Fabian Kettner – “Wenn ich verzweifelt bin, was geht‘s mich an? ” * Leseprobe aus: Kettner, Mentz (Hg.), Theorie als Kritik
“Wenn ich verzweifelt bin, was geht‘s mich an? ”
Über Theorie und Praxis
Fabian Kettner
Mut? Davon weiß ich nichts. Der ist für mein Tun kaum erforderlich. Und Trost? Den benötige ich nicht. Und Hoffnung? Da kann ich nur antworten: Kenne ich prinzipiell nicht.
Günther Anders [ 1 ]
Das Problem ist bekannt: Theorie und Praxis sind auseinander. Gäbe es das Problem nicht, müßte man nicht darüber streiten, in welchem “Verhältnis” die beiden zueinander stehen, und nicht darüber beraten, wie die beiden miteinander “vermittelt” werden können. Auf beiden Seiten ist man ratlos: Was soll man tun? Man hat eine Theorie, man möchte was verändern – aber man weiß nicht, was man tun soll.
Theorie, das sei das, was der Kopf macht. Der Kopf denkt, er leistet Kopfarbeit. Man sitzt zu Hause, liest Bücher; macht sich schlau, nimmt Informationen auf; eignet sich vielleicht auch eine Denkweise an, eine Methode.
Die Theorie erkennt das Bestehende und kritisiert es. Weiß sie darüber hinaus um ein Besseres? Schließlich heißt es, der Theoretiker erkenne das schlechