NS-Deutschland und die Ermordung der Juden Europas

NS-Deutschland und die Ermordung der Juden Europas

Rainer Bakonyi

Sofort nach ihrer Konsolidierung begann die konservativ-nationalsozialistische Regierungskoalition mit der Umsetzung ihres antisemitischen Programms. Am 1. April 1933 führten die Verbände der NSDAP, unterstützt durch weitere rechte paramilitärische Verbände und vor allem den Staatsorganen, den sogenannten Boykottag [ 1 ] durch. Die gewalttätigen Aktionen, bei denen Fensterscheiben beschmiert, Kanzleischilder beschädigt, die Zugänge zu Firmen und Praxen versperrt und regelrechte Treibjagden auf Juden abgehalten wurden, richteten sich hauptsächlich gegen jüdische Geschäftsinhaber, aber auch gegen jüdische Professoren, Lehrer, Studenten, Schüler, Rechtsanwälte und Ärzte. Das mit diesen Straßenaktionen anvisierte Ziel der völligen sozialen Ausgrenzung verfolgte denn auch das unmittelbar anschließend erlassene “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” vom 7. April [ 2 ]. Es führte zum Ausschluß der jüdischen Beamten aus dem Staatsdienst und lieferte zudem die erste juristische Definition dessen, wer in Zukunft als Jude oder Jüdin zu gelten habe. Das am 21. April folgende Verbot der rituellen Schlachtung bedrohte direkt die Existenz eines gläubigen jüdischen Lebens in Deutschland. In kurzer Folge erfolgten dann Erlasse und Gesetze, die die Juden aus den Sportvereinen, den Schwimmbädern, den Berufsverbänden und den zivilen Arbeitsplätzen der Reichswehr ausschlossen, den Zugang zu den Oberschulen und Hochschulen begrenzten und sämtliche seit dem ersten Weltkrieg erfolgten Einbürgerungen zurücknahmen. Bereits diese Auswahl aus den Sofortmaßnahmen der nationalsozialistischen Regierung zeigt die integrale Stellung des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Politik und spiegelt dessen ständige Präsenz als nationales Programm wider – waren sie doch zu einer Zeit erfolgt, in der Staat und NS-Bewegung mit der blutigen Zerschlagung der politischen Opposition vollauf beschäftigt zu sein schienen. Nach der endgültigen Etablierung des nationalsozialistischen Staats mit den “Gleichschaltungen” erfolgte eine Phase der Vereinheitlichung und Radikalisierung der staatlichen antijüdischen Maßnahmen. Die Gesetze, die am 15. September 1935 auf dem Parteitag in Nürnberg [ 3 ] erlassen wurden, entzogen den auf Grund ihrer “Rasse” zu Juden Definierten die Staatsbürgerschaft, verboten Eheschließungen mit “arischen” Deutschen und stellten sexuelle Beziehungen zwischen “jüdischen” und “arischen” Menschen unter Strafe. Nach einer Phase der gesteigerten antisemitischen Hetze in der Presse und öffentlichen gewalttätigen Angriffen traf die “legale” Ausgrenzung in der sich formierenden Volksgemeinschaft auf allgemeine Zustimmung. [ 4 ] Die Gesetze, welche die rassische Definition der Juden ohne die 1933 noch zugestandenen Ausnahmen festschrieben und ihre Ausgrenzung aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einheitlich regelten, bildeten das Kernstück der administrativen Vorbereitung des Genozids. Ihre Popularität zeigt deutlich die Verankerung des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung. Das Ergebnis der Rassegesetze war die gesellschaftlich wirksame Trennung der “jüdischen” von der “arischen” Bevölkerung, die Verfestigung der Rechtlosigkeit und – durch die weitreichenden Arbeits- und Verdienstverbote – der allgemeine Entzug der Lebensgrundlagen der als jüdisch definierten Menschen. Zahlreiche Menschen jüdischen Glaubens oder zugeschriebener “jüdischer Rasse” erkannten, daß ein Weiterleben in Deutschland unmöglich werden würde und betrieben ihre Auswanderung. Allerdings boten selbst die Nürnberger Gesetze noch die Fiktion einer Rechtsförmigkeit der Ausgrenzungsmaßnahmen und so manche setzten doch noch Hoffnungen auf diese scheinbare Möglichkeit wenigstens des Überlebens in Deutschland.

