Ulrich Enderwitz, Leseprobe aus ‘Der Konkurs der alten Welt’, 3. Band des 3. Buchs von ‘Reichtum und Religion"
Auszug aus Der Konkurs der alten Welt
Ulrich Enderwitz
Auf der ganzen Linie also der agrarischen und der handwerklichen Produktion, der zivilen und der kriegswirtschaftlichen Gütererzeugung, wirkt sich die Verwandlung der Römischen Republik in einen auf Kosten der Kolonien und versklavter Teile der kolonialen Bevölkerung funktionierenden Selbstbereicherungsautomaten in Händen der römischen Oberschicht, die mit der unternehmerischen Ausbeutung der Kolonien ihren Anfang nimmt und in der während der Formationszeit des 2. Jahrhunderts noch auf den italischen Raum beschränkten Latifundien- und Manufakturwirtschaft ihre Vollendung findet, verheerend auf die Lebensfähigkeit der traditionellen bäuerlichen und handwerklichen Betriebe Roms und auf die Beschäftigungslage derer aus, die als Eigentümer oder Angestellte dieser Betriebe das Gros des Mittelstands und der Plebs, sprich, das römische Volk im engeren Sinne, bilden. Innerhalb von anderthalb Jahrhunderten nach dem Wendepunkt des 2. Punischen Krieges, dem Punkt, an dem nach der Niederringung des wichtigsten Gegenspielers im Mittelmeerraum einerseits die große militärische Expansion der Republik und andererseits die Umstellung der römischen Ökonomie auf die Ausbeutung der Kolonien und eine mit Sklavenarbeit betriebene Latifundien- und Manufakturwirtschaft beginnt – binnen der anderthalb Jahrhunderte also, die der Republik verbleiben, ehe sie sich ins Kaiserreich hinüberrettet und dort ihr selbstgewirktes Ende findet, vollzieht sich dank der Dynamik der mit militärischen Mitteln hergestellten und aufrechterhaltenen kolonialistischen Ökonomie jene unaufhaltsame Entwicklung, in deren Konsequenz die mittleren und unteren Schichten der römischen Bürgerschaft aus kleinen Erzeugern und Gewerbetreibenden, die durch ihrer Hände Arbeit am Markt partizipieren und denen die imperiale Entwicklung der Republik ein Gemisch aus Beeinträchtigungen und Vorteilen, aus Druck und Anreiz, Konkurrenz und Nachfrage beschert, zu einer Masse arbeitsloser, um ihre ökonomische Basis und ihren sozialen Status gebrachter Deklassierter werden, die an den gesellschaftlichen Ressourcen, dem immer ausschließlicher durch Sklavenarbeit und Ausbeutung der Kolonien beschafften Reichtum, wenn überhaupt, dann nicht mehr kraft ihrer Hände Arbeit und einer aktiven Mitwirkung am Markt teilhaben, sondern nurmehr dank des Politikums ihres Bürgerstatus und der sich daraus ergebenenden Rolle, die sie als fraktionierte Parteigänger oder gesammelte Interessengruppe in den Machtkämpfen der Oberschicht spielen.
