Ulrich Enderwitz – Die Republik frißt ihre Kinder * Leseprobe
Die Republik frißt ihre Kinder
Ulrich Enderwitz
Kapitel 1
“In demselben Jahr, heißt es, ließ ein Erdbeben oder irgendeine andere Naturgewalt ungefähr in der Mitte des Forums die Erde einsinken, und zwar so tief, daß ein unauslotbarer Abgrund entstand. Dieser Schlund ließ sich mit Erde, die sie alle herbeibrachten und hineinschütteten, nicht auffüllen, bis man auf Geheiß der Götter zu erforschen begann, worin die Hauptkraft des römischen Volkes bestehe; denn dies, hatten die Wahrsager erklärt, müßten sie jener Stelle zum Opfer bringen, wenn sie wollten, daß die römische Republik Bestand habe. Daraufhin, so erzählt man, schalt sie Marcus Curtius, ein junger Krieger von ausgezeichneter Tapferkeit, wie sie daran zweifeln könnten, daß das höchste Gut der Römer Wehrhaftigkeit und Manneskraft seien. Als Stille eintrat, wandte er sich zu den Tempeln der Götter, die das Forum überragen, und zum Kapitol, reckte die Hände bald gen Himmel, bald gegen den gähnenden Rachen zu den Göttern des Totenreichs und weihte sich selbst dem Tode. Hierauf bestieg er ein Roß, prachtvoll aufgezäumt, und sprengte in voller Rüstung in den Schlund; und hinter ihm her warf die Menge aus Männern und Frauen Opfergaben und Früchte hinab.”
(Livius VII 6,1-5)
Daß der sogenannten Studentenbewegung der zweiten Hälfte der sechziger Jahre die – über alle subjektiven Intentionen und persönlichen Motive ihrer Träger triumphierende – objektive Aufgabe zugefallen ist, eine Anpassung der Hochschulen an die besonderen Bedürfnisse des bundesrepublikanischen Staats in Gang zu bringen und gegen inneruniversitären massierten Widerstand durchsetzbar zu machen, ist eine für die Betroffenen bittere, aber jetzt, Mitte der achtziger Jahre, schlechterdings nicht mehr abzuweisende theoretische Einsicht, – eine theoretische Einsicht, die in all ihrer Unabweisbarkeit und induktiven Schlüssigkeit aus der empirischen Erkenntnis hervorgeht, daß die nachfolgende sogenannte Hochschulreform der ersten Hälfte der siebziger Jahre dem – alle privaten Absichten und idiosynkratischen Überzeugungen ihrer Vertreter Lügen strafenden – offiziellen Zweck gedient hat, jene geforderte Anpassung tatsächlich zu bewerkstelligen und umfassende Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn überhaupt eine historische Sequenz den Charakter einer ihre anfänglichen Motive zur Kenntlichkeit entstellenden konsequenzzieherischen Induktion, die Bedeutung einer Licht auf ihren eigenen motivationalen Ursprung werfenden aposteriorischen Beweisführung in Anspruch nehmen kann, so diese ungefähr ein Jahrzehnt dauernde chronische Entwicklung, die Chronologie der bundesrepublikanischen Reformhochschule.
