Initiative Sozialistisches Forum – Materialismus und Barbarei * Leseprobe aus: ISF, Das Konzept Materialismus

Materialismus und Barbarei

Initiative Sozialistisches Forum

“Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern”: Im Frühjahr 1845 hat Karl Marx mit seiner 11. These über Feuerbach ein Mißverständnis über den Materialismus in die Welt gesetzt, das die sozialrevolutionäre Linke seit nun 150 Jahren bis zur Bewußtlosigkeit nachbetet. Der marxsche Irrtum, der sich zum “Marxismus” und gar zum leibhaftigen “Marxismus-Leninismus” auswachsen sollte, diese Selbsttäuschung des Materialismus über seinen subversiven Auftrag besteht in der Vorstellung, Materialismus als theoretische Erkenntnisstrategie sei mit kritischem Kommunismus als praktischer Sozialkritik in ein Verhältnis von Theorie und Praxis zu setzen. In der Konsequenz verrieten die Marxisten die soziale Revolution und wurden Politiker.

Weil Marx die Kritik der Philosophie nicht zu ihrem authentischen Ende radikalisierte, sondern vielmehr eine neue Ursprungsphilosophie, die Philosophie der Arbeit, erfand, überlebte deren idealistische, repressive Perspektive: die Ableitung des Seins aus dem Begriff, in quasi-revolutionärer Gestalt. Philosophie als Reflexionsform der falschen Gesellschaft schleppte sich fort als die positive Lehre vom guten Wesen hinter den schlechten Erscheinungen, von der korrekten “Abbildung” des Seins durchs Bewußtsein. Sie empfahl sich als ebenso esoterisches wie praxistaugliches Wissen um die Odysseen der Arbeit im Labyrinth der Entfremdung. Sie machte Karriere als sozialistische Wissenschaft vom geheimen proletarischen Sinn des Kapitals und als revolutionäre Diktatur des produktiven Gattungswesens über die Individuen. So verfehlte die marxsche Kritik der Philosophie den Materialismus, indem sie das Problem der gesellschaftlichen Synthesis verdinglichte, kaum hatte sie es aufgeworfen. Die Vergleichung der Gebrauchswerte zu Waren und die der Individuen zu Subjekten, die totalitäre Aufplusterung des Werts zum “automatischen Subjekt” geriet in der Folge zum Scheinproblem, das kapitale Unwesen zur falschen Selbstdarstellung des Wesens. Die 6. These über Feuerbach dekretierte: “Das Wesen kann … nur als ‘Gattung‘, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.” Unter der Maske des Marxismus kam der Materialismus aufs falsche Gleis, war fortan mit der Verwirklichung der wahren Allgemeinheit befaßt statt mit der Destruktion der falschen. In dieser Verschiebung verkam die historische Alternative “Sozialismus oder Barbarei” zur Phrase.

Materialismus als Marxismus, als Theorie der Arbeit und Wissenschaft der Politik – das kam den Intellektuellen sehr zupaß, denn es gab ihrem berufsnotorischen Anspruch Futter, sich, wie imaginär auch immer, im Hirn des Souveräns zu plazieren. Daß der “späte Marx”, daß der Marx der “Kritik der politischen Ökonomie” an die Grenzen der Philosophie der Arbeit stieß, daß er das Kapital, den sich selbst verwertenden Wert, als Wesen von eigenen Gnaden zu begreifen suchte, daß er schließlich mit der Wertformanalyse die geistigen Mittel bereitlegte, das Wesen als Unwesen zu kritisieren – all dies blieb der Linken ein Buch mit sieben Siegeln, trotz aller im Gefolge von “68” unternommenen Bemühungen um die “Rekonstruktion des Kapital”. Gerade in ihrer Maskierung als sozialistische Theoretiker verwahrten sich die linksbürgerlichen Intellektuellen gegen die Zumutungen der materialistischen Kritik. Sie beharrten auf der Trennung der geistigen von der körperlichen Arbeit, ihrem Abonnement auf die Teilhabe an Herrschaft. Der in der Wertformanalyse aufbrechende Doppelcharakter des marxschen Kapital als “Bibel” (Friedrich Engels) und Ideologie der Arbeiterbewegung einerseits, als Kritik der Arbeit andrerseits, wurde in einer schon vegetativen Aversion gegen den “Negativismus” und die “elitäre Praxisverweigerung” der Kritischen Theorie abgewehrt. Mit dieser Strategie hielt man sich die Zumutung vom Leib, das marxistische Verhältnis von Theorie und Praxis in die materialistische Konstellation von Kritik und Krise aufzuheben. Die linken Intellektuellen diskutierten lieber über das Verhältnis von Parteilichkeit und Objektivität bei Marx, als die Konsequenz daraus zu ziehen, daß die Trennung von Gesinnung und Faktizität Ideologie pur und ein Grundsatz kapitalförmiger Erkenntnis ist. Der Rest war Lenin, Ökologie, Habermas. Unter den Alibis Arbeit, Natur, Kommunikation verdrängte man die Provokation, die der Begriff der Kritik ist: Erkenntnis, auf die man nicht pochen, Wahrheit, mit der man nichts anfangen, Theorie, die man nicht anwenden kann. Das dialektische Paradox, daß der Materialismus vor der Revolution wissenschaftlich unbeweisbar und daher hemmungslos polemisch, im Kommunismus dagegen nutzlos und überflüssig ist, ging den Akademikern über den Verstand. Sozialismus wurde ihnen zur Methode, den Marxismus nach den Regeln der Akademie zu beweisen.

