Karin Jasbar – Rezension zu: Klaus Thörner, “Der ganze Südosten ist unser Hinterland”
Karin Jasbar
Rezension zu Klaus Thörner, “Der ganze Südosten ist unser Hinterland”
Durch die jetzt von der EU eingeleitete und von Ulm mitinitiierte Donaustrategie erhofft man sich, mehr Kontakte zu den Donauanrainerstaaten aufbauen zu können. Für kulturell, politisch und wirtschaftlich Engagierte kann es dabei hilfreich sein zusätzlich zur donauschwäbischen Auswanderungs- und Vertreibungsgeschichte, die in Publikationen und Ausstellungen der Stadt Ulm und des Donauschwäbischen Zentralmuseums breit erforscht und dargestellt ist - noch mehr über die oft problematischen Beziehungen zwischen Deutschland und den Donauländern zu wissen um mit einem historisch geschärften Bewußtsein und (nicht naiv) an diesem zunehmenden Austausch teilzunehmen.
Eine umfangreiche Darstellung dieser historischen Beziehungen findet sich im Buch von Klaus Thörner, das aus seiner politikwissenschaftlichen Dissertation hervor gegangen ist. Thörner arbeitet derzeit als Sozialarbeiter und ist zudem publizistisch tätig. Von ihm gibt es z.B. Publikationen zur nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in Slowenien und zum Kosovokrieg und er ist Koautor des Buches “Goldhagen und die deutsche Linke”. Außerdem engagiert er sich für die Deutsch-Israelische Gesellschaft und war tätig für die Geschichtswerkstatt Oldenburg zum Thema Zwangsarbeit.
Der Titel “Der ganze Südosten ist unser Hinterland” geht auf ein Zitat des Ökonomen und Vorkämpfers des deutschen Zollvereins, Friedrich List, zurück. Mit Lists Überlegungen aus den 1840er Jahren beginnt auch das Buch. List empfahl, die Kontakte der (damals noch nicht geeinten) deutschen Staaten zu Südosteuropa (das teilweise noch unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches stand) zu intensivieren und das Potential dieser Gebiete zu nutzen. Thörner zeigt dann von Lists Gedanken ausgehend Kontinuitäten deutscher Südosteuropakonzepte von den Abgeordneten der Paulskirche über das Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik bis zur Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, wobei er hauptsächlich “langfristige Planungskonzepte und ideologische Legitimationsschriften” und ihre Umsetzung durch die Politik analysierte.
Geografisch konzentrieren sich die Untersuchungen vor allem auf Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien, weil “die Darstellung dem Vordringen des deutschen Einflusses entlang der Verkehrsadern Donau und Bagdadbahn folgt”. Ungarn, Albanien, Griechenland und die Türkei sind nur dort erwähnt, wo ein Zusammenhang mit den Vorgängen in den drei vorwiegend behandelten Gebieten besteht. Folgende Hauptlinien deutscher Politik in Südosteuropa werden deutlich:
- Diese Gebiete wurden als “Hinterland” oder “Ergänzungsraum” betrachtet, dessen landwirtschaftliche Erzeugnisse und Rohstoffe (z.B. Erdöl und Erze) möglichst günstig in deutsche Hände kommen sollten. Die Entwicklung eigener Industrien in diesen Gebieten sollte weitgehend verhindert werden, damit dort deutsche Industrieprodukte abgesetzt werden können und der Rohstoffnachschub nicht nachläßt. Auf diese Weise wollte sich das Deutsche Reich schon seit Bismarcks Zeiten ein kontinentales Einflußgebiet schaffen, da es in der Konkurrenz mit England und Frankreich in Übersee kein entsprechendes Kolonialreich erwerben konnte. Außerdem wurden Anlagemöglichkeiten für zunächst preußisches und später für deutsches Kapital gesucht (z.B. im Bergbau und im Eisenbahnbau, dessen Linienführung deutschen und nicht einheimischen Interessen folgte)
- In der politischen Publizistik wurde hinsichtlich des zu schaffenden Einflußbereichs zunehmend von “Mitteleuropa” gesprochen (am bekanntesten ist eine Schrift von Friedrich Naumann), ein Gebiet zwischen Nordsee und Schwarzem Meer oder sogar bis zum Persischen Golf unter der Führung Deutschlands. Dabei war immer wieder von einem indirekten Vorgehen, von einer “pénétration” pacifique (friedlichem Vordringen) die Rede, von “äußerlicher Gleichberechtigung unter tatsächlicher deutscher Führung” (Zitat Reichskanzler Bethmann-Hollweg). Deshalb wurden viele Vorgänge in Geheimverträgen eingeleitet, anfangs um vor allem Rußland zu täuschen, dessen Machtausweitung auf dem Balkan verhindert werden sollte, und später (nach dem Ersten Weltkrieg) um die jungen Staaten nicht zu mißtrauisch zu machen und ihre Bündnisbestrebungen untereinander und mit anderen neu gegründeten Staaten (z. B. der Tschechoslowakei) nicht zu beschleunigen.