Die jüdische Gemeinschaft reagierte auf die Bedrohung mit der schon in der Weimarer Zeit angestrebten, aber in Ansätzen steckengebliebenen Etablierung einer Reichsvertretung der deutschen Juden. [ 5 ] Die Einigung war mühsam, weit auseinander lagen die verschiedenen Positionen zwischen Zionismus und extremer Assimilation, zwischen den Schattierungen der Orthodoxie und denen des Liberalismus, sowie zwischen der Metropole Berlin und (vor allem) den süddeutschen Gemeinden. Neben dem organisatorischen Näherrücken entstand auch ein stärkeres Bewußtsein der Gemeinsamkeit. Der Ausschluß aus dem Alltagsleben der Volksgemeinschaft wurde durch eine Intensivierung religiöser, politischer und kultureller Tätigkeiten beantwortet. Zwar wurde der Anspruch, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein, so lange wie möglich auch öffentlich aufrechterhalten, doch blieb angesichts der gesellschaftlich durchgängigen Ausgrenzung nur mehr die Rückbesinnung auf die jüdische Gemeinschaft. Mit schwindender Hoffnung auf einen baldigen Zusammenbruch des Regimes konzentrierten sich die Anstrengungen der jüdischen Organisationen immer mehr auf konkrete Hilfestellung bei den sich auftürmenden Problemen. Sie boten Unterstützungsleistungen für die aller Einkünfte beraubten Entlassenen, leisteten Hilfen für neue Ausbildungen, die auch bei einer Emigration hilfreich sein könnten, organisierten die Eingliederung der aus den kleinen Orten in die großen Gemeindezentren – vor allem natürlich Berlin – Flüchtenden, betrieben aber auch die Ausweitung kultureller Aktivitäten. Die bedrängte Lage spiegelte sich auch in der veränderten Haltung der Verbände zur Emigration sowie zur Siedlungsbewegung in Palästina. Die Unterstützung einer vorbereiteten und organisierten Auswanderung sollte von nun an einen immer bedeutender werdenden Bereich der Verbandsarbeit bilden. Für die kleiner werdende und zunehmend ausgeplünderte jüdische Gemeinschaft in Deutschland wurden die Grenzen stetig enger gezogen; hatten zunächst wirtschaftliche und außenpolitische Überlegungen die NS-Führung bei der Durchführung offensichtlich gewalttätiger und illegaler staatlicher Maßnahmen gebremst, so war nach den weitgehend erfolgten “Arisierungen” und der mit der erfolgreichen Übernahme Österreichs erwiesenen außenpolitischen Stärke und militärischen Potenz die Hemmschwelle deutlich gesunken. Die in den letzten Oktobertagen 1938 gewaltsam durchgeführten Massenausweisungen polnischstämmiger Juden bildete den Auftakt zum reichsweiten Pogrom vom 9. und 10. November 1938. [ 6 ] Hiermit erfolgte der entscheidende Schlag gegen die deutsche jüdische Gemeinschaft. Die gewalttätigen Ausschreitungen mit materiellen Schäden in mehrfacher Millionenhöhe, Tausenden von Verletzten und Hunderten Ermordeter und in den Selbstmord Getriebener markieren das definitive Ende des Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft als deutsches Judentum. Der Pogrom kennzeichnet einen Einschnitt in der staatlichen Verfolgung; ließ die bisherige Strategie der Ausgrenzung und Vertreibung noch den Schein staatlich-rechtlichen Handelns bestehen, so wurde nun die Bedingungslosigkeit des nationalsozialistischen Antisemitismus und die radikal gewalttätige staatliche Praxis offenbar. Die alte antisemitische Parole von der “Vernichtung des Judentums” meinte nun ganz offen nicht mehr “bloß” die Beseitigung des “geistigen Judentums” im Sinne jüdischer kultureller und gesellschaftlicher Existenz, sondern verwies auf die Möglichkeit des Massenmords. Die Beteiligung zahlreicher Deutscher [ 7 ], die nicht in den Parteiverbänden organisiert waren, und das Fehlen jedes Widerstands oder auch lediglich echter Anteilnahme [ 8 ], bei lebhaftem Widerspruch gegen die Zerstörungen von Wertgegens tänden, verdeutlicht die weitgehend erreichte Homogenisierung der Volksgemeinschaft. Der Test für die Unterstützung gewalttätiger und mörderischer Methoden durch die Deutschen war bestanden, doch die Effizienz derartiger, nur ungenau zu lenkender Massenaktionen war der NS-Führung zu gering. Den weiteren “Kampf gegen das Judentum” gedachten sie planmäßiger und unter direkter Einbeziehung des staatlichen Apparats zu führen. 2.600 jüdische Männer wurden für Wochen und Monate in Konzentrationslager gesperrt und wurden nach schweren Mißhandlungen erst gegen die Zusage der Ausreise aus Deutschland sowie der Bezahlung einer “Sühneleistung” von einer Milliarde Mark wieder entlassen. Gleichzeitig wurden die nun völlig verarmten noch in Deutschland verbliebenen “nicht arischen” Menschen vollständig erfaßt und in ein Zwangsarbeitssystem, den sogenannten “geschlossenen Arbeitseinsatz” [ 9 ] gepreßt. Alle erwachsenen Frauen und Männer wurden in bewachten und von den “arischen” Arbeitern abgeschirmten Gruppen zu schwerer und entwürdigender Arbeit gezwungen. Sie wurden mit ihren Angehörigen in eingezäunten Baracken und sogenannten Judenhäusern zusammengepfercht und waren sozial völlig isoliert. Alle Einrichtungen der jüdischen Gemeinden wurden direkt von der Gestapo kontrolliert, sie waren seitdem auch für alle Belange der nicht konfessionellen, von den Rassegesetzen aber als “Rassejuden” gebrandmarkten Menschen zuständig. Diese Zwangsgemeinschaft aus Menschen unterschiedlicher Konfessionen, die nur die Verfolgung zusammen gebracht hatte, wurde in der Folge gezwungen, selbst die Verwaltung ihrer Aussonderung zu übernehmen. [ 10 ] Die Jüdinnen und Juden waren nun vollkommen rechtlos, sie konnten keine Institution des Staates mehr nutzen, waren aus Kranken- und Rentenversicherungen gedrängt worden und selbst ihrer geringsten persönlichen Habe beraubt. Die Pfennigbeträge, die als “Entlohnung” für die Zwangsarbeit von privaten Betrieben und staatlichen Stellen bezahlt wurden, gelangten auf die Konten der jüdischen Verbände. Diese wurden gezwungen, mit diesem Geld in erster Linie die Verwaltungskosten für die Organisation des Vertreibungs- und Vernichtungsapparats zu tragen. Lediglich mit dem verbliebenen Rest konnten Nahrungsmittel, Kleider und Brennstoff für die Zwangsarbeiter und deren Angehörige beschafft werden. Die in Deutschland noch lebenden Juden waren nach dem Pogrom völlig isoliert und verelendet. [ 11 ]