Wie unaufhaltsam und zumal unumkehrbar die in der ökonomischen Enteignung und sozialen Entwurzelung der Plebs resultierende Entwicklung hin zu einer ausschließlich auf Sklavenarbeit und kolonialistischer Ausbeutung basierenden Reichtumbeschaffung tatsächlich ist, zeigt der letzte ernsthafte Versuch, ihr Einhalt zu gebieten beziehungsweise sie in geordnete und von Staats wegen kontrollierbare Bahnen zu lenken, der mit dem Namen der Gracchen verknüpft ist. Tiberius Gracchus, der ältere der beiden Brüder, die als Führer der organisierten Plebs, als Volkstribunen, dem Rad der schicksalhaften Entwicklung der Republik in die Speichen greifen beziehungsweise seine Bahn lenken wollen, verfolgt dabei noch das doppelte Ziel, dem galoppierenden Ruin, in den die übermächtige Konkurrenz der großen Landgüter die Bauern und kleinen Grundbesitzer hineintreibt, Einhalt zu gebieten und die bereits von ihrem Grund und Boden vertriebenen und von Deklassierung bedrohten beziehungsweise ihr bereits verfallenen Gruppen auf neuen Höfen anzusiedeln und so als freie, ökonomisch weitgehend unabhängige Agrarbevölkerung wiederherzustellen. Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, greift er die auf privatisiertem Domanialland von der Oberschicht entfaltete und auf Sklavenarbeitsbasis betriebene Latifundienwirtschaft an, in der er die auslösende Ursache für die krisenhafte Zuspitzung der ökonomischen und sozialen Probleme der römischen Volksmasse erkennt. Er schränkt durch Volksbeschluß und tribunizisches Gesetz die Flächen an Staatsland, die ein Privatmann in seinem Besitz haben darf, ein, läßt die darüber hinausgehenden Landflächen, die von der Oberschicht okkupiert und genutzt werden, an den Staat zurückfallen und beruft eine Kommission zur Aufteilung dieser Flächen in kleine Höfe und zu deren Distribution an landlose römische Bauern. Ohne sich am Privateigentum zu vergreifen und also die auf ihren traditionellen Landgütern und Besitzungen basierende Machtposition der patrizischen Oberschicht anzutasten, sucht er durch eine Umverteilung jener neuen Ländereien aus Staatsbesitz, die als kritische Masse zum traditionellen Besitz der Oberschicht hinzukommen, teils die das politisch-ökonomische System der Republik destabilisierenden latifundienwirtschaftlichen Konsequenzen, die diese kritische Masse zeitigt, abzuwenden beziehungsweise rückgängig zu machen, teils die ökonomischen und sozialen Schäden zu reparieren, die ja nicht erst die latifundienwirtschaftliche Entwicklung, sondern bereits das von der Oberschicht auf Basis ihrer traditionellen Machtposition durchgesetzte System kolonialistischer Expansion und Ausbeutung im römischen Volk anrichtet. Zwar gelingt es Tiberius Gracchus, gegen den entschiedenen Widerstand seines Kollegen im Tribunenamt eine Kommission zur Einziehung und Aufteilung des okkupierten Domaniallandes einzusetzen, und die Kommission nimmt tatsächlich auch ihre Arbeit auf; aber da sich absehen läßt, daß diese Arbeit bei weitem nicht innerhalb der auf ein Jahr begrenzten Amtszeit eines Volkstribunen zu vollbringen ist und da er angesichts des erbitterten Widerstands der Träger und Nutznießer des Latifundiensystems, sprich, der das Staatsland als Privatbesitz vereinnahmenden und nutzenden Nobilität, für den Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Amt und des Verlusts der sakrosankten Stellung, die ihm letzteres verleiht, um sein Leben fürchten muß, sucht Tiberius bei der Volksversammlung eine Verlängerung seiner Amtszeit zu erwirken. Was ihn und seine Reform retten soll, wird ihm zum Verhängnis: Die Senatspartei legt öffentlichkeitswirksam sein Streben nach Verlängerung der Amtszeit als Griff nach der Alleinherrschaft aus und nutzt diese in der Römischen Republik schlimmste aller politischen Anschuldigungen, die Anschuldigung, er habe die Republik abschaffen und ein diktatorisches Regime errichten, sich gar zum König aufwerfen wollen, um ihn mit dreihundert seiner Gefolgsleute niederzumetzeln.
