Schiffbruch beim Spagat
Wirres aus Geist und Gesellschaft 1
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Geschöpft wird hier allein aus dem Vorrat der Wissenschaften, die herkömmlich solche des Geistes oder der Gesellschaft und inzwischen lieber Kulturwissenschaften heißen. Zu Recht: denn die vor vierzig Jahren verkündete Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften ist vollbracht. Was aber nicht bedeutet, daß die von ihm Verlassenen endlich Ruhe gäben.
Beschreibung
»Unerschöpflich der Vorrat des Dummdeutschen, der sich in wissenschaftlichen oder parawissenschaftlichen Publikationen findet«, warnte Eckhard Henscheid in einem bereits 1985 erschienenen und in späteren Auflagen stetig erweiterten Wörterbuch, das dem vorliegenden von ferne Modell steht. Geschöpft wird hier allein aus dem Vorrat der Wissenschaften, die herkömmlich solche des Geistes oder der Gesellschaft und inzwischen lieber Kulturwissenschaften heißen. Zu Recht: denn die vor vierzig Jahren verkündete Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften ist vollbracht. Was aber nicht bedeutet, daß die von ihm Verlassenen endlich Ruhe gäben.
Wo der gewöhnliche Mensch eine Frage stellt, geht der studierte mindestens in Fragestellung. Er allein kennt das Geheimnis, wie man eine Stellung formuliert. Hochkomplexe und noch viel kompliziertere, ja auch sturzbanale Gedanken kann er in wundersame Wortfolgen verwandeln und also Stränge mitsamt deren Verflechtungen in einem Gefüge beleuchten, Diskurse vielschichtig verzahnen und Dimensionen in voller Breite ausloten. Ein solcher Spagat, bei dem jeder Satz Schiffbruch erleidet, ist möglich erst in einer Sprache, in der nur deshalb nichts mehr undenkbar scheint, weil in ihr schon gar nichts mehr gedacht wird. Das Verhältnis von Gedanke und Ausdruck, einmal von dem Anspruch befreit, daß da ein irgend durchsichtiges, mit Vernunft zu begreifendes oder immerhin zu bestimmendes Verhältnis überhaupt besteht, ist nur mehr schlechte Konvention. Aussichtslos, den undurchdringlich harten Sprachschrott, der sich in den sogenannten weichen Fächern aufgehäuft hat, je wieder wegzuräumen. Wieviel Sisyphusarbeit inkl. Tantalusqualen einem da bevorsteht, mag dieses provisorische Wörterbuch erst erahnen lassen.
Stichwörter
Adressieren – Akteure – Aktivismus – Aktualität – Andocken – Angelpunkt – Anknüpfungspunkt – Anliegen – Ansatz – Anschlußfähig – Auch und vor allem – Auf – Aufbrechen – Aufmachen – Aufzeigen – Ausformulieren – Ausleuchten – Ausloten – Beinhalten – Bekanntlich – Beleuchten – Besetzen – Bezugspunkt – Blick – Brennglas – Dank – Denkfigur – Desiderat – Dialog – Diametral – Dimensionen – Diskurs – Dispositiv – Diversitätsbewußtsein – Durchdeklinieren – Dynamiken – Ein Stück weit – Einbetten – Einbringen – Einschreiben – Einsteigen – Englisch – Entgegengesetzt – Epistem – Erfolgreich – Erhärten – Erkenntnisgewinn – Es gilt – Eurozentrisch – Exzellenz – Facettenreich – Feedback – Finalisieren – Fokus – Folie – Fortschreibung – Fragestellung – Fragezeichen – Freilich – Fruchtbar machen – Gefüge – Gendern – Generieren – Hegemonial – Herangehensweise – Herausarbeiten – Heteronormativität – Hinterfragen – Horizont – Ich – Implementieren – Impuls – In etwa – Input – In Vergessenheit geraten – Knackpunkt – Kommunizieren – Konstellation – Konstruktion – Kontextualisierung – Konträr – Konzept – Koordinaten – Kritisch sehen – Latenz – Lesart – Logiken – Machen – Man – Marginalisierung – Matrix – Mehrwert – Metaebene – Mit – Mittelbauer – Modul – Muster – Narrativ – Neo-, Post- – Nescismus – Normativ – Paradoxie – Performativ – Personenregister – Perspektive – Phobie – Plattform – Position – Potential – Praktiken – Praxen – Privilegiert – Problematiken – Problematisch – Problembewußtsein – Produktiv – Projekt – Prüfstand – Prüfstein – Rätin – Rekonstruktion – Revisited – Reziprozität – Quantenphysik – Schiene – Schnittstelle – Schwerpunkt – Sichtweise – Soziologie – Sozusagen – Spagat – Spannend – Spannungsfeld – Spielart – Sprachrohr – Standards – Stellenwert – Stoßrichtung – Strang – Strömung – Strukturen – Studierende – Symbolisches Kapital – These – Topoi – Tragfähig – Trotz oder gerade wegen – Turn – Umsetzen – Unterlaufen – Verflechtungen – Verhaftet – Verkürzte Kritik – Verorten – Vertiefen – Verzahnen – Vielleicht – Vorzeichen – Weichenstellung – Weiß – Wir – Wissenschaft – Workshop – Zeitfenster – Zeitnah – Zuschreibung – Zwischen
Leseprobe
Beinhalten In Eckhard Henscheids Roman »Die Mätresse des Bischofs« ist einmal von einer »Beinhaltung« die Rede. Es bedarf schon äußerster Konzentration beim Lesen, um gleich zu verstehen, daß da tatsächlich die Haltung der Beine gemeint ist, beim Radfahren nämlich. In einem anderen Buch heißt es: »Dokumente können der Gewinnung von Anforderungen dienen, aufgrund ihrer Beinhaltung von wichtigen Informationen«, auf deutsch: weil sie wichtige Informationen enthalten. Fortschritt aber kann eben auch bedeuten, daß ein schon reichlich behäbiges Verb, das man sich einst aus einem Substantiv zurechtbuchstabiert hat, nun seinerseits eine Etage höher wieder verhauptwortet wird. Aus dem Enthalten, das noch von Enthaltsamkeit kündet, wurde das scheinbar bedeutungsschwerere Beïnhalten, aus dem Inhalt endlich die Beïnhaltung.