Mit der Eroberung Polens begannen die Deportationen. [ 12 ] In Güterwaggons gepfercht, wurden die Verzweifelten ins ehemalige Polen und, ab 1941, in die besetzte Sowjetunion transportiert. Dort starben sie an Hunger und Seuchen oder wurden Opfer der Massenerschießungen. Im Herbst des Jahres 1941 wurden die Vergasungseinrichtungen der “Aktion T4” – Tarnname für die organisierten Morde an den Insassen der Psychiatrien und Pflegeheime [ 13 ] – in die Todeslager im besetzten Polen verlegt. Die Maschinerie der industrialisierten Vernichtung lief ab 1942 auf Hochtouren, täglich rollten die Züge aus dem gesamten besetzten Europa nach Auschwitz, Treblinka, Sobibor und Belzec.

Nach 1943 überlebten in Deutschland, beständig von Entdeckung und Deportationen bedroht, nur noch die Untergetauchten [ 14 ], die wenigen von den NS Behörden noch benötigten jüdischen Funktionäre [ 15 ], sogenannte “Mischlinge” und die in “privilegierter Mischehe” [ 16 ] Lebenden.

Die Stationen des Massenmords [ 17 ], den die Deutschen an den Juden Europas begingen, werden im folgenden in Aufzeichnungen aus der Hand der Opfer dargestellt. Mit diesen Schilderungen, teils Zeitdokumente, die in Verstecken überdauerten, teils spätere Niederschriften von Überlebenden, soll die Sicht der jüdischen Opfer in das Zentrum der Betrachtung gestellt werden.

Wyszkow, 9. September 1939 [ 18 ]

Am Montag durchsuchten die Deutschen das ganze Haus und entdeckten mich. Sie schmissen mich auf den Boden wie einen Sack und traten mit den schweren Stiefeln nach mir. Ich schrie nicht, ich stöhnte nicht einmal, ich brachte keinen Ton heraus. Sie zerrten mich auf die Straße, wo fünfhundert andere Juden standen, die sie im Versteck gefunden hatten. Ein paar Leute faßten mich unter. Die Deutschen führten uns aufs Feld und ließen uns mehrere Stunden stehen. Man hielt mich untergefaßt, weil sie drohten, wer sich hinsetzt, der wird erschossen. Plötzlich fuhr ein Auto mit einem Maschinengewehr vor, und die Menschen fielen um wie umgemäht. Ich stürzte mit den anderen. Ich wußte nicht, bin ich tot oder lebendig. Es war schon ganz dunkel, als ich einen Tritt in der Seite spürte. Ich dachte vor Schreck, daß die Toten auferstehen. Nach dem zweiten Tritt wandte ich den Kopf und erblickte Herrn Stanski. Er half mir hoch und schleifte mich in den Wald. Er sagte, sofort als die Schüsse ertönten, habe er sich fallen lassen und sich totgestellt. Er habe geprüft, ob noch jemand am Leben sei, aber außer mir habe sich niemand bewegt.

Die Mauern wurden enger [ 19 ]

Das Haus Lezno 15 wurde am frühen Morgen umstellt und abgeriegelt. In unserer Wohnung im fünften Stock hörten wir den Tumult der in den Hof strömenden Truppen, einen ohrenbetäubenden Pfiff und dann den lauten deutschen Ruf: “Alle Juden raus, schnell, schnell, alle Juden herunter!”, in polnisch wiederholt. Darauf folgten trappelnde Geräusche im Treppenhaus, hinunter ins Verderben. Dann Schreie, Brüllen, Pfiffe, Klagen im Hof. Schließlich fielen zwei Schüsse. Es war entsetzlich.

Wir blieben in der Wohnung, wartend, lauschend. Wir hatten schon vor langer Zeit beschlossen, nicht zu gehorchen, nicht auf Befehl hinunterzugehen. Sofort erschossen zu werden schien uns weit besser als ein langes, langsames Sterben unter Schmerzen und Demütigungen. Folgten wir der Aufforderung, hatten wir keinerlei Möglichkeit davonzukommen; folgten wir ihr nicht, hatten wir wenigstens eine geringe Überlebensaussicht. Also saßen wir still und lauschten.

