die Sicherung »von oben«, waren fortan Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie, mithin aber auch der gesamte von ihnen geführte Teil der Arbeiterschaft mit Haut und Haaren an den bürgerlichen Staat und ihre Machtbeteiligung an ihm gekettet, und zwar solange, als erstens auch nur noch das Geringste von jenen Errungenschaften auf diesem Wege zu verteidigen übrig bleibt und als zweitens die Arbeiterschaft ihrer Führung folgt.“ (ASR, S. 61)
Aus dieser grundlegenden Analyse ergeben sich für Sohn-Rethel vier wichtige Schlussfolgerungen:
„1. Die Politik des »kleineren Übels« ist nicht eine Taktik, sie ist die politische Substanz der Sozialdemokratie. 2. Die Bindung der Gewerkschaftsbürokratie an den staatlichen Weg »von oben« ist zwingender als ihre Bindung … an die Sozialdemokratie und gilt gegenüber jedem bürgerlichen Staat, der sie einbeziehen will. 3. Die Bindung der Gewerkschaftsbürokratie an die Sozialdemokratie steht und fällt politisch mit dem Parlamentarismus. 4. Die Möglichkeit einer liberalen Sozialverfassung des Monopolkapitalismus ist bedingt durch das Vorhandensein eines automatischen Spaltungsmechanismus der Arbeiterschaft.“ (ASR, S. 61 f)
Nach der Lektüre des Rekonsolidierungsartikels wird nachvollziehbar, dass Sohn-Rethels anonym verfasster Text rasch die Runde machte und bereits kurze Zeit später von Willi Münzenberg im Roten Aufbau veröffentlicht und entsprechend kommentiert wurde und warum die im Beitrag entwickelten Erkenntnisse wesentlich in die theoretischen Diskussionen und Strategiepapiere der KPD zu den Reichstagswahlen am 6. November 1932 eingeflossen sind. Wie sehr sich Sohn-Rethel und seine junge Familie indes mit solch subversiven, doppelbödigen Artikeln in Gefahr brachte, war ihm zwar bewusst, nahm er aber bis zu seiner Emigration 1936 offensichtlich billigend in Kauf: „Die Chance, als unerkannter Marxist in eines der inneren Aktionszentren des Finanzkapitals zu gelangen, an einen zentralen Punkt des Umschlags von ökonomischen Interessen und politischen Entscheidungen, und noch dazu an einem solchen Knotenpunkt der Entwicklung, ergibt sich nur äußerst selten und kann dann sehr wertvoll sein, sowohl theoretisch wie praktisch. Ich hätte daher die Position, in der ich mich damals befand, wegen der ungewöhnlichen Möglichkeit des Einblicks, den sie bot, niemals verlassen.“ (ASR) Tatsächlich wurde Sohn-Rethel dann allerdings aus ganz anderen Gründen als Mitarbeiter des MWT untragbar. Aus Sicherheitsgründen formell bei seiner Mutter in der Neckarstraße in Berlin gemeldet, wohnte er in dieser Zeit aber in der berüchtigten „roten Künstlerkolonie“ am ehemaligen Laubenheimer Platz, einer Siedlung, in der vorwiegend der KPD und SPD nahestehende Intellektuelle und Künstler lebten.[4] Bei einer Großrazzia im März 1933 wurde auch Sohn-Rethel festgenommen und nur aufgrund seiner Tätigkeit als Mitarbeiter des MWT nach einigen Tagen wieder aus der Haft entlassen. Damit war sein offizielles Angestelltenverhältnis beim Mitteleuropäischen Wirtschaftstag erledigt, er blieb aber weiterhin dessen freier Mitarbeiter und fand wenig später „eine weniger exponierte Anstellung beim Deutschen Orient Verein, einem „Ableger“ des MWT. Ausschlaggebend für seine 1936 erfolgte Emigration in die Schweiz, später nach Frankreich und England, war Sohn-Rethel zufolge letztlich „die drohende Verhaftung durch die Gestapo“.
Gemeinsam mit Sohn-Rethels 1992 bei Wagenbach veröffentlichten Buch „Industrie und Nationalsozialismus. Aufzeichnungen aus dem Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“[5] bietet der vorliegende Band der Werkausgabe einen hervorragenden Einblick in die Verstrickung der deutschen Wirtschaft und ihrer führenden Charaktermasken in die Verbrechen des Nazifaschismus.
[1] Alfred Sohn-Rethel: Die deutsche Wirtschaftspolitik im Übergang zum Nazifaschismus. Analysen 1932-1948 und ergänzende Texte. Herausgegeben von Carl Freytag und Oliver Schlaudt. Mit Beiträgen von Harun Farocki und Madeleine Bernstorff sowie dem Film Zwischen zwei Kriegen von Harun Farocki, Freiburg 2016, ça ira Verlag
[2] Dabei handelt es sich um einen informellen, zweimal wöchentlich verschickten Informationsdienst für die obersten Entscheidungsträger in der Großindustrie, der Politik und des Militärs. Um die naheliegende politische Assoziation mit Adolf Hitler zu vermeiden, wurden die Deutschen Führerbriefe von den Herausgebern Meynen und Reuter 1933 in Deutsche Briefe umbenannt. „Zu ihrer Leserschaft gehörten außer den ‚Herren von der Wirtschaft‘ die oberen Reichswehrspitzen, Kabinettsmitglieder, führende Großagrarier, die Umgebung Hindenburgs etc. Die Führerbriefe waren also keine Pressekorrespondenz, und Journalisten waren vom Empfang ausgeschlossen.“ A. Sohn-Rethel, in: Kursbuch, Nr. 21, 1970
[3] Alfred Sohn-Rethel: Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus. Frankfurt a.M. 1973, Suhrkamp
[4] Carl Freytag zufolge waren Ernst Bloch und Alfred Kantorowicz Nachbarn, Erich Weinert lebte im selben Haus. Dessen Tochter Marianne und Sohn-Rethels Tochter Birgit waren gemeinsam bei den „Thälmann-Pionieren“.
[5] Alfred Sohn-Rethel: Industrie und Nationalsozialismus. Aufzeichnungen aus dem »Mitteleuropäischen Wirtschaftstag«. Herausgegeben und eingeleitet von Carl Freytag, Berlin 1992, Wagenbach