So unabweisbar diese Einsicht aber auch sein mag, so schwer fällt es doch den von ihr Betroffenen, sie sich zu eigen zu machen. Statt, ihr folgend, den Fortgang von Studentenbewegung zu Hochschulreform als einen Identifizierungsprozeß, einen Prozeß der Konkretisierung eines anfänglich abstrakten Prinzips durch seine im folgenden nähere Ausführung zu begreifen, möchten sie ihn vielmehr als eine Verratsgeschichte behaupten, als eine Geschichte der Liquidierung anfänglich wahrer Intentionen durch systematisch fortschreitende Verfälschung. Unmöglich könne, meinen sie, was unter Aufsicht des Staats bzw. in staatlicher Regie aus dem ursprünglichen Reformimpetus wird und entsteht, als angemessene und gar authentische Realisierung des letzteren gelten. Ein flüchtiger Rückblick auf jenen ursprünglichen Reformimpetus genüge, um der eklatanten Diskrepanz und unüberbrückbaren Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit, Thema und Durchführung inne zu werden. Im wesentlichen drei inneruniversitäre Frontstellungen habe die den ursprünglichen Impetus verkörpernde Studentenbewegung vollzogen: Sie habe sich gegen die autoritäre Herrschaft der Ordinarien gewehrt, sich gegen den elfenbeinernen Turm der Gelehrten gewandt und gegen das in vielen Fällen in einer soliden nationalsozialistischen Vergangenheit und Biographie verankerte politisch reaktionäre Bewußtsein der Professorenschaft protestiert. Dem habe das hochschulreformerische Programm der Bewegung entsprochen, das in der Hauptsache aus drei Forderungen bestand: der Forderung nach einer Demokratisierung der Universitäten, nach einer Aktualisierung der Wissenschaft und nach einer Politisierung von Lehre und Forschung. Könnten diese drei Forderungen etwa als erfüllt gelten? Könne etwa die Rede davon sein, daß diese drei Hauptpunkte des Reformprogramms in die Tat umgesetzt worden seien? Sei etwa wirklich die Hochschule demokratisiert, die Wissenschaft aktualisiert, Lehre und Forschung politisch geworden? Doch wohl nicht ernstlich oder, genauer gefaßt, nur im allerironischsten Sinn! Schließlich habe sich die Demokratisierung nicht, wie von den Initiatoren verlangt, in der Form einer basisdemokratischen Selbstorganisation aller am akademischen Prozeß Beteiligten, sondern im Charakter stattdessen einer staatlich gelenkten und von Staats wegen proportionierten Machtverteilung und Kompetenzzuweisung an die funktionell dissoziierten Gruppen vollzogen, in die die am akademischen Prozeß Beteiligten zerlegt worden seien. Schließlich habe sich die Wissenschaft nicht, wie von den Initiatoren erwartet, im Sinne ihrer Rückführung und Wiedereinbindung in den Zusammenhang gesellschaftlicher Bedürfnisse und Interessen, sondern wesentlich nur im Verstand ihrer Unterwerfung unter und neuartigen Anpassung an die Räson staatlicher Belange und Strategien aktualisiert. Und schließlich sei die Politisierung von Lehre und Forschung nicht, wie von den Initiatoren erhofft, als systematische Selbstreflexion und Selbstbestimmung der Lehrenden und Forschenden im Blick auf ihre Verantwortung für die Gesellschaft und das gesamtgesellschaftliche Wohl, sondern vielmehr als automatische Selbstüberwachung und Selbstdisziplinierung dieser Lehrenden und Forschenden sub specie ihrer Haftung gegenüber dem Staat und der staatsbürgerlichen Macht wirklich geworden. In allen drei Hinsichten habe sich, kurz gesagt, gegen die lauteren Absichten, die progressiven Zwecke und die humanistisch-sozialistischen Ideale des ursprünglichen Reformimpetus der institutionelle Machtanspruch, der privative Eigennutz und das zynisch-funktionalistische Kalkül des bestehenden Staatswesens durchgesetzt. In allen drei Hinsichten habe der Vorsatz der Reformer der ersten Stunde, die Hochschule ineins zum Prototyp einer reformierten Gesellschaft und zu einem Protagonisten der gesellschaftlichen Reform auszubilden, gegenüber der nicht sowohl auf die Konstruktion von Prototypen als vielmehr auf die Produktion eines seriellen Typus und nicht sowohl auf die Einführung von Protagonisten als vielmehr auf die Einübung von Funktionären gerichteten Zielsetzung des Staats gleichermaßen den kürzeren gezogen und das Nachsehen gehabt. Und in allen drei Hinsichten könne deshalb auch von einer Erfüllung der anfänglichen Reformforderungen, einer Verwirklichung der ursprünglichen Reformidee nur eben im allerironischsten Sinn die Rede sein.