Dienstag, 1. September [ 20 ]

Der erste Tag des (nunmehr vierten) Kriegsjahres brachte uns schon am Morgen die entsetzliche Nachricht, daß die Deutschen sämtliche Spitäler im Ghetto räumen. Am frühen Morgen war die ganze Gegend um die Spitäler umstellt, und ausnahmslos alle Kranken wurden auf Lastwagen geladen und aus dem Ghetto geschafft. Da man aus den Berichten der Zugesiedelten aus der Provinz inzwischen weiß, wie die Deutschen derartige Aussiedler “abfertigen”, entstand in der Stadt eine Riesenpanik. Beim Verladen der Kranken spielten sich erschütternde Szenen ab. Die Menschen wissen, daß sie in den Tod gehen! Sie setzten sich sogar zur Wehr gegen die Deutschen und man mußte sie mit Gewalt auf die Wagen laden.

10.7.44 [jiddisch] [ 21 ]

Ich habe keine Kraft mehr, keine Geduld, keine Nerven. Das, was ich habe, ist ein unbeschreiblicher Ekel gegenüber der Welt und den Menschen, der Masse und der Menschheit, gegenüber Doktrinen und Dogmen – ich glaube an nichts auf der Welt. Nein. Wer so tief sinken kann wie der heutige Mensch kann nichts anderes sein als ein mißlungenes Experiment der Natur, worüber sie gewiß Bedauern empfindet.

Abtransport nach Auschwitz [ 22 ]

Ich weiß heute nicht mehr, was mich bewogen hat, ihr zu erzählen, daß ich Cello spielte. Unter den vorherrschenden Bedingungen schien dies Stück Information nicht gerade von welterschütternder Bedeutung zu sein. Die Re aktion war um so erstaunlicher, da sie so vollkommen unerwartet kam. Sie sagte: “Das ist ja phantastisch! Stell dich abseits, bleib dort stehen und warte!” Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, tat aber, was sie mir sagte, stellte mich abseits von allen anderen und wartete: Splitternackt, mit rasiertem Kopf und einer Zahnbürste in der Hand. (Damals wußte ich noch nicht, was für ein großes Privileg schon allein diese Zahnbürste war.)

Ich wartete also und wartete … ohne Vorstellung, worauf ich eigentlich wartete. Inzwischen war der Block leer geworden, und ich war allein. Ich sah mich um und bemerkte, daß an der Decke Duschen angebracht waren. Es sah genau so aus, wie ich mir die Gaskammern vorgestellt hatte. Was ich nicht wußte, war, daß ich mich in der “Sauna” befand. So nannte man damals diesen Block. Es war der “Entlausungs- und Badeblock”.

Ich war vollkommen verwirrt und dachte, daß nun der Moment gekommen sei, auf den ich mich in so vielen qualvollen Nächten im Gefängnis vorzubereiten versucht hatte. Man hatte zu Anfang nur eine ganz vage Vorstellung, wie eine Gaskammer funktioniert. Später haben wir einiges dazu gelernt.

Als Resistance Angehörige in Auschwitz [ 23 ]

Nach wenigen Tagen sangen fast alle Französinnen, wenn wir stundenlang zwischen den Blöcken herumlungerten. Wie könnt ihr nur singen und sogar noch fröhliche Lieder, habt ihr keine Angst, fragten uns die Polinnen und Ungarinnen, während die Holländerinnen mitzusingen versuchten. Als wir einige Male sogar einen Kreis bildeten und Ringelreihen tanzten, fingen sie an zu weinen. “Das kann nicht gut gehen, die Deutschen werden euch und uns bestrafen. Die Kapos haben schon auf die frechen und leichtsinnigen Französinnen geschimpft.” Die Lagerleitung begriff sehr rasch, daß uns die musikalischen Manifestationen Kraft und Mut verliehen. Wer so sang, wehrte sich gegen die völlige Versklavung. Als wir etwa vierzehn Tage in Birkenau waren, kam der Befehl der Lagerleitung, der uns von den Blockältesten hämisch übermittelt wurde: Es dürften im Lager nur noch deutsche Lieder gesungen werden – strengstes Verbot, in einer anderen Sprache zu singen.

Sabotage [ 24 ]

Eines Tages erreichte uns die Nachricht, es sei eine Besichtigung des Kraftwerks bei einem Probelauf der Turbine Vier geplant. Ich leitete die Information an Fred Salomon weiter, einem Bochumer Häftling aus dem Elektrikerkommando, den ich aus der Lehrwerkstatt in Dortmund kannte. Er versicherte mir: “Geht in Ordnung, ich weiß Bescheid. Verlaß dich nur auf mich.”

An dem Tag, als die Besichtigung stattfand, konnten wir oben auf den Trägern des Stahlgerüsts unauffällig beobachten, was unten vorging. Die hohen Herren erschienen wie angekündigt beim Kraftwerk, und große Reden wurden geschwungen, bevor einer der Techniker zu dem großen Schaltkasten ging, an dem ein Hebel nach unten gerissen wurde, um die Turbine zu starten. Statt zu demonstrieren, wie viel Kilowatt-Stunden sie auf vollen Touren liefern konnte, gab es in dem Moment, als der Hebel den Kontakt berührte einen lauten Knall. Wir konnten eine große Stichflamme und Qualm sehen, der Geruch von verbrannten Kabeln stieg uns in unsere Nasen – Fred Salomon hatte für Kabelsalat gesorgt.