Die Initiative zur Einziehung und Neuverteilung von okkupiertem Staatsland, das Kernstück des durch Tiberius Gracchus unternommenen Versuchs, der galoppierenden ökonomischen Zersetzung und sozialen Erosion in der Republik entgegenzuwirken beziehungsweise beides nach Möglichkeit zu reparieren, ist damit praktisch gescheitert. Unter dem Vorwand, daß bei der Rücknahme von ehemaligem Domanialland nicht nur römische, sondern auch bundesgenossenschaftliche Privatinteressen berührt werden, daß es sich also dabei nicht nur um ein innenpolitisches, durch Gesetz lösbares Problem, sondern ebensosehr um eine außenpolitische, römische Staatsverträge tangierende Frage handelt, wird der anfangs noch weiterarbeitenden Aufteilungskommission die Zuständigkeit für die Feststellung der Einziehbarkeit von Land entzogen und der traditionell für dergleichen Fragen zuständigen zensorialen und konsularischen Verwaltung übertragen, was auf eine unbegrenzte Aussetzung und in der Tat endgültige Einstellung der Kommissionstätigkeit hinausläuft. Dennoch ist der mit dem Namen der Gracchen verknüpfte Reformversuch damit noch nicht am Ende. Ein Jahrzehnt später wird unter unverändert und vielmehr verschärft krisenhaften gesellschaftlichen Bedingungen der jüngere Bruder des ermordeten Tiberius, Gaius Gracchus, zum Volkstribun gewählt und nimmt durch eine Reihe von Gesetzen, die er erfolgreich in der Volksversammlung durchbringt, die früheren Reformbestre bungen in allerdings vielsagend veränderter Form wieder auf. Das wichtigste Reformstück und zugleich die markanteste Korrektur des früheren Reformkurses bildet dabei das Gesetz zur kostenlosen regelmäßigen staatlichen Versorgung der städtischen Plebs mit Getreide. An die Stelle des Versuchs, den entwurzelten Bauernstand wieder Boden gewinnen und Fuß fassen zu lassen, tritt der reduzierte Anspruch, den Entwurzelten in ihrer Rolle als städtische Plebs eine staatlich garantierte Versorgung und Subsistenz zu sichern. Die alte Absicht, die Entwurzelten neu anzusiedeln und mit Höfen auszustatten, wird zwar nicht ganz und gar aufgegeben, aber sie verwandelt sich aus einer breiten Motion vor Ort des italischen Raumes in eine auf ferne Gestade und koloniale Freiräume zielende paradigmatische Landnahmebewegung und legt so den Charakter eines allgemeinen sozialen Bereinigungsplanes ab, um sich mit der Ventilfunktion einer Drainage der schlimmsten sozialen Entzündungsherde zu bescheiden. Römische Kolonien auf dem Boden des einstigen Karthago oder des transalpinen Gallien ermöglichen es zwar vielleicht, die unruhigsten, weil sich mit ihrem sozialen Schicksal am schwersten tuenden Elemente der neuen massierten Plebs zu entfernen und so die gärende Gesamtmasse ruhiger zu stellen, aber ein Programm zur Beendigung des Gärprozesses oder gar zur Rückgängigmachung der eingetretenen sozialen Verwerfungen bilden sie nicht. Sein von Maßnahmen zur Einschränkung der gesetzgeberischen und richterlichen Kompentenzen des Senats flankiertes Reformwerk sucht Gaius Gracchus dadurch zu sichern, daß er mit Blick auf seine eigene Wiederwahl vom Gesetzgeber Volksversammlung die Schranke der einjährigen Amtszeit für Tribunen aufheben läßt. Gleichzeitig bemüht er sich, die soziale Basis, auf der er operiert, zu verbreitern, die Fraktion seiner Unterstützer zu vergößern, indem er die schon lange schwelende Frage der rechtlichen Stellung der Bundesgenossen aufgreift und deren Verwandlung in römische Vollbürger beziehungsweise Überführung in den privilegierten bundesgenossenschaftlichen Status fordert, den bislang ausschließlich die latinischen Gemeinschaften innehatten. Mit diesem Ansinnen aber weckt er die Eifersucht seiner eigenen Anhängerschaft, der römischen Plebs, die sich in ihrer Stellung als Hätschelkind der Reform bedroht sieht. Es genügt, daß ein von der Senatspartei gekaufter tribunizischer Kollege des Gaius den ganz realitätsfremden, rein demagogischen Antrag stellt, statt der Koloniegründungen an fernen Gestaden Gelegenheiten für Neuansiedlungen in der Nähe Roms, auf italischem Boden, zu schaffen, um die Plebs dazu zu bringen, ihrem Wohltäter und Vorkämpfer einen Denkzettel zu verpassen und ihm nämlich die Wiederwahl zu verweigern. Diese quasi symbolische Geste aber genügt bereits, das ganze, auf den tönernen Füßen des Volkswillens stehende Reformwerk zum Einsturz zu bringen: Als der seines Amtes entkleidete Tribun mit seiner Anhängerschaft sein Lieblingsprojekt, die karthagische Kolonie, auf der Volksversammlung durchzudrücken versucht, kommt es zu Kämpfen, in deren Verlauf er sein Leben verliert.