Mit diesem bündigen Fazit allerdings machen sich die wider den Stachel später Einsicht löckenden Betroffenen die Sache entschieden zu leicht. Zu leicht, genauer gesagt, machen sie sich die Sache mit ihrer für dies Fazit maßgebenden Regieanweisung und Rollenzuteilung an die als handelnde Personen der Reform aufgeführten beiden gesellschaftlichen Kräfte der akademischen Jugend einerseits und des bürokratischen Staats andererseits. Der ersteren fällt in dieser Darstellung die Funktion gleichermaßen des Urhebers der Reformidee und Motors der Reformbewegung zu und wird dementsprechend auch im Fazit die tragische Fasson der gescheiterten wahren humanistischen Absicht und des vereitelten wirklichen sozialistischen Wohls eingeräumt. Dem bürokratischen Staat hingegen weist die Darstellung die Rolle des in Ansehung der Reformidee begriffslose n Widersachers und im Verhältnis zur Reformbewegung heteronomen Einmischers zu und legt dementsprechend auch das Fazit den finsteren Charakter des über die wahre humanistische Absicht triumphierenden zynischen Verfälschers und gegen das wirkliche sozialistische Wohl reüssierenden egoistischen Usurpators bei. Diese Darstellung indes ist albern. Nicht, daß es nicht legitim und angemessen wäre, akademische Jugend und bürokratischen Staat als die beiden gesellschaftlichen Agenten oder Instanzen zu thematisieren, die in dem hier interessierenden Zusammenhang die tragenden Rollen spielen und die entscheidende Konstellation bilden. Keineswegs aber ist das gesellschaftliche Funktions- und politische Kräfteverhältnis dieser beiden Instanzen von der Art, daß sich an der vorgeschlagenen Rollenverteilung festhalten ließe, nach der die erstere nichts geringeres repräsentiert als den in Sachen Reform verantwortlich agierenden Selbstdenker, tonangebenden Initiator, zielbewußten Planer, hingegen der letztere nichts weiter markiert als den im Eigeninteresse verantwortungslos intervenierenden Fremdkörper, irreführenden Intriganten, zielstrebigen Zerstörer. Zu unverhältnismäßig sind die Funktionen der beiden, zu ungleichgewichtig ihre Kräfte, als daß eine solche Arbeitsteilung die mindeste Wahrscheinlichkeit beanspruchen könnte. Was für zwei Instanzen stehen sich da gegenüber? Einerseits die akademische Intelligenzschicht, die bewegten Studenten: keine bestimmte gesellschaftliche Klasse, sondern bloß eine sich durch den Bildungsstand definierende und im Prinzip aus allen Klassen, wenn auch de facto zum Großteil aus der bürgerlichen, rekrutierende gesellschaftliche Gruppe, der gemeinsam ist, daß sie den tertiären Ausbildungssektor durchläuft, und die durch diesen ihren gemeinsamen biographischen Ort wesentlich als Altersgruppe determiniert ist. Und auf der anderen Seite dann das bürokratische Staatswesen, die allgemeine und öffentliche Anstalt ex cathedra; die alle Klassen, formell zumindest, um- und übergreifende gesellschaftliche Hauptinstitution, die, ideell zumindest, die Aufgabe hat, den vereinigten Willen, das verallgemeinerte Bewußtsein und die verglichenen Interessen aller Gesellschaftsmitglieder zu repräsentieren, zu artikulieren, zu realisieren. Und dieses Zentralinstitut der Gesellschaft, diese gesamtgesellschaftliche Repräsentations- und Vermittlungsinstanz soll nun also einem so gesellschaftlich relevanten, so politisch brisanten und ökonomisch folgenreichen Konzept und Vorhaben wie der Hochschulreform in der Rolle eines bloß konzeptionslos selbstsüchtigen Quertreibers und ziellos machtgierigen Störenfrieds gegenüberstehen, soll ein bloß zwangsläufig Reagierender auf ein Tun und Beginnen sein, dessen wirklicher Urheber und authentischer Akteur jene nach Alter und Ausbildung besondere Gruppe der akademischen Intelligenz wäre. In der Tat höchst unglaubhaft!