Lili Marleen [ 25 ]

Unterdessen wurden die vordersten Reihen unseres Kommandos durch das Tor gewinkt. Wir rückten vor, und bald konnte ich den deutschen Arzt sehen, wie er im Eingang stand, neben einigen Offizieren und mit Herna, der Slowakin, die ihm als Sekretärin diente und angeblich seine Geliebte war. Er hielt Notizblock und Bleistift in der Hand und beobachtete die Frauen, die vor ihm entlangdefilierten. Bisweilen rief er eine zurück, wenn sie ihm entkräftet erschien. Herna las die eintätowierte Nummer vom linken Arm ab und schrieb sie auf ein Blatt. Eine Reihe um die andere ging voran, die Ausgesonderten verschwanden in einer Gruppe, die allmählich anwuchs. Die Selektionierten würden noch diese Nacht die lange Reise antreten, deren Ende Madame Louise nicht hatte erkennen können.

Rabbi Elieser [ 26 ]

Als wir später vor dem Block zum Abmarsch auf dem Appellplatz bereitstanden, kam der Blockälteste mit einer Liste in der Hand und sagte: “Ich werde einige Häftlingsnummern vorlesen. Jeder, der aufgerufen wird, meldet sich mit ‘hier’. Diejenigen, die genannt werden, rücken nicht zur Arbeit aus, die gehen vom Appellplatz mit mir zum Block zurück. Daß mir nur ja keiner fehlt, verstanden?” Dann verlas er etwa zwanzig Nummern. Die von Rabbi Elieser war dabei.

Nach dem Appell formierten der Blockälteste und der Stubendienst diejenigen, die zum Block zurück gehen mußten. Da sah ich, wie der Schames zum Rabbi ging und ihn mit Gewalt aus der Gruppe ziehen wollte. Ich hörte, wie der Rabbi zu ihm sagte: “Nein, das geht nicht, ich bin schon sehr schwach, ich halte es sowieso nicht mehr lange aus, und will mit gutem Gewissen zum lieben Gott gehen.”

Ich begriff, daß der Schames seinen Rabbiner vor der Gaskammer retten und sich selbst opfern wollte. Aber die Augen des Rabbi waren nicht traurig, sie schienen voller Hoffnung. Wir wollten uns vor dem Abmarsch von ihm verabschieden, aber der Blockälteste jagte uns mit Tritten zurück. Wir mußten uns bei unserem Kommando aufstellen. Der Schames weinte … und wir sprachen lange kein Wort.

Abends erfuhren wir vom Stubendienst, daß die Kleidung der Vergasten mit dem gleichen Lastwagen in die Desinfektionsstation zurück gebracht worden war. “Der Stand der Kleider muß stimmen, nur die Vergasten werden von der Liste gestrichen – Ordnung muß sein!”

Sonderkommando [ 27 ]

Die Erfindung und die Aufstellung der Sonderkommandos ist das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen. Hinter dem pragmatischen Gesichtspunkt (arbeitsfähige Männer einsparen; anderen die schauerlichsten Aufgaben aufzwingen) kommen noch weitere subtilere Gründe zum Vorschein. Mit Hilfe dieser Einrichtungen wurde der Versuch unternommen, das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich auf die Opfer selbst, abzuwälzen, so daß diesen – zur eigenen Erleichterung – nicht einmal das Bewußtsein ihrer Unschuld bleiben würde. Es ist weder leicht, noch angenehm, diesen Abgrund von Niedertracht auszuloten, aber dennoch bin ich der Meinung, daß man es tun muß; denn was gestern verübt werden konnte, könnte morgen noch einmal versucht werden und uns selbst oder unsere Kinder betreffen. Man ist versucht, den Blick abzuwenden und die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, aber dieser Versuchung müssen wir widerstehen. Denn die Existenz des Sonderkommandos hatte eine Bedeutung, sie enthielt eine Botschaft: “Wir, das Herrenvolk sind eure Vernichter, aber ihr seid nicht besser als wir. Wenn wir es wollen, und wir wollen es, sind wir nicht nur in der Lage, eure Körper zu vernichten, sondern auch eure Seelen, so wie wir unsere eigenen Seelen vernichtet haben.”

Das Leben zählte nicht mehr, der Tod war zu nah [ 28 ]

Was geschieht mit einem Menschen, wenn er so viele Leichen sieht, ständig Tausende von Toten?

Was soll man machen?! Man konnte nichts machen. Dort waren wir jeden Tag. Einen Monat, zwei Monate, acht Monate habe ich das gesehen, ohne Unterbrechung. So starben Millionen von Juden. “Sklaven des Pharao”. Wir kannten die Sprache nicht, wir wußten nicht, wo wir waren, wußten nichts. Wir waren wie ein Wrack. Nehmen Sie ein Wrack, was kann das machen?

Immerzu sieht man nur den Tod – heute stirbt der oder jener, morgen, in der Frühe oder am Nachmittag bist du selbst an der Reihe. Unser gesamtes Denken ging nur auf den Tod. Außer an den Tod dachten wir an nichts anderes. Der Tod wurde etwas Alltägliches, das Warten auf den Tod wurde eine ganz normale Sache. So war das dort. Gab es denn in unserem Alltag etwas anderes?

Glaubten Sie nicht daran, lebend davon zu kommen?