Die Unaufhaltsamkeit des sozialen Verfalls der traditionellen republikanischen Gesellschaft, ihrer Aufspaltung in eine auf Basis der kolonialen Ausbeutung und der Sklavenwirtschaft im Überfluß schwimmende Nobilität und eine um ihre ökonomische Basis gebrachte, besitzlose Plebs machen die Reformversuche der beiden Gracchen wünschenswert deutlich. Sie zeigen nämlich zuerst und vor allem, daß der als Opfer der Entwicklung firmierenden Plebs in actu dieses sie nunmehr definierenden Opferstatus das Vermögen verloren geht, mit persönlicher Verantwortlichkeit, moralischer Zurechnungsfähigkeit und politischer Resolution eine entscheidende Revision und grundlegende Veränderung der eingetretenen Situation zu wollen und zu betreiben. Tatsächlich dürfte die wesentliche Fehleinschätzung der Reformer, ihr ausschlaggebender Irrtum bei der politischen Lageburteilung eben darin zu sehen sein, daß sie jenen, denen sie aus ihrer ökonomischen Zwangs- und sozialen Notlage heraushelfen wollen, einen ungebrochenen Willen zur radikalen Sanierung ihrer Verhältnisse und Wiederherstellung in statu quo ante zuschreiben, daß sie ihnen mit anderen Worten die unzweideutige Absicht und Bereitschaft unterstellen, den neuen Status eines durch Entzug der ökonomischen Basis in Abhängigkeit existierenden sozialen Opfers gegen die alte Position eines auf Basis relativer ökonomischer Unabhängigkeit frei handelnden politischen Subjektes einzutauschen. Weit entfernt von solcher Bereitschaft zur nachdrücklichen Veränderung und radikalen Erneuerung, sind jene ökonomisch entwurzelten und sozial deklassierten plebejischen Gruppen vielmehr ebensosehr Geschöpfe wie Opfer der neuen Situation, finden sie sich durch den politisch-ökonomischen Prozeß jener neueingeführten, auf kolonialistischer Ausbeutung und Sklavenarbeit basierenden Reichtumbeschaffungsmethoden der Nobilität nicht weniger von Grund auf verändert als zugrunde gerichtet, nicht weniger in Bann geschlagen und transzendental definiert als aus dem Rennen geworfen und real demontiert. Der Grund für diese die Plebs ideologisch in Bann schlagende Faszination, die von dem sie praktisch in die Pfanne hauenden neuen Reichtumbeschaffungssystem ausstrahlt, diese mit dem Existenzverlust einhergehende Charakterkonversion, mit der ökonomischen Destruktion verknüpfte perspektivische Transformation, die das neue System der Plebs beschert, ist eben darin zu suchen, daß letzeres eine höchst effektive Bereicherungsveranstaltung darstellt, bei der die ökonomische Not und das soziale Elend, worein sich die unteren und mittleren Schichten gestürzt sehen, als bloße Kehr- und Schattenseite der strahlenden Fülle und des überwältigenden Überflusses erscheinen, womit sich die Oberschicht überhäuft findet. Statt nichts weiter als ökonomischen Ruin und sozialen Verfall zu bewirken, treibt das von der Nobilität etablierte System diesen Ruin und Verfall vielmehr als bloße, wie man will, Folge- oder Randerscheinung des ungeheuren Stromes von Gütern und Dienstleistungen hervor, den koloniale Ausbeutung und Sklavenarbeit entfesseln und der Nobilität zuwenden. Angesichts der pleromatischen Fülle, die so das neue System zeitigt und den durch es benachteiligten plebejischen Gruppen provokativ, und nämlich ebenso unerreichbar wie dicht, vor Augen stellt, wird es diesen Gruppen schwer und in der Tat unmöglich, den gravierenden Mangel, das tendenzielle Nichts, worein sie sich durch die systematische Entwicklung versetzt sehen, als vernichtenden Einwand, als resultative Negativität gegen das System geltend zu machen, und drängt sich ihnen vielmehr unwiderstehlich die Möglichkeit auf, diesen gravierenden Mangel, dies resultierende Nichts als fait accompli der systematischen Entwicklung hinzunehmen, um dann von dieser einverständigen Position aus eine Beteiligung an der in systematischer Korrespondenz zu dem Mangel, der sie ereilt hat, entstandenen pleromatischen Fülle, mit anderen Worten, ihre Sanierung durch das als die systematische Wahrheit des Nichts, das sie bedrängt, erscheinende überschwängliche Sein ins Auge zu fassen. Nicht aggressives Aufbegehren