Daß ein gesamtgesellschaftlich relevantes Vorhaben gegen die ausgemacht intentionale Ablehnung und den entschieden funktionalen Widerstand des gesamtgesellschaftlichen Repräsentations- und Vermittlungsorgans Staat allein auf Grund der Autorität und kraft des Einsatzes einer partikularen gesellschaftlichen Gruppe soll zur Anerkennung zu bringen und ins Werk zu setzen sein, widerstreitet in der Tat aller geläufigen Erfahrung und steht im Normalfall schlechterdings nicht zu erwarten. Wo es dennoch vorkommt, dies schier Unmögliche sich dennoch ereignet, ist Voraussetzung dafür eine grundlegende politisch-ökonomische Krise der Gesellschaft, eine alle normale Empirie über den Haufen werfende gesellschaftliche Ausnahmesituation. Unter dieser Voraussetzung gibt es dann allerdings jene Ersetzung der formaliter Einheit stiftenden generellen Größe des Staats durch eine materialiter Universales wirkende spezielle Gruppe der Gesellschaft; wir kennen dies Ereignis, theoretisch jedenfalls, unter dem Namen der Revolution, dem Begriff einer gesamtgesellschaftlichen Umwälzung. Von einer solchen Umwälzung aber kann bei der Reformbewegung der sechziger Jahre keine Rede sein. Auch wenn aus Gründen, die noch näher zu betrachten sein werden, die sie tragende akademische Jugend mit dem Gedanken liebäugelte, am Anfang einer revolutionären oder quasirevolutionären Entwicklung zu stehen, hat doch der Fortgang diese Vorstellung nur zu rasch als bloßes Mißverständnis, bloße Fehlreaktion deutlich werden lassen. Weder ihren Konditionen noch ihren Konsequenzen nach weist jene Reformbewegung Ähnlichkeit mit einem revolutionären Vorgang auf. Weder handelt es sich bei der sie auslösenden Krise um eine solch umfassende politisch-ökonomische Krise der Gesellschaft, eine solche gesellschaftliche Ausnahmesituation, noch führt sie selber zu jener Krise des Staats, zu jenem das Staatswesen außer Kraft setzenden Ausnahmezustand, worin revolutionäre Prozesse nolens volens resultieren. Eben deshalb nämlich, weil es eine mit dem gesellschaftlichen status quo unvermittelte partikulare Gruppe ist, die unter revolutionären Bedingungen zum materialen Träger des Gemeinwohls und gesamtgesellschaftlichen Interesses avanciert, ist ganz unvermeidlich, daß dieser in all seiner Partikularität materiale Interessenvertreter der Gesellschaft mit dem vorhandenen formalen Repräsentanten der Gesellschaft, dem in falscher Generalität herrschenden Staat, in Konflikt gerät und sich auseinander setzen muß. Was die revolutionäre Gruppe gegen die von Staats wegen garantierte Ordnung und staatlich sanktionierte Erfahrung in Angriff nimmt, kann sie nur in dem Maß zur Geltung zu bringen hoffen, wie ihr gelingt, die Staatsmacht zu zerstören, und den Staatsapparat außer Kraft zu setzen.
