ISF – Das revolutionäre Jetzt …
Das revolutionäre Jetzt als Dauerzustand
Initiative Sozialistisches Forum
Man hat sich zu entscheiden. Entweder ist, wie Wilhelm Weitling sagte, wie dann Blanqui und Bakunin, wie Walter Benjamin, Johann Georg Elser und die Rote Armee Fraktion, dem Revolutionär die Zeit immer ‘reif’ genug für die Revolution, weil der Imperativ, jedwedes gesellschaftliche Verhältnis umzuwerfen, unter dem die Menschen beherrscht und ausgebeutet werden, unbedingt gilt und kategorisch, weil das Wesen dieses Verhältnisses als das Unwesen erkannt worden ist und dem nur noch praktisch zu vollziehenden Urteil der Vernunft verfällt: Dann sitzt das revolutionäre Jetzt inmitten der steten Schnittstelle von Geschichte und Zukunft.
Oder die revolutionsträchtige ‘Reife’ der Verhältnisse wird als geschichtlicher Prozeß aufgefaßt, der hinterrücks, nach der Manier der Hegelschen “List der Vernunft”, an den ‘objektiven Voraussetzungen’ der menschlichen Emanzipation werkelt. Das Wesen hat sich herauszuwickeln und auszufalten, zur evidenten Erscheinung sich erst noch zu vermitteln. Dann allerdings bedarf der Wille zum Umsturz eines objektiven, eines wissenschaftlich zu konstatierenden Fundaments, und der Revolutionär hat, in nichtrevolutionären Zeiten, einstweilen in “Geduld und Ironie” (Agnoli), gar in “Geduld und Theorie” (Lenin) sich zu üben. Dann mißt er mit dem Thermometer des ‘wissenschaftlichen Sozialismus’ dem Kapital das Fieber und lauert, nicht Arzt, sondern Sterbehelfer am Krankenbett, auf das höchste und letzte Stadium der Krisis.
So oder so, gleich, ob in kategorischer Setzung oder in historischer Entwicklung, ob als passende Gelegenheit zum ‘Losschlagen’ oder als die im Zusammenbruch der falschen Verhältnisse sich manifestierende, zur Fäulnis getriebene ‘Reife’ – das revolutionäre Jetzt hat zum Kairos sich zu konkretisieren und in der Bestimmung des rechten Moments. Es ist kein Epochenbegriff, so sehr es den Inbegriff der Epoche ausdrückt. Es ist der Horizont, in dem, was Lenin die “revolutionäre Situation” nannte, bestimmt und getroffen werden muß: “Wann, wenn nicht jetzt?” Den Kairos zu bestimmen und auszusprechen – darin besteht die definitive Arbeit des Materialismus. Man darf es nicht verschleißen, nicht entwerten, wie die Kommunisten der zwanziger Jahre die Warnung vor dem Nazismus verschlissen. Denn das Jetzt ist der Kulminationspunkt, das “letzte Gefecht”, der Moment der ultimativen und antagonistischen Konfrontation mit dem politischen Souverän, dem bewaffneten Generalprokuristen der ökonomischen Ausbeutung. Das revolutionäre Jetzt, egal, ob ‘subjektivistisch’ oder ‘objektivistisch’ gefaßt, ganz gleich, ob ‘voluntaristisch’ oder ‘ökonomistisch’ verstanden, taugt unmöglich zum konstruktiven Programm. Vielmehr ist es das Ende aller Programme, weil es das Programm der Abschaffungen selbst einleitet. Als Probe auf die Wahrheit des Materialismus ist dieses Jetzt weder theoriefähig noch theoriebedürftig. Der Operationsmodus des Materialismus ist daher, im genauen und bewußten Gegegensatz zu Theorie, als Kritik bestimmt: “Kritik aber ist das theoretische Leben der Revolution” (Krahl 1971, 213). Seit mehr als zehn Jahren schon verwalten Robert Kurz und die Krisis-Gruppe das revolutionäre Jetzt als die überaus geduldigen Funktionäre des unmittelbar bevorstehenden Kollaps der Modernisierung. Stoisch vertreten sie die krisentheoretisch abgeleitete Behauptung, das Kapital sei endgültig auf der schiefen Bahn in den totalen Zusammenbruch und der Karoshi, der plötzliche Herztod der Akkumulation, könne jederzeit eintreten. “Erst jetzt”, so pointierte 1988 das Manifest für die Erneuerung revolutionärer Theorie, “hat sich die ‘zivilisatorische Mission des Kapitals’ (Marx) völlig erschöpft, erst jetzt tritt die reine, negative Zerstörungspotenz des Werts gegenüber Mensch und Natur absolut hervor” (Kurz 1988, 22). Mag man sich da noch fragen, wie sich die Massenvernichtung, wie sich der Umschlag der bürgerlichen Gesellschaft in die vollendete Barbarei, den Deutsche und andere Nazis willig vollstreckten, zu einer “zivilisatorischen Mission” verhält, deren destruktive Gewalt “erst heute” sichtbar wird?
