Fritz Bieligk, Curt Geyer, Carl Herz, Walter Loeb, Kurt Lorenz, Bernhard Menne – “Der Kampft gegen den Nationalismus …” * Leseprobe aus Geyer, Loeb, u.a., Fight for Freedom

“Der Kampf gegen den Nationalismus muß von vorn begonnen werden.”

Erklärung der “Fight-for-Freedom”- Gruppe vom 2. März 1942

Fritz Bieligk, Curt Geyer, Carl Herz, Walter Loeb, Kurt Lorenz, Bernhard Menne

I.

Die Unterzeichneten halten es für ihre Pflicht, die politischen Differenzen in der deutschen sozialdemokratischen Emigration freimütig darzulegen und ebenso freimütig die Wahrheit über Deutschland zu sagen.

Es handelt sich um Differenzen über Tatsachen, über die Beurteilung der Geschichte Deutschlands und der sozialdemokratischen Politik, um Differenzen im Ziel und im politischen Wollen.

Die Unterzeichner sind, gestützt auf ihre Kenntnis der geschichtlichen Vorgänge, ihre eigene politische Tätigkeit und die Erfahrungen über das Ver­halten des deutschen. Volkes seit Beginn dieses Krieges folgender Anschauung:

daß der deutsche aggressive Nationalismus die mächtigste politische Kraft im deutschen Volke darstellt, daß er schon vor 1914 und heute erst recht alle gesellschaftlichen Klassen und politischen Parteien erfaßt hat;

daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die Führung der Gewerkschaften von 1914 bis 1918 eine wesentliche Stütze des Kriegswillens des deutschen Volkes waren;

daß die Sozialdemokratische Partei im November 1918 keine Revolution gegen den deutschen Nationalismus, nach dem Zeugnis ihrer Führer überhaupt keine Revolution wollte;

daß die Geschichte der Weimarer Republik beweist, daß die nationalistische Tendenz in der Sozialdemokratischen Partei und in den Gewerkschaften fortdauerte;

daß sozialdemokratische Führer eine Politik der deutschen Machtausweitung betrieben haben;

daß die Sozialdemokratische Partei und die Leitung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes eine nationalistische Propaganda gegen den Versailler Vertrag geführt haben, und zwar um so lauter, je energischer die Rechtsparteien den Versailler Vertrag zur psychologischen Vorbereitung des Revanchekrieges benutzt haben;

daß Hitler nicht ein Zufall ist, sondern daß er von der größten Massenbewegung der deutschen Geschichte in die Macht getragen worden ist, und daß seine Regierung eine Mehrheit in Volk und Parlament hatte;

daß der politische Wille des deutschen Volkes sichtbar wird im deutschen Volksheer, das den Sieg will;

daß der Krieg in Deutschland unterstützt wird von einer überragenden Mehrheit des deutschen Volkes.

Die Unterzeichner halten es für ihre Pflicht, vor Illusionen zu warnen, die von einem Teil der politischen Emigration in England und in Amerika verbreitet werden. Es ist eine Täuschung, wenn behauptet wird, daß Massen des deutschen Volkes nur auf die Niederlage warten, um sich revolutionär für Frieden und Demokratie zu erheben, daß es wirksame illegale Organisationen in Deutschland gäbe, die für die Niederlage Deutschlands und eine Revolution arbeiten, daß die Reste der sozialdemokratischen Partei oder sozialistische Gruppen in Deutschland sichere Garanten gegen den deutschen Nationalismus seien.

Demgegenüber verweisen wir auf die Tatsache, daß die deutsche Arbeiterbewegung (Partei, Gewerkschaften, Genossenschaften) vollkommen geschlagen worden ist und daß alle Versuche der illegalen Organisationen niemals Masseneinfluß erlangt haben.

II.

In der Organisation der sozialdemokratischen Emigration in London haben über diese Probleme Diskussionen stattgefunden. Die Vertreter der oben festgestellten Anschauungen sind dabei auf heftige Anfeindungen gestoßen. Es zeigte sich, daß unvereinbare Gegensätze bestanden über folgende Fragen: Hat das deutsche Volk die uneingeschränkte Verpflichtung zur Wiedergutmachung oder nicht? Brauchen die Kräfte einer neuen Demokratie in Deutschland die militärische Hilfe der demokratischen Sieger oder nicht? Treten wir vorbehaltlos für eine einseitige Abrüstung Deutschlands ein oder nicht? Die Unterzeichneten haben aus dem Inhalt der Diskussion und aus ihren Erfahrungen die Schlußfolgerung ziehen müssen, daß sie den Kampf gegen den Nationalismus in der deutschen Arbeiterbewegung von vorn beginnen müssen.