- Schon in Schriften des 19. Jahrhunderts und in den Reden in der Paulskirche waren überhebliche und rassistische Ansichten gegenüber den slawischen Völkern weit verbreitet, nicht nur bei den Bürgerlichen, sondern auch bei den Linken, z.B. bei Marx, Engels, Lassalle; die wirtschaftlichen und politischen Expansionspläne wurden als zivilisatorische Aufgabe verbrämt, z. B. von List.
- Große Wirtschaftsverbände, wie der Mitteleuropäische Wirtschaftstag (Carl Duisberg) und nach einigem Zögern der Alldeutsche Verband (Hugenberg, Carl Peters) setzten sich in der Politik für die oben genannten Ziele ein, ab Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich auch Wissenschaftler des neuen Fachbereichs Geopolitik und nach dem Ersten Weltkrieg, als die “Mitteleuropa”-Hoffnungen erst einmal untergegangen waren, die Wissenschaftler der dann gegründeten Südosteuropa- oder “Mitteleuropa”-Institute. Und nicht zu vergessen die seit dieser Zeit vermehrt gegründeten Deutschtumsvereine und -Zeitschriften (zum “Schutz” und zur Förderung der Auslandsdeutschen).
Ab 1933 wurde diese Politik ohne Brüche weiter geführt. Mangels Hilfe von England und Frankreich waren die durch die Weltwirtschaftskrise stark geschwächten südosteuropäischen Staaten trotz miserabler Konditionen zu zahlreichen bilateralen Wirtschaftsverträgen mit Hitlers Regierung bereit. Vor allem wegen ausbleibender deutscher Leistungen bei den Clearing-Verträgen hatte laut Thörner das Deutsche Reich bereits 1936 ein Fünftel seiner Schulden gegenüber Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien, Griechenland und Ungarn. So wurden diese Länder bereits zu diesem Zeitpunkt zu unfreiwilligen Kreditgebern der deutschen Kriegswirtschaft. Mehr und mehr wurden deutsche Firmen und Wissenschafter in die Lage versetzt, in den südosteuropäischen Ländern selbstständig zu agieren und die Wirtschaft auf deutsche Bedürfnisse umzustellen (z.B. die Subsistenzwirtschaft auf Sojaproduktion und Textilrohstoffe). Ab 1940 setzte in den dann mit Deutschland verbündeten Ländern Rumänien und Bulgarien und im militärisch unterworfenen Jugoslawien eine regelrechte wirtschaftliche Ausplünderung ein, publizistisch vorbereitet und begleitet von einer Unmenge von Abhandlungen.
Da der Autor zu jeder Aussage zahlreiche Beispiele und Belege bringt, die er in Originalquellen und in Sekundärliteratur bis zurück in die 1850er Jahre gefunden hat, kann einem bei der Lektüre der detailreichen Darstellung manchmal die Luft ausgehen. Da er aber sehr flüssig und verständlich schreibt und die vielen Einzelheiten wichtig sind um die oft unglaublichen Erkenntnisse zu belegen, ist das Buch auch sehr spannend zu lesen und ich kann es Buch nur empfehlen – trotz mancher schwer verdaulicher und belastender Fakten. Denn Nichtwissen macht die Geschichte nicht ungeschehen. In den Erzählungen und tieferen Bewußtseinsschichten der Familien werden Resterinnerungen von diesen Ereignissen und die damit verbundenen Empfindungen weiter gegeben. Wenn wir Menschen aus anderen Völkern begegnen, sind sie im Hintergrund vorhanden, ob wir sie kennen oder nicht.
Aus: DZOK-Mitteilungen, Heft 57/2012 (November 2012)
Hrsg. vom Dokumentantionszentrum Oberer Kuhberg Ulm e.V. (KZ Gedenkstätte)
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