Wir alle sagten uns, wir leben mitten im Tod, als hätten wir die Todesstrafe erhalten. Wir wußten nicht, wann man uns umbringen würde, wußten nichts. Es war schlichtweg verboten, daran zu denken, lebend entkommen zu können. Besser überhaupt nicht denken, nichts. Manchmal fragte ich mich: “Warum weiß man draußen in der Welt nicht, was hier vor sich geht?”

Wie setzten Sie sich damit auseinander?

Ich weiß nicht. Ich habe keine Erklärung. Ich aß, trank Kaffee, trank Tee, alles zwischen den Leichen. Tausende, viele Tausende Leichen. Dort, wo man die Leichen aus der Gaskammer herausholte, aß man auch, trank – mit den Leichen. Jetzt, wo ich daran denke, weiß ich wirklich nicht, wie ein Mensch unter diesen Bedingungen leben kann. Wie? Wie? Ich weiß es nicht. Wie? Leichen. Menschen heutzutage sehen im alltäglichen Leben einen Toten und sind völlig erschüttert. Hier sahen wir Tausende und Abertausende – kleine Kinder, Alte, Junge, schwangere Frauen. Wer war nicht dort?! Ein ganzes Volk.

Hielten Sie die religiösen Gebote in Birkenau?

Nein, ich konnte es nicht. Ich habe nichts gegen die Religion, aber dort, wo ich es gewünscht hätte, da habe ich keine Zeichen oder Wunder gesehen.

Gab es Fälle von Selbstmord unter den Sonderkommando-Häftlingen?

Wenn man nicht schuldig wurde, hatte man keinen Grund, sich selbst umzubringen, man wollte leben. Die Menschen wollten leben, selbst wenn sie überhaupt keine Chance hatten.

Das heißt, Sie haben ein reines Gewissen?

Ja.

Die Evakuierung [ 29 ]

Unser Zug [ 30 ] war noch nicht abgefahren, als wir Gewehrschüsse hörten und das jämmerliche Geschrei der Unglücklichen, die auf der Rampe standen. Alle wurden von der SS bestialisch ermordet.

Endlich fuhr der Zug von Gleiwitz ab, hielt dann aber ständig unterwegs an. Nach einigen Stunden in den Waggons öffneten SS-Leute die Türen und befahlen: “Aussteigen!” Wir befanden uns im Freien, in der Nähe eines Waldes, erst einige Kilometer von Gleiwitz entfernt. Die Bahnstrecke war von alliierten Fliegern zerstört worden, und unser Zug konnte nicht weiterfahren. Also mußten wir wieder zu fünfen antreten und weiter marschieren. Simon, Josef und ich hielten uns in einer Reihe. Dicht neben mir ging ein junger SS-Posten. Er war etwa zwanzig Jahre alt. Dauernd knurrte er uns an: “Wollt ihr wohl laufen, ihr faulen Hunde! Wartet nur ich werde euch laufen lehren!” Und er warf uns Blicke voll Wut und Abscheu zu.

Gierig sogen unsere Nasen den Duft des frischen Schnees ein, und unsere Augen erfaßten die Weite, die uns umgab. Der junge SS-Mann neben mir rief dem Posten vor ihm zu: “Guck mal, was ich dir für Hunde mitgebracht habe!” Der Posten vorne drehte sich um. Der junge SS-Mann zeigte auf seine Taschen, die voll Munition für sein Gewehr waren. Er zeigte darauf und sagte grinsend: “Wenn die Hunde nicht gehen wollen, weißt du dann …” Dabei machte er mit seinem Gewehr eine entsprechende Geste. “Zweihundert Patronen habe ich bei mir, vielleicht sind es zu wenig. Die Hunde sollen mich kennenlernen!”

Bergen-Belsen [ 31 ]

Nach dem schweren Weg von Bremen bis Bergen-Belsen und dieser Nacht waren wir verbittert und erschöpft. Ein sonderbarer, schwerer, unbekannter Geruch, der Brechreiz und Kopfschmerz verursachte lag in der Luft. Die Kameradin neben mir wollte etwas sagen. Ihr Gesicht war kreidebleich. Es sah so aus, als würde sie gleich ohnmächtig. “Was fehlt dir?” flüsterte ich. Ihre Augen sagten mir, daß ich nach hinten schauen sollte. Langsam drehte ich den Kopf. Instinktiv stellte ich mich auf einen schrecklichen Anblick ein.

Selbst mit viel Phantasie kann man kein so grauenvolles Bild heraufbeschwören, wie es sich mir bot. Im ersten Augenblick konnte ich gar nicht fassen, was hinter meinem Rücken geschah!

Ich sah bis auf die Knochen abgemagerte Männer, die nur noch entfernt an Menschen erinnerten. An ihren Skelettkörpern hingen schmutzige Fetzen. Sie gingen mit gesenktem Kopf hintereinander her. Mit ihren fetzenumwickelten Händen zogen sie irgend etwas mit sich. Als ich die rätselhaften Pakete genauer betrachtete, wurde mir noch elender: Es waren Menschen.

Sie lagen mit dem Rücken auf dem Boden, ihr Kopf bewegte sich hin und her, hüpfte auf und nieder, die ausgebreiteten Arme schaukelten. Lebende Skelette zogen Tote. Sie bewegten ihre stockdünnen Beine wie bei einem Totentanz, teilnahmslos und offensichtlich mit dem letzten Rest ihrer Kraft.