Heteronormativität »Wer gewohnt ist, mit den Ohren zu denken, der muß am Klang des Wortes Kulturkritik sich ärgern nicht darum bloß, weil es, wie das Automobil, aus Latein und Griechisch zusammengestückt ist.« Doch ist die Kulturkritik, an deren Klang Adorno sich ärgerte, noch lange nicht das Abwegigste, was je aus Latein und Griechisch zusammengestückt wurde. Hören Sie mal her: »Das diskursiv konstruierte Geschlecht wird an die Heteronormativität angekoppelt«, und das macht gewiß noch weniger Freude als irgend Sinn. Doch seien Sie versichert: »In den queeren interdisziplinären Ansätzen wurde die diskurstheoretische Richtung anschließend an die Heteronormativitätskritik fruchtbar weitergeführt.« Fruchtbarkeit ist ja gottlob nicht an den sexuellen Verkehr von Frau und Mann angekoppelt, sondern kann in →Ansätzen auch vegetativ, jedenfalls →diskursiv →konstruiert und immer weitergeführt werden.
Projekt »Ich weiß schon – Was dahinter steckt – / Und was denn weiter? – Ein Projekt«, murmelt es in der Kaiserlichen Pfalz im zweiten Teil des Faust. Den Goethe →bekanntlich frühestens in den 1980er Jahren schrieb. Tatsächlich: »Wir sind nicht mehr Subjekte einer gegebenen objektiven Welt, sondern Projekte von alternativen Welten«, glaubte damals Vilém Flusser. Um etwa dieselbe Zeit erfand Jürgen Habermas das (natürlich unvollendete) Projekt Moderne. Ob auch Theologen Gottes Schöpfung nun als dessen Projekt betrachten? Den evangelischen zumindest trauen wir’s zu.
Ein unbedingt →spannendes Projekt nennt man heute jede wissenschaftliche Arbeit und jedes Forschungsvorhaben. Darum bestehen die Institute aus immer mehr Projektstellen, auf denen man nicht nur jahrelang herumtreten kann, sondern die man sich auch stets aufs neue selbst erschaffen muß. Einen Projektemacher schimpfte man einst einen Rodomonteur, der einem das Blaue vom Himmel versprach und, wofern er einen nicht gleich betrog, jedenfalls nichts Rechtes zuwege brachte. Daran hat sich bis heute fast nichts geändert, lediglich die Beurteilung. Der unbeständige Hansdampf und Tausendsassa ist nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen willkommen, ein fadenscheiniges Selbstbewußtsein allemal billiger als eine gesetzliche Sozialversicherung. Was vor nicht allzu langer Zeit selbst Werbeagenturen noch als maßlose Windbeutelei vorgekommen wäre, beschämt heute so gut wie niemanden mehr, ganz bestimmt keinen Wissenschaftler, der vor allen anderen Dingen zusehen muß, daß er mit einem neuen Projekt irgendwo →andocken kann.
Ein ausnahmsweise wirklich spannendes Projekt wäre, den ganzen Laden mal für zehn Jahre sozialverträglich dichtzumachen und zu sehen, ob die Welt sich dann immer noch oder vielleicht sogar andersherum dreht. Man stelle sich vor, wieviel Leute dann nicht mehr gezwungen wären, schlechte Bücher (oder Projektanträge) zu schreiben, und also endlich Zeit hätten, ein paar gute zu lesen.
Rezensionen
- Magnus Klaue: Verzahnen wir einmal die Stränge (FAZ, 14. Januar 2022)
- Stefan Gärtner: Buch des Monats (konkret, 2/2022)
- Oliver Schott: Das tägliche Gewäsch (Jungle World 06/2022)
- Georg Kamphausen: Schiffbruch beim Spagat, oder: Warum Humorlosigkeit das Denken ruiniert (soziopolis.de, 12. Januar 2022)
Weitere Titel
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Freiheit und Trieb
An den Grenzen der Psychoanalyse
März 2019, 224 Seiten, ISBN: 978-3-86259-150-32. durchgesehene und ergänzte Auflage von 202122,00 €Freuds Psychoanalyse erscheint immer schon veraltet und ist zugleich hellsichtiger denn je. Das Kapital verwandelt die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse in unpersönliche,…