Unterm Inkognito der Philosophie der Arbeit enthauptete sich der Materialismus, um als Evolutionstheorie wiederaufzuerstehen. Als Theorie par excellence gab er in seiner friedlich-schiedlichen (sozialdemokratischen) wie in seiner aktivistisch-jakobinistischen (parteikommunistischen) Auslegung vor, den Übergang zum Kommunismus theoretisch schon in der Tasche zu haben. Die Revolution galt als “das Einfache, das schwer zu machen ist” (Brecht) und als Problem der Anwendung des Gesetzes auf die Gesellschaft. So konnte die Politik der theoriepraktischen Widerspiegelung der Selbstentfremdung der Arbeit nicht anders, als den Nationalsozialismus mit der Parole “Nach Hitler wir!” entweder attentistisch auszusitzen oder voluntaristisch zu verleugnen. Das war ihre Marx-Orthodoxie, ihre Treue zu dem Glauben noch des Marx des Kapital, “daß Produktion um der Produktion halber nichts heißt als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck”. Noch das perfideste Mittel hatte dem einen Zweck dienstbar zu sein, noch der Nazismus mußte, wenn auch in barbarischer Karikatur, den Fortschritt zum Kommunismus bezeugen.

Am Nationalsozialismus konnte der Marxismus nur Bankrott gehen. An der Barbarei offenbarte sich der kritisch gemeinte Röntgenblick durchs Kapital hindurch auf die Arbeit als haltlose Halluzination von Geistersehern. Am Massenmord schließlich denunzierte sich die unbedingte Entschlossenheit zur Transparenz als Ideologieproduktion und Sinngebung des Sinnlosen. Im marxistischen Generalplan der Geschichte war die negative Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, mit der die Nazis bis in die “Endlösung” hinein ernst machten, nicht vorgesehen; mit den Mitteln der Philosophie der Arbeit konnte die negative Aufhebung der Klassen zur Volksgemeinschaft nicht gedacht werden. Zwar gelang es avancierten, wenngleich hoffnungslos minoritären Theoretikern wie Heinrich Brandler und August Thalheimer, wie Leo Trotzki oder Alfred Sohn-Rethel, den “take off” der Naziherrschaft in Analogie zur marxschen Analyse des Bonapartismus zu entschlüsseln, indem sie die Dynamik des Ausnahmezustands und der Souveränität verfolgten. Aber obwohl sie die politische Entmachtung der Bourgeoisie im Interesse der Reproduktion des Kapitals erkannten, entging ihnen die im gleichen Zug vollzogene Enteignung der Arbeiterbewegung im Interesse der Reproduktion der Arbeit. Auch sie interpretierten – im Verein mit der Orthodoxie – die Volksgemeinschaft als Fassade und Manipulation. Der überschreitenden Aufhebung des Klassenkampfs und seiner Transformation in die vom Staat präsentierte volksgemeinschaftliche Einheit von Kapital und Arbeit konnte der Marxismus nicht nachdenken, geschweige denn ihr widerstehen. Je rasanter der Nationalsozialismus seiner Vollendung sich näherte, desto mehr verschlug es dem Marxismus die Sprache. Ob orthodox oder häretisch – die Nazis widerlegten ihn in allen seinen Spielarten.