Die Befreiung [ 32 ]

Es war uns bewußt, daß ungewöhnliche Dinge vor sich gingen. Immer seltener sahen wir SS-Personal. Wir saßen da und warteten auf das Ende … verlassen und dem Schicksal ausgeliefert. Eigentlich hätten wir bei dem Gedanken, daß die Freiheit nahe zu sein schien, froh oder wenigstens optimistisch sein sollen. Wir waren es aber nicht. Ich erinnere mich daran, daß ich meistens wütend und böse war. Wir hatten so lange ausgehalten und soviel gelitten … und dann sollte man noch von den Deutschen in die Luft gesprengt werden. Wahrscheinlich hat uns die Abwesenheit der SS nur mißtrauischer gemacht. Wir waren überzeugt, daß das nichts Gutes versprach.

Jemand wagte zu sagen, daß das ständige dumpfe Geräusch in der Ferne und die Schießerei … vielleicht, aber wirklich nur vielleicht von englischen Panzern stammen könnten, die sich dem Lager näherten. Ich war wütend. Man hat so viele Jahre damit verbracht, sich mit dem Tod abzufinden, und gleichzeitig so verzweifelt versucht, am Leben zu bleiben … ich konnte nicht ertragen, mir falsche Hoffnungen zu machen. Sie konnten ja jeden Moment zunichte gemacht werden.

Als die Ansage durch den Lautsprecher kam und ich den ersten englischen Panzer mit eigenen Augen sah, weigerte ich mich immer noch, es zu glauben.

Anmerkungen

[ 1 ] Zum Verlauf: Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. München 2000, S. 31-38. Zur antijüdischen Wirtschaftspolitik des NS siehe: Avraham Barkai, Vom Boykott zur Entjudung”. Frankfurt/Main 1988. Ein Bericht aus der Sicht eines “Betroffenen”: C. David, Jahre die man nie vergißt. Essen 1991, S. 31-36.
[ 2 ] Eine Chronologie der antijüdischen Maßnahmen in: Wolfgang Benz (Hg.), Die Juden in Deutschland 1933 1945. München 1988 S. 739 – 754. Ein Überblick in: Peter Longerich, Politik der Vernichtung. München 1998, S. 25 – 45. Vgl. U.D. Adam, Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 1972, sowie J. Walk (Hg.), Das Sonderrecht der Juden im NS-Staat. Heidelberg/Karlsruhe 1981.
[ 3 ] Siehe den Artikel Nürnberger Gesetze in: I. Gutmann u.a. (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust. München u. Zürich o. J., S. 1055 f., vgl. auch: D. Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Berlin 1995, S. 61-66.
[ 4 ] Bankier, Die öffentliche Meinung …, a.a.O., S. 111.
[ 5 ] G. Plum, Die Reichsvertretung der deutschen Juden. In: Benz, Die Juden a.a.O., S. 49-65.
[ 6 ] Siehe: Artikel Reichskristallnacht. In: Enzyklopädie des Holocaust, a.a.O., S. 1205 – 1210, sowie die dort angeführte Literatur.
[ 7 ] Vgl.: Th. Michel, Die Juden in Gaukönigshofen/Unterfranken. Wiesbaden 1988, S. 503-529, der für die Beteiligung einer Vielzahl der chris tlichen Dörfler an Zerstörungen und Plünderungen auf umfangreiche Aussagen aus dem Kreis der Täter zurückgreifen konnte.
[ 8 ] Ebd. vor allem S. 520. Michel zeigt eindeutig, daß Widerspruch nur aufgrund der Vernichtung der Sachwerte erfolgte, tätiger Widerstand etwa gegen das Anzünden der Synagoge erfolgte lediglich wegen der Gefährdung des Eigentums und der Gesundheit der nichtjüdischen Dorfgemeinschaft.
[ 9 ] W. Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Berlin 1997.
[ 10 ] Zur Diskussion um die moralischen Implikationen dieser Situation am Beispiel Leo Baecks siehe: Avraham Barkai, Von Berlin nach Theresienstadt. In: Ders., Hoffnung und Untergang. Hamburg 1998, S. 141-166.
[ 11 ] Konrad Kwiet, Nach dem Pogrom: Stufen der Ausgrenzung. In: Benz, Die Juden, a.a.O., S.545-659.
[ 12 ] Für das Schicksal der deutschen Juden in den osteuropäischen Ghettos siehe die beiden Aufsätze Deutschsprachige Juden in osteuropäischen Ghettos sowie “Zwischen Ost und West” in Barkai, Hoffnung und Untergang, a.a.O.
[ 13 ] Für den Weg von der “Euthanasie” zur “Endlösung”: H. Friedlander, Der Weg zum NS Genozid. Berlin 1997.
[ 14 ] W. Benz, Überleben im Untergrund 1943-1945, in: ders. (Hg.), Die Juden a.a.O., S.660-700, autobiographisch: J. Schwersenz, Die versteckte Gruppe. Berlin 1988.
[ 15 ] Die Autobiographie des letzten Rabbiners, dem ab 1943 auf dem jüdischen Friedhof in Weißenburg amtierenden M. Riesenburger: Das Licht verlöschte nicht. Berlin (DDR) 1984.
[ 16 ] Dazu die Tagebucheintragungen von 1943-1945 in: V. Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Berlin 1995.
[ 17 ] Für den Stand der Forschung zur Shoah siehe C. R. Browning, Der Weg zur Endlösung”. Bonn 1998, sowie U. Herbert (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Frankfurt/Main 1998. Vgl. aber auch P. Longerich, Vernichtung (wie Fn.2), L. Davidovicz, Der Krieg gegen die Juden 1933-1945. München 1979 und D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Berlin 1996.
[ 18 ] H. Grynberg, Kinder Zions. Leipzig 1995, S. 28f.
[ 19 ] J. Baumann, Als Mädchen im Warschauer Ghetto. Ismaning bei München 1986, S. 109f. Janina Baumann schildert hier eine der vielen Razzien im Ghetto.
[ 20 ] Das Ghettotagebuch des Dawid Sierakwiak. Leipzig 1993. Der 1924 geborene Dawid Sierakwiak führte im Ghetto von Lodz bis zu seinem Tode im September 1943 ein Tagebuch, das direkt nach dem Krieg aufgefunden wurde. Zum Zeitpunkt der zitierten Eintragung lag seine Mutter mit einer schweren Erkrankung in einem Ghettokrankenhaus.
[ 21 ] H. Loewy und A. Bodek (Hg.), “Les Vrais Riches”. Notizen am Rand. Leipzig 1997. Das Zitat stammt von einem unbekannten jungen Mann, der im Ghetto Lodz interniert war. Das überlieferte Tagebuch wurde auf den Seiten eines französischen Romans aus dem 19. Jhd. in jiddischer, polnischer, englischer und hebräischer Sprache geführt.
[ 22 ] A. Lasker-Wallfisch, Ihr sollt die Wahrheit erben. Bonn 1997, S. 110. Anita Lasker-Wallfisch war beim Versuch aus Deutschland zu fliehen verhaftet und nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe nach Auschwitz deportiert worden, wo sie in die “Lagerkapelle” übernommen wurde.
[ 23 ] L. Segal, Vom Widerspruch zum Widerstand. Essen 1991, S. 204f. Die Berlinerin Lilli Segal war in Frankreich verhaftet worden; sie berichtet hier über die ersten Tage im Quarantäneblock im Juli 1944. Nach geglückter Flucht kehrte sie nach Berlin, Hauptstadt der DDR zurück, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann an der Humboldt Universität forschte. L. Segal, Vom Widerspruch zum Widerstand. Essen 1991 S. 204f.
[ 24 ] H. Frankenthal, Verweigerte Rückkehr. Frankfurt /M 1999, S. 74. Hans Frankenthal, der über diese im IG Farbenlager Monowitz erfolgte Sabotageaktion berichtet, ist bis zu seinem Tod im Winter 1999 für die Auflösung der noch immer existierenden IG Farben Abwicklungsgesellschaft eingetreten.
[ 25 ] L. Millu, Der Rauch über Birkenau. München 1997, S. 45f. Der geschilderten Selektion fiel Liana Millus Freundin Lili zum Opfer.
[ 26 ] Aus dem Bericht Tibor Wohls, der 1942 19jährig mit seiner aus Prag stammenden Familie nach Auschwitz deportiert wurde und als einziger überlebte. T. Wohl, Arbeit macht tot. Frankfurt/M. 1990, S. 149f.
[ 27 ] P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1993, S. 52f. “Sonderkommando” war die Bezeichnung für eine Häftlingsgruppe, die von den Deutschen bei der Vergasung und Verbrennung der Opfer direkt eingesetzt worden war. Ihre Aufgaben bestanden vor dem Morden in der Beruhigung der Opfer, während des Vergasens im Sortieren und Abtransport der zurück gelassenen Kleidung und (Wert)gegenständen, und danach dem Abtransport der eben erst Getöteten und dem anschließenden Verbrennen der Leichen. Die Mitglieder des Kommandos in Birkenau waren im Krematoriumsgebäude selbst untergebracht.
[ 28 ] G. Greif, “Wir weinten tränenlos…”. Frankfurt/M. 1999, S. 320f. Gideon Greif interviewt hier Shaul Chasan, aus Saloniki stammender Überlebender des Sonderkommandos.
[ 29 ] T. Wohl, wie Fußnote 26. S. 171f. Tibor Wohl gelang die Flucht während der als Todesmärsche bekannt gewordenen Räumung von Auschwitz. Viele derer, die diese “Transporte” überlebten, gelangten nach Bergen-Belsen.
[ 30 ] Nach einem dreitägigen Fußmarsch, während dem alle, die das hohe Tempo nicht mehr halten konnten, ermordet worden waren, wurden die Häftlinge in offene Bahnwaggons verladen.
[ 31 ] L. Kertesz, Von den Flammen verzehrt. Bremen 1999, S. 138f. Die Ungarin Lilly Kertesz war nach ihrer Deportation nach Auschwitz Birkenau zunächst in Bremen in einer Räumkolonne eingesetzt und wurde wenige Tage vor der Befreiung durch die britische Armee nach Bergen-Belsen verschleppt.
[ 32 ] A. Lasker-Wallfisch, wie Fußnote 22, S. 139f. Die britische Armee erreichte Bergen-Belsen am 15. April 1945.

aus: Arbeitskreis Antisemitismus (Hg.), Deutsche Normalität und Antisemitismus. Eine Einführung, Freiburg (ça-ira Verlag) 2001

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