Den gleichen bekämpfenswerten Auffassungen begegnen wir im “Trade Union Centre for German Workers in Great Britain”, dort nur verstärkt und der Politik der Gewerkschaftsführung im März-April 1933 entsprechend. Im Organ dieses Zentrums [ 1 ] wurde die Zwangsorganisation der Deutschen Arbeitsfront ausdrücklich als “die rohe Form” für die “gewerkschaftliche Einheitsfront” mit folgenden Worten anerkannt: “Es wäre töricht, sie aus rein gefühlsmäßigen Erwägungen heraus völlig zu zerschlagen. Unsere Aufgabe muß es vielmehr sein, sie zu polieren und ihr den rechten Inhalt zu geben.”

Die Lage wurde verschärft, als das Mitglied des Parteivorstands Friedrich Stampfer, der frühere Chefredakteur des Vorwärts, aus New York in London eintraf. Wie Victor Schiff, der frühere außenpolitische Redakteur des Vorwärts, und wie das in Amerika befindliche Parteivorstandsmitglied Wilhelm Sollmann, der frühere Reichsminister des Innern, ist er ein dezidierter Gegner der einseitigen Abrüstung Deutschlands. Alle verteidigen sie die Kriegspolitik der sozialdemokratischen Mehrheit von 1914 bis 1918 noch heute. In der “New York Times” veröffentlichte Stampfer eine Zuschrift, in der er behauptete, daß die meisten früheren Führer deutscher Wissenschaft und Kunst, deutscher Politik und Wirtschaft jetzt als Emigranten und entschlossene Feinde des Hitlersystems im Auslande leben. Das ist eine gröbliche Irreführung. Die meisten früheren Führer deutscher Wissenschaft und Kunst, deutscher Politik und Wirtschaft, soweit sie nicht Juden sind, leben mit wenigen Ausnahmen in Deutschland und unterstützen den Krieg, so wie sie von 1914 bis 1918 den Krieg unterstützt und die Welt durch die Ausbrüche ihres Hasses, durch ihre Annektionsforderungen und ihre Gewaltverherrlichung erschreckt haben.

Bei Gelegenheit einer Round-Table-Konferenz in New York wurde das Prinzip der internationalen Kontrolle über Deutschland vertreten, um einen kommenden Krieg zu verhindern. Dazu erklärte das Mitglied der “German Labor Delegation”, Brauer, früher sozialdemokratischer Oberbürgermeister von Altona: “If this system is to be imposed on the German people I would say: fight to the death, Germans; it is better than to accept this straitjacket.” [ 2 ]

Diese Dinge sind symptomatisch dafür, daß die Gegensätze, die in der Sozialdemokratie während des Krieges von 1914 bis 1918 bestanden haben, auch heute wieder lebendig geworden sind. Es ist der Gegensatz zwischen jenen, die das nationale Interesse und die Interessen des deutschen nationalen “Sozialismus” über Erwägungen der internationalen Gerechtigkeit und über die gemeinsamen Interessen aller Völker – heute namentlich über die Interessen der vergewaltigten Völker – stellen und jenen, deren Anschauungen und Politik den nationalistischen Strömungen nicht unterworfen sind, und die sich Sinn für politische Gerechtigkeit erhalten haben.

III

Die Mitglieder des sozialdemokratischen Parteivorstandes, Vogel und Ollenhauer sind einer prinzipiellen Erklärung in einer rein sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft ausgewichen. Sie haben jedoch gemeinsam mit anderen sozialistischen Gruppen als “Union of German Socialist Organisations in Great Britain” und gemeinsam mit dem “Trade Union Centre for German Workers in Great Britain” eine Resolution angenommen und veröffentlicht, und von der Tatsache dieser Resolution durch das B.B.C. nach Deutschland Kenntnis gegeben. Die “Union” besteht aus den sozialdemokratischen Parteivorstandsmitgliedern Vogel und Ollenhauer, aus Vertretern der “Neu Beginnen”-Gruppe, der ISK-Gruppe (Nelson-Bund) und der S AP. Wir stellen fest, daß weder in der sozialdemokratischen Emigrantengruppe noch in der Gewerkschaftsorganisation die Mitglieder vor Annahme und Veröffentlichung der Resolution über diese befragt worden sind.

Diese Resolution ist unter dem Anschein einer Annahme der einseitigen Abrüstung Deutschlands an einer klaren Stellungnahme vorbeigegangen. Bereits in der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft wurde ohne Erfolg der Versuch gemacht, die Gegner und die Anhänger der einseitigen Abrüstung Deutschlands auf die Formulierung “vollkommene Abrüstung Deutschlands” zu bringen. Dieser Ausdruck “vollkommene Abrüstung” kehrt in der Resolution wieder, anstelle des unmißverständlichen Terminus “einseitige Abrüstung Deutschlands”. – Die Resolution sagt zur Atlantic Charter: “In the Eight Points of the Atlantic Declaration the leading statesmen of England and the United States have declared principles which we also regard as the starting point of the relationship between the new Germany and the world.” [ 3 ]

Diese Wendung ruft eine Erinnerung an einen historischen Vorgang ins Gedächtnis: Bei den einleitenden Verhandlungen zum Waffenstillstand von 1918 hieß es in der ersten Note der deutschen Regierung an Präsident Wilson: “The German Government accepts, as a basis for the peace negotiations, the program laid down by the President.” Die amerikanische Regierung, nicht düpiert, fragte zurück, ob die deutsche Regierung die Vierzehn Punkte annehme, ja oder nein, in der Sache, und nicht als “Basis” für Verhandlungen über die Sache.