gegen das von der Nobilität etablierte politisch-ökonomische System, um das ihnen von letzterem zugeteilte Los der Pauperisierung und Verelendung abzuschütteln und sich im vorsystematischen Zustande einer halbwegs autarken Subsistenz und autonomen Bürgerlichkeit wiederherzustellen, lautet demnach die Devise der ökonomisch entwurzelten und sozial deklassierten plebejischen Gruppen, sondern Identifikation mit dem Aggressor, um dem durch seine Aggression ihnen bereiteten Schicksal zu entrinnen und es in Partizipation an dem ihr, der Nobilität, kraft ihres aggressiven Procedere zuteil gewordenen materiellen Segen zu verkehren. Eben weil die aus dem Zusammenbruch der traditionellen römischen Wirtschaft hervorgegangene plebejische Konkursmasse ökonomisch entwurzelt und sozial deklassiert ist, vermag sie sich gegenüber d er aus kolonialer Ausbeutung und Sklavenarbeit kombinierten Großunternehmung, die jenen Zusammenbruch herbeiführt, auch nicht mit einem den neuen systematischen Kontext stracks negierenden eigenen wirtschaftspolitischen Standpunkt und in einem der anderen strategischen Ordnung diametral zuwiderlaufenden alten gesellschaftspolitischen Status zu behaupten – beides ist ihr ja nach Maßgabe des totalen Erfolgs des Großunternehmens und seiner demgemäß transzendentalen Verbindlichkeit gründlich und in der Tat unwiderruflich verlorengegangen. Was ihr statt dessen nurmehr bleibt, ist der Versuch, in dem zu ihren Lasten erfolgreichen Großunternehmen selbst und auf dessen gedeihlichem Boden wenn schon nicht wieder ökonomisch Wurzeln zu schlagen, so immerhin aber subsistentiell Fuß zu fassen, und wenn schon nicht erneut eine funktionale Stellung zu finden, so jedenfalls doch einen sozialen Standort zu erringen.
Die Frage ist nur, wie sie das anfangen soll. Wie und kraft welchen Vermögens soll sie, die vom unaufhaltsamen Zug der imperialistischen Wirtschaft der eigenen Führungsschicht überrollte und in Staub geworfene Plebs, es bewerkstelligen, auf diesen Zug aufzuspringen und an seiner Siegesfahrt teilzunehmen? Welche brauchbare Handhabe hat sie, die schiffbrüchige Besatzung des vom Staatsschiff überfahrenen und auf den Grund des Meeres geschickten bescheidenen Nachens der mittleren und unteren Schichten, den Aggressor zum Einlenken, das Staatschiff zum Beidrehen zu veranlassen und zur Hilfeleistung, zur Rettungsaktion zu bewegen? Was für einen Anspruch auf Wiederherstellung oder Schadloshaltung kann sie mit Fug und Recht erheben? Welches Recht kann sie gegen die Gewalt der ökonomischen Verhältnisse geltend machen? Ökonomisch entwurzelt und sozial deklassiert, scheinen die Angehörigen dieser menschlichen Konkursmasse alle konkreten Ansprüche und Rechte, die sich aus ökonomischer Fundierung und sozialer Einbindung ergeben, eingebüßt zu haben. Geblieben scheint ihnen nichts als ihre abstrakte, ökonomisch ebenso ungestützte wie sozial ungesicherte politische Existenz als Bürger des Gemeinwesens. Gegen die konkrete Gewalt der ökonomischen Verhältnisse und sozialen Verwerfungen geltend machen können sie demnach nur das Recht, das ihnen diese ihre abstrakte politische Existenz, ihre Zugehörigkeit zur römischen Gemeinschaft, ihr Einschluß in den Gesellschaftsvertrag der römischen Republik verleiht, kurz, geltend machen können sie nichts als ihr römisches Bürgerrecht. Es markiert oder stipuliert die eigentlich oder als schierer Formalismus politische Ebene, die Ebene jener per Abstraktion für sich genommenen Polis oder besser civitas, in der alle Beteiligten, die Angehörigen der zur Nobilität erweiterten patrizischen Führungsschicht ebenso wie die der durch Deklassierung expandierenden plebejischen Unterschicht, kraft Bürgerstatus als wenn schon mitnichten im Effekt gleichrangige, so jedenfalls doch im Prinzip gleichberechtigte Mitglieder versammelt sind – gleichberechtigt in der Bedeutung eben dieses gemeinsamen Bürgerrechts, das sich in tautologischer Engführung als wechselseitig garantiertes Recht auf Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, sprich, als Recht darstellt, Bürger des Gemeinwesens zu sein und zu bleiben.