Neuerdings war zu lesen, daß der Kapitalismus … am Ende seines Blindflugs durch die Geschichte angelangt” sei und “nur noch zerschellen” könne (Kurz 1999, 762), daß es nicht mehr lang dauert, “bis die größte aller spekulativen Blasen platzen muß” (Kurz 1999, 748). Das revolutionäre Jetzt der Krisis-Gruppe, zum Dauerzustand geworden, bezeugt sich darin nicht als ein Resultat von Diagnose, sondern als Markenzeichen, als Ausdruck einer ‘corporate identity’, mit dem die Gruppe, getreu der Logik des Narzißmus der kleinen und kleinsten Unterschiede, in den wenigen noch verbliebenen Jagdgründen des traditionellen Marxismus wildert.
Die Krisis-Gruppe hegt den tatsächlich überaus begründeten Verdacht, daß das Kapital eine – logisch betrachtet – unmögliche Vergesellschaftungsweise darstellt, daß, was an sich unmöglich ist, auch dazu verurteilt ist, von uns aus der Wirklichkeit geschafft zu werden, und daß schließlich der Zusammenbruch dieser Vergesellschaftung unausweichlich ist. Das behauptet allerdings nicht nur Krisis, sondern auch der Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland und angrenzende Wissensgebiete: “‘Die internationalen Finanzmärkte standen im Herbst 1998 dem Zusammenbruch nahe, wenn nicht von offizieller Seite – Notenbank und Regierungen – Maßnahmen ergriffen worden wären, um das Vertrauen wiederherzustellen. Heute läßt sich sagen, daß die Währungsbehörden zwar den Systemzusammenbruch verhindert haben, aber ihr Dilemma wurde eher noch verschärft. Sie müssen jetzt zulassen, daß die privaten Marktteilnehmer die Kosten ihrer Anlage-Fehlentscheidungen selber tragen. Gleichzeitig muß aber auch die Stabilität des Finanzsystems als Ganzes weiter gewahrt werden. Von der Auflösung dieses Dilemmas wird es abhängen, ob künftige Krisen besser bewältigt werden können.’ Dies ist die Kernaussage im neuen Quartalsbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel” (FAZ, 8. März 1999).
Die Krise des Kapitals ist unvermeidlich. Im Gegensatz zur Auffassung der Krisis-Gruppe ist dies jedoch eine nur notwendige, keineswegs die hinreichende Bedingung der kommunistisch möglichen Emanzipation. Die notorische Verwechslung dieser Bedingungen, die Krisis schon immer unterlief, hat ihren Grund darin, daß der Zusammenhang von Warenform und Denkform nicht Thema werden kann, daß man daher seit 1988 an der Erneuerung revolutionärer “Theorie” arbeitet, nicht jedoch am Übergang in materialistische Kritik. Das notorische Bedürfnis nach ‘Theorie’ ist Indiz dessen, wie gründlich die Überwindung des “Arbeiterbewegungsmarxismus” mißlang, wie innig man, trotz aller nur zu berechtigten Einwände gegen den “positivistischen”, den “Arbeiterbewegungs- und Klassenkampf-Marx” (Kurz 1998, 87), den Denkgewohnheiten der marxistischen Tradition verhaftet blieb, wie wenig die Krisis-Gruppe schließlich, ungeachtet allen triumphalistischen Pochens auf die eigene Originalität und Innovation, verstanden hat, warum die Präsenz der materialistischen Kritik der politischen Ökonomie im Marxschen Werk die Destruktion des theoretischen Bedürfnisses impliziert.