Von solcher Zerstörung oder Außerkraftsetzung der Staatsmacht aber kann im Falle jener akademischen Reformbewegung keine Rede sein. Zu keinem Zeitpunkt ihrer Entwicklung durchbricht und destruiert die sogenannte Studentenbewegung die von Staats wegen garantierte Ordnung, sprengt und transzendiert sie die staatlich sanktionierte Erfahrung. Als durch die studentische Bewegung auch nur einen Augenblick lang außer Kraft gesetzt wollen den Staat ja auch jene, die ihn aus dem angeblich spontanen Motivations- und autonomen Interessenzusammenhang der Bewegung ausgeschlossen und seine Rolle auf die eines diesen Motivations- und Interessenzusammenhang von außen sabotierenden machtpolitischen Intriganten und intentionslosen Zynikers beschränkt sehen wollen, beileibe nicht verstanden wissen. Auch sie, die eifrigen Verteidiger der Ehre und Ehrlichkeit, Ursprünglichkeit und Echtheit der studentischen Bewegung, erkennen im Staat die, wenn schon von der Bewegung ausgeschlossene, so doch aber außerhalb ihrer und unerreichbar von ihr in Kraft seiende und in Kraft bleibende gesellschaftliche Institution und politische Gegeninstanz. Und anderes als die unverändert bestehende und unangefochten herrschende Macht kann hier, wer nur halbwegs bei Sinnen, auch gar nicht erkennen – angesichts der offenkundigen Omnipräsenz, mit der, in welcher Funktion auch immer, der Staat die Bewegung von Anfang an begleitet, und angesichts der augenscheinlichen Durchsetzungskraft, mit der, in welcher Absicht auch immer, er ihr in zunehmendem Maß begegnet. Zeigt sich demnach aber die sogenannte Studentenbewegung die ganze Zeit über streng im Kontext der von Staats wegen garantierten Ordnung verhalten und strikt ins Kontinuum der staatlich sanktionierten Erfahrung gebannt, so kann der von ihren Apologeten ihr zugewiesene Part eines vom Willen des Staats unabhängigen und vom Staatsinteresse unbeeinflußten, politisch autonomen Akteurs und historisch spontanen Initiators der Gesellschaft als ausgeschlossen und vielmehr für ausgemacht gelten, daß im Rahmen dieser, sie definitiv bindenden, staatlich garantierten Ordnung und im Zusammenhang dieser, sie restriktiv prägenden, staatlich sanktionierten Erfahrung sie tatsächlich etwas vorträgt und intendiert, was auch und wesentlich die Intention des diese Ordnung garantierenden und diese Erfahrung sanktionierenden Staatswesens ist; daß sie also mit ihrem ganzen Erne uerungsanspruch hinweist auf, mit ihrem ganzen Reformbeginnen einsteht für eine vergleichbare Novellierungsabsicht und einen entsprechenden Reformimpetus im Staate selbst.
Damit aber erscheint nun natürlich auch die Hochschulreform Anfang der siebziger Jahre, jene Phase also, in der die Staatsmacht die Reform in eigene Regie übernimmt und aus eigener Machtvollkommenheit durchführt, in einer ganz anderen Beleuchtung als dem trüben Dämmer und Zwielicht, worein die Apologeten des studentischen Aufbruchs sie getaucht sehen wollen. Sie verwandelt sich aus einem Vorgang, dessen ebenso zweideutige wie heimliche Funktion es sein soll, der studentischen Reformbewegung ihre ursprüngliche Intention zu verschlagen und ihr eigentliches Interesse auszutreiben, um beide durch eine dem zynischen Machtkalkül des Staates angemessenere Projektion und Perspektive zu ersetzen, in ein Verfahren, das seinen ebenso einfachen wie einzigen Zweck darin hat, die an sich dem Staat eigene Reformintention als allgemeines Bedürfnis Geltung erlangen, das an sich dem Staat innewohnende Erneuerungsinteresse als öffentliches Anliegen Wirklichkeit werden zu lassen. Und wie sub specie der dem Staatswesen ursprünglich eigenen Intentionaliät und von Anfang an innewohnenden Interessiertheit die Hochschulreform der beginnenden siebziger Jahre ein anderes Aussehen gewinnt und sich aus einem intriganten Manöver zur Durchkreuzung und Liquidation studentischer Impulse und Absichten in einen konsequenten Akt der Durchführung und Realisation staatlicher Motive und Vorhaben verwandelt, so verändert nun natürlich auch die studentische Bewegung selbst ihr Gesicht und vertauscht die hybride Physiognomie eines der Reform vorstehenden originären Impulsgebers und authentischen Urhebers gegen den beschränkten Ausdruck eines vor der Reform stehenden ordinären Mittelsmanns und kursorischen Zwischenträgers. Eingebunden in und vielmehr angebunden an einen Reformprozeß, der als ein ebenso wesentlich vom Staatsinteresse bestimmtes wie von Staats wegen betriebenes Unternehmen firmiert, zeigt sich die studentische Reformbewegung auf ein Vor- und Wegbereitertum beschränkt, das, statt der anschließenden wirklichen Reformtätigkeit des Staats mit urheberschaftlicher Prinzipialität begegnen und also als ein ebenso kategorisches Kriterium wie genialischer Maßstab sich ihr oktroyieren zu können, vielmehr umgekehrt in dieser Tätigkeit seine finale Ursache erkennen und deshalb an ihr als gleichermaßen seiner empirischen Erfüllung und historischen Aufhebung sich buchstäblich messen und kriteriell beurteilen lassen muß. In der Tat ist dies die besondere Pointe solcher Hineingehörigkeit der studentischen Aufbruchsbewegung in den Konstitutionsrahmen staatlicher Reformtätigkeit: daß, weit entfernt davon, kraft eigenen Aufbruchspathos die staatliche Reformtätigkeit kritisieren und in Frage stellen zu können, die studentische Bewegung im genauen Gegenteil mit diesem ihrem Aufbruchspathos sub specie der staatlichen Reformtätigkeit fragwürdig werden und der Kritik verfallen muß. Propädeutisches Moment und kursorisches Stadium des vom Staat gewollten und getragenen Reformprozesses, erwirbt sich die sogenannte Studentenbewegung dadurch, daß sie die ihr angemessene Funktion eines Vorläufers und Herolds der Reform zum über die Maßen prophetischen Geist eines Urhebers und Auguren der Reform sich verselbständigen und hypostasieren läßt, mitnichten die Berechtigung oder Kompetenz, einer Kritik am staatlichen Reformprozeß bzw. einem Verdikt über ihn Mittel und Grundlagen zu liefern, sondern bringt sie sich einzig und nur vor den mißlichen Fall, daß vom staatlichen Reformprozeß her dieser ihr urheberschaftliche Anspruch und prophetische Überschwang ebenso unbegründet wie unvermittelt erscheint und einer als historisches Urteil kritischen Revision verfällt. Eben das generalisierend-ideale Reformpathos, das den Apologeten der akademischen Aufbruchsbewegung als Beweis für die Vorbildfunktion und maßgebliche Bedeutung gilt, die die letztere in Hinsicht auf den staatlichen Reformprozeß beanspruchen könne, verkehrt sich so vielmehr in ein Indiz dafür, daß dort die momentane Bewegung mit Rücksicht auf hier den fortlaufenden Prozeß im Fehlleistungscharakter einer funktionswidrig pauschalisierenden Hypertrophie sich verrennt, ins Abseits einer vexierbildlich maßlosen Übertreibung sich manövriert. Und aus der von den Apologeten der akademischen Bewegung propagierten Schelte über den bösen Hintersinn und das intrigante Motiv des praktischen Abfalls und politischen Verrats, den in Ansehung der studentischen Ideale der Staat mit seinem Reformprozeß angeblich begeht, wird so mit einem Mal und in völliger Umkehrung die durch die Empirie des Reformprozesses selbst proponierte Frage nach dem wahren Sinn und wirklichen Grund der sektiererischen Abstraktheit und gnostischen Verstiegenheit, die in Anbetracht des staatlichen Vorhabens die bewegten Studenten tatsächlich beweisen.