Die marxistische Theorie des Antisemitismus war die Generalprobe zur bedingungslosen Kapitulation, die Politik der Arbeiterbewegung ihre Vollstreckung. Und so schwer sich der präfaschistische Marxismus mit dem Antisemitismus auch tat, den er um jeden Preis als bewußtlosen, in die Zirkulation gebannten und daher “hilflosen” Antikapitalismus verstehen wollte – noch schwerer tat er sich nach Auschwitz mit der Vernichtung der Juden um der Vernichtung willen. Nicht nur Rudi Dutschke sprach von der “Umlenkung der im Faschismus ursprünglich enthaltenen antikapitalistischen Impulse durch den Antisemitismus”, nicht nur Reinhard Kühnl versuchte sich darin, einen “linken Nationalsozialismus” zu erfinden – die marxistische Theorie starrte, wo sie das Thema überhaupt sich zumutete, so gebannt auf das Rätsel des Verhältnisses von “Rationalität” und “Irrationalität” der Massenvernichtung, als wolle sie Kapital und Staat wenigstens im Nachhinein darauf verpflichten, im Interesse ihrer Selbsterhaltung zwischen legitimen und illegitimen Mitteln zu unterscheiden. Auch die theoretischen Konstruktionen der zur “Zivilgesellschaft” übergelaufenen Intellektuellen in Sachen “Singularität”, “Vergleichbarkeit” und “Unverstehbarkeit” der Vernichtung führten keinen Schritt weiter. Indem sie die Geschichte nach dem Zweck-Mittel-Kalkül zurechtstutzten und dem Kapital damit eine Rechnung unterschoben, die dieses seiner Logik gemäß außer Kurs setzt, befriedigten sie in einem Aufwasch ihr Bedürfnis nach Transparenz und das herrschaftliche nach Ideologie. Der Versuch, den Nationalsozialismus nach Begriffen sei es bürgerlicher, sei es arbeitsphilosophischer Rationalität sich verständlich zu machen, kann anders nicht ausgehen, weil das Dritte der Vermittlung, das sich selbst als Mittel zum eigenen Zweck setzende Kapital, nicht vorkommen darf. Die marxistische Faschismustheorie war Rationalisierung. Erst recht in ihrer zivilgesellschaftlichen Verfallsform unternimmt sie den aussichtslosen Versuch, das in die Geschichte getretene Ende der Geschichte aus der bürgerlichen Gesellschaft zu operieren. Wie das ideologische Bedürfnis nach Sinn in seiner marxistischen Gestalt die Barbarei auf den Widerspruch von Kapital und Arbeit reduzierte, so gibt es den Faschismus in seiner neubürgerlichen Form als Ausdruck des Gegensatzes von Modernität und Tradition aus. Es ist, als dürfe nichts unversucht bleiben, um das Diktum Max Horkheimers: “Heute gegen den Faschismus auf die liberalistische Denkart des 19. Jahrhunderts sich zu berufen, heißt an die Instanz appellieren, durch die er gesiegt hat” rückstandslos zu verdrängen. Faschismustheorie ist zur Methode geworden, den wieder demokratisch sich präsentierenden, postfaschistischen Staat heilig zu sprechen. Konsequent setzt die Theorie ihren ganzen Elan darein, sich die Gedanken zu machen, die sich das Gesamtkapital wahrscheinlich gemacht hätte, wenn es denn jemals hätte denken Können.

Der Marxismus konnte über “Auschwitz” nur mehr oder weniger lautstark schweigen und die “Ökonomie der Endlösung” nachrechnen. Je unheimlicher jedoch den sozialistischen Theoretikern von einst inmitten ihrer Entpuppung und Selbstentlarvung als linksbürgerliche Intellektuelle die Sinn- und Zwecklosigkeit der Vernichtung zu Kopfe stieg, desto energischer bequemten sie der einst verpönten Totalitarismustheorie sich an. In der Abwendung vom Marxismus liquidierten sie dessen materialistische Potenz gleich mit. Hatten sie früher schon das Ohrensausen bekommen, wenn die Rede nur von ferne auf den Hitler-Stalin-Pakt zu kommen schien, so sollte nun der Vergleich zwischen “rotem und braunem Faschismus”, den der Rätekommunist Otto Rühle vor der Wannsee-Konferenz gezogen hatte, nur noch in staatstragender Absicht zulässig sein. Jetzt setzten sie gewissenlos das Gleichheitszeichen zwischen Rot und Braun, zwischen GuLag und KZ, aber nur, um abermals der Kritik an Staat und Herrschaft auszuweichen. Mittelmäßige Vermittler, die sie schon immer waren, versumpften sie nun definitiv in der Mitte. Eine ganze Generation, die ihren akademischen Lehrern deren “hilflosen Antifaschismus” um die Ohren geschlagen und sie mit der Parole traktiert hatte, daß, wer nicht vom Kapitalismus sprechen mag, vom Faschismus zu schweigen hat, konvertierte zum geraden Gegenteil. War der Faschismus zuvor der Beweis für die Unheilbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft – jetzt rückte die Demokratie zur einzig erfolgversprechenden Therapie gegen die totalitäre Versuchung auf.

Was schon auf dem Terrain der Ökonomie als Unfähigkeit zur Kapitalkritik sich darstellte, das wiederholte sich auf dem Boden der Politik im Unwillen zur Staatskritik. Denn ganz egal, ob der Staat in seiner ihm marxistisch zugedachten Rolle als “geschäftsführender Ausschuß der herrschenden Klassen” oder ob er in seiner ihm demokratietheoretisch unterschobenen Funktion als Statthalter einer “Demokratie ohne Demokraten” figuriert – Staat muß sein. Noch sein Auftritt als Organisator des Faschismus wird zum Beweis seiner Notwendigkeit. War es auch Wahnsinn, so hatte es doch immerhin Methode. Wer derart Sinn macht, wer sich die Geschichte als Kleingeld in die Tasche steckt, der darf mit Recht als kleiner Weltgeist zu Pferde sich fühlen. Der allerdings gehört abgesattelt und aufs Gnadenbrot gesetzt: Nichts anderes lehrt, wenn sie denn selbst nur irgend etwas aus der Geschichte gelernt hat, die materialistische Theorie der Barbarei.

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