Dabei ist das selbstbezüglich Abstrakte, um nicht zu sagen Tautologische, jenes Rechts nicht Konsequenz seiner Inhaltslosigkeit und Leere, sondern Ausdruck der Tatsache, daß der Inhalt, auf den das Recht sich bezieht, bereits vorgegeben, die empirischen Umstände, die ökonomischen und sozialen Lebensverhältnisse, in denen der Bürger sich befindet, jeweils schon vorausgesetzt sind, und das Bürgerrecht sich in einer allgemeinen Bestandsgarantie, nämlich in dem von allen Beteiligten allen Beteiligten garantierten Anspruch auf Aufrechterhaltung der gegebenen Inhalte und vorausgesetzten Verhältnisse erschöpft. Unbeschadet ebensosehr wie ungeachtet der Art und Weise, wie das Gemeinwesen historisch zustandegekommen ist, und der Mechanismen, durch die es systematisch zusammengehalten wird, eint seine Mitglieder die als wie immer unausgesprochener Gesellschaftsvertrag begreifliche und qua ausdrückliches Bürgerrecht kodifizierte Entschlossenheit, keine nicht der Logik der empirischen Verhältnisse des Gemeinwesens entspringenden, nicht seinen Spiel- oder vielmehr Verkehrsregeln entsprechenden, sondern jener Logik fremden, mit jenen Regeln unvermittelten und per definitionem ihrer Unvermitteltheit gewaltsamen Veränderungen des biologisch, ökonomisch und sozial Gegebenen zu tolerieren und mit anderen Worten nicht zuzulassen, daß sie, die Mitglieder des Gemeinwesens, Übergriffen durch fremde Kollektive oder durch Individuen aus den eigenen Reihen ausgesetzt sind und sei’s Schädigungen an Leib und Leben, sei’s ökonmische Enteignungen, sei’s soziale Diskriminierungen erleiden. In der Tat richten sich von Haus aus das Bürgerrecht und die Bestandsgarantie, die es gewährt, das wechselseitige Schutzversprechen, das es bedeutet, ausschließlich gegen gewaltsame Eingriffe in die gegebenen Lebensverhältnisse und gegen systemfremde Manipulationen des als Voraussetzung Bestehenden und nicht etwa gegen die Änderungen der Verhältnisse, die deren eigener Logik geschuldet sind, gegen Transformationen, die das System aus innerer Dynamik durchläuft. Sowenig das Bürgerrecht die Inhalte und Verhältnisse konstituiert, auf die es sich bezieht, sowenig intendiert es eine inhaltliche Festschreibung des jeweils historisch gegebenen Status quo, eine Garantie der Unveränderlichkeit der jeweils empirisch bestehenden Situation.