Was, so müssen wir – aller anderslautenden Apologie zum Trotz – uns fragen, läßt die studentische Aufbruchsbewegung derart gravierend von der ihr im Kontext des staatlichen Reformprozesses zugemessenen Einführungsaufgabe und Vorbereitungsfunktion abweichen, was veranlaßt sie dazu, jene reformatorischen Intentionen des Staats und staatlichen Reforminteressen, die sie an sich doch nur provisorisch zur Sprache zu bringen und propädeutisch zu propagieren bestimmt ist, derart prophetisch-universalisierend zu entstellen und dergestalt hypostatisch-objektivierend zu verfremden. Um auf diese Frage antworten zu können, müssen wir nun allerdings gleichermaßen den Charakter und das Ausmaß der universalisierenden Entstellung und hypostasierenden Verfremdung, die mit ihrem Aufbruchsimpetus und Erneuerungsanspruch die akademische Bewegung dem staatlichen Veränderungsstreben und Reformansatz angedeihen läßt, ein bißchen genauer in Betracht nehmen. Und das wiederum erfordert, daß wir uns erst einmal überhaupt von jenem Veränderungsstreben des Staates ein hinlängliches Bild, von jenem staatlichen Reformansatz einen zureichenden Begriff machen. Was, so muß deshalb zuallererst unsere Frage lauten, sind eigentlich jene dem Staat eigenen Interessen und Intentionen, die der qua Hochschulreform staatlich initiierte und gelenkte Reformprozeß gleichermaßen voraussetzt und verwirklicht – woher stammen sie, worin bestehen sie, worauf zielen sie ab? Allgemein und abstrakt genommen, fällt, die Antwort auf diese Frage zu geben, nicht schwer: Was der Staat verfolgt und realisiert, sind im Prinzip und Grunde eben dieselben Intentionen und Interessen, die auch der akademische Aufbruch im Sinn hat und propagiert; nicht anders als letzterem geht es auch ersterem um Demokratisierung der Hochschule, Aktualisierung der Wissenschaft. Wie könnte das auch anders sein angesichts eines Verhältnisses, bei dem der letztere für die erstere die objektive Rolle eines Bahnbrechers und Wegbereiters spielt, die systematische Funktion eines intentionalen Herolds und provisorischen Sachwalters erfüllt? Indes, nicht um jene Interessen und Intentionen im allgemeinen Prinzip und abstrakten Grund geht es hier! Gerade nicht in der allgemeinen Bestimmung prinzipieller Universalität, gerade nicht in der abstrakten Verfassung hypostatischen Fundamentalismus, wohinein die studentische Aufbruchsbewegung sie versetzt und entrückt, entstellt und verfremdet, sollen jene Interessen und Intentionen uns jetzt vor Augen treten! Vielmehr in dem unentstellt spezifischen Charakter, in dem sie ad hoc erscheinen, in der unverfremdet konkreten Bestimmtheit, in der sie unmittelbar auftreten, wollen wir ihrer ansichtig werden, in der historisch relativen Bezüglichkeit, in der der Staat sie, aller studentisch-prophetischen Verabsolutierung entgegen, auffaßt und artikuliert, der gesellschaftlich situativen Beschaffenheit, in der er sie, aller akademisch-hypostatischen Totalisierung zum Trotz, festhält und realisiert, wollen wir sie in Augenschein nehmen! Kurz, als praktische Reaktion der staatlichen Regie auf eine spezifische historis che Situation, als reale Konzeption einer Strategie des Staats in einer konkreten gesellschaftlichen Konstellation und nicht als Resultat einer diese historische Situation existentialisierenden studentisch-theoretischen Reflexion, nicht als Ausdruck einer diese gesellschaftliche Konstellation transzendierenden akademisch-idealen Vision sind sie jetzt unser Gegenstand.