Wir fragen: Nimmt die Sozialistische Union Punkt 8 der Atlantic Charter in der Sache an, nicht als “starting point”, ja oder nein, mit allem, was dieser Punkt impliziert, ohne geheime Vorbehalte? Wenn ja, warum hüllt sie sich in Unklarheit und zweideutige Formulierungen? Die Zweideutigkeit der Formulierung wird noch durch den folgenden Satz erhöht: “We German Socialists and Trade Unionists are fully conscious of the fact that the principles of self-determination and international collaboration can be translated into reality only to the degree to which the European nations are prepared to renounce their military and economic sovereignty in favour of a greater unity.”

Punkt 8 der Atlantic Charter schließt ein, daß Deutschland auf seine militärische Souveränität verzichten muß, die Sieger aber, wie immer auch kollektiv organisiert, bewaffnet bleiben.

Da wir aus Geschichte und Erfahrung wissen, welche Stärkung des Nationalismus im deutschen Volke mit der Agitation für die militärische Gleichberechtigung erzielt worden ist, weisen wir mit allem Nachdruck auf diese Zweideutigkeit der an einem offenen Bekenntnis vorbeigehenden Resolution hin. Warum die Zweideutigkeit? Ist es ein Versuch, den Weg zu einer neuen Agitation für die militärische Gleichberechtigung Deutschlands – das heißt für die Neuorganisierung der deutschen Übermacht – offenzulassen? Sicher ist es ein Versuch, die unüberbrückbaren politischen Gegensätze in der sozialdemokratischen Emigration zu verdunkeln und zu verbergen, Gegensätze, die im vorigen wie im jetzigen Krieg wie auch in Zukunft von grundsätzlicher Bedeutung sind.

IV

Die Forderung, die Auseinandersetzung mit den nationalistischen Tendenzen und die Kritik an der Politik der Partei dem “Parteipatriotismus” unterzuordnen, lehnen wir ab. Wer ist die Partei? Wo ist die Partei? Was ist die Partei, und welche Meinung vertritt die Partei? Dieser Parteipatriotismus würde nur verhindern, daß die Wahrheit gesagt wird. Mit diesem Parteipatriotismus würde allein dem deutschen Nationalismus und dem Revanchegedanken gedient.

Unser Mitunterzeichner Curt Geyer ist aus dem sozialdemokratischen Parteivorstand ausgeschieden, um Handlungsfreiheit als Sozialdemokrat im Wirken gegen jene Richtung der deutschen politischen Emigration zu haben, die offen oder versteckt gegen die einseitige Abrüstung Deutschlands agitiert, und weil er im sozialdemokratischen Parteivorstand nicht mehr eine Basis für diesen Kampf erblickt.

Hektographiertes Manuskript aus dem Nachlass Friedrich Stampfers im Archiv der Sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn (Signatur: AdsD, NL Stampfer). Erstmals veröffentlicht in: Erich Matthias (Hrsg.): Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration. Aus dem Nachlass von Friedrich Stampfer, Düsseldorf 1968, S. 538-542.

[ 1 ] Anm. d. Hrsg.: Gemeint ist die Zeitschrift “Die Arbeit”, die seit März 1941 von der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien in London herausgegeben wurde.

[ 2 ] Anm. d. Hrsg.: Mit diesen Worten soll Max Brauer nach Angaben Friedrich Stampfers, der ihn zu verteidigen suchte, spontan auf einen Vorschlag des deutsch-amerikanischen Vansittartisten Friedrich Wilhelm Foerster reagiert haben, Deutschland nach dem Krieg für 60 Jahre unter Zwangsverwaltung zu stellen. [Friedrich Stampfer]: 22. 4. 1942: Stampfer (New York) an Sopade (London) [Brief], in: Erich Matthias (Hrsg.): Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration. Aus dem Nachlass von Friedrich Stampfer, Düsseldorf 1968, S. 549.

[ 3 ] Anm. d. Hrsg.: Die Resolution befindet sich ebenfalls als Neuabdruck in der von Matthias herausgegebenen Dokumentation. [Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien]: Februar 1942: Erklärung der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien (London), in: ebd., S. 535-538.

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