Allerdings ist in jener Konstruktion eines bürgerrechtlichen Gesellschaftsvertrages auch nicht vorgesehen, daß die innere Logik der als schutzwürdig angesehenen gegebenen Lebensverhältnisse diese in einen Veränderungsprozeß hineintreibt, an dessen Ende sie für einen Teil der Vertragspartner jeder Verhältnismäßigkeit entkleidet und den Betreffenden regelrecht abhanden gekommen sind, daß mit anderen Worten die eigene Dynamik der für garantiert erklärten vorausgesetzten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung diese einem so nachdrücklichen Wandel unterwirft, daß schließlich für ganze Gruppen der an ihr teilhabenden Bürger die ökonomische und soziale Grundlage ihrer Teilhabe überhaupt entfällt. Und genau das aber geschieht! Wie gesehen, führt die durch koloniale Ausbeutung und Sklavenarbeit gleichermaßen determinierte und vorangetriebene Entwicklung der republikanischen Gesellschaft für einen großen Teil der bäuerlichen und handwerklichen Mittel- und Unterschichten in der römischen Bürgerschaft zu einer ökonomischen Entwurzelung und sozialen Deklassierung, die ihnen ihre subsistentielle Grundlage und ihre gesellschaftliche Integration nicht weniger effektiv verschlägt, als die gewaltsamste ökonomische Enteignung und soziale Diskriminierung das zu tun vermöchten. Eben die Situation, gegen die das Bürgerrecht schützen soll, jene als Resultat handgreiflicher Gewalt und direkten Zwangs vorgestellte, als Folge willkürlicher Eingriffe antizipierte, einschneidende Veränderung der materialen Lebensverhältnisse und der Bedingungen sozialen Zusammenlebens, vor der es zugunsten einer aus eigenem Antrieb kontinuierlichen Entwicklung der Verhältnisse und einer freien Entfaltung der das Zusammenleben regelnden Kräfte das Gemeinwesen bewahren soll – sie also wird unter dem Schutz des Bürgerrechts durch die der inneren Logik der Verhältnisse folgende kontinuierliche Entwicklung selbst, durch das nur seinen eigenen Regeln verpflichtete assoziative Kräftespiel als solches hervorgetrieben: Am Ende der logischen Entwicklung der materialen Lebensverhältnisse zeigen sich große Teile der Bevölkerung ebensosehr von der Teilhabe an ihnen ausgeschlossen, pauperisiert, sprich, ihrer ökonomischen Subsistenz beraubt, wie sie sich in der Konsequenz des freien Spiels der assoziativen Kräfte dissoziiert, dem Zusammenleben entrissen, sprich, um ihre soziale Integration gebracht finden.
Und indem das geschieht, ändert nun aber das Bürgerrecht nolens vo lens seinen Impetus und Sinn: Es wird aus einer Gewährleistung des Quid est zur Inanspruchnahme eines Quod est, wird aus einem Recht auf Bestehendes und Vorausgesetztes, zu einem Recht auf das Bestehen überhaupt und die Voraussetzung als solche. In dem Maße, wie sich die gesellschaftliche Situation existenzialisiert und für einen Großteil der Bürgerschaft das Bürgerrecht sich auf einen rein formalen Anspruch reduziert, dessen vorausgesetzter Gegenstand und Geltungsbereich, dessen als ökonomische Subsistenz und soziale Integration gegebener materialer Bezug sich quasi verflüchtigt hat und entfallen ist, nimmt das Bürgerrecht selber existenzielle Bedeutung an und erweist sich im Blick auf das Verschwundene, wie einerseits als faktische Fehlanzeige und reliquarischer Index, so andererseits aber auch als praktische Zivilklage und restaurativer Kodex. Als das, was von ihren ruinierten Lebensverhältnissen, ihrer verlorenen ökonomischen Grundlage und und sozialen Einbindung, noch als entleerte Vertragsbestimmung, als nunmehr gegenstandslose Klausel übriggeblieben ist und zeugt, wird das Bürgerrecht zu einem Strohhalm, nach dem sie greifen, um die alten Lebensverhältnisse quasi zu beschwören, die mit ihm ursprünglich angezeigte ökonomische Subsistenz und soziale Integration als das zu ostentieren, was sub specie seiner nach wie vor am Platze ist. Das Bürgerrecht und der in ihm kodifizierte Gesellschaftsvertrag gewinnen in dem Maße, wie sie ihre affirmative Funktion verlieren, evokative Bedeutung: Nach der Devise, daß, wo ein Recht ist, auch der Tatbestand sein muß, auf den sich das Recht bezieht, weil sonst das Recht ja gegenstandslos wäre, setzen die entwurzelten und deklassierten Plebejer eben jenen vormals vorausgesetzten und aber mittlerweile durch die Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse zugrunde gerichteten Tatbestand, die ökonomische Subsistenz und soziale Integration aller Bürger, als durch das Recht stipulierte Realität, als aus dem Gesellschaftsvertrag bei Strafe seiner offenbaren Nichtigkeit zu folgenderes existenzielles Erfordernis, als eine aus der bloßen Form herauszuschlagende Materie, einen aus der abstrakten Klausel zu ziehenden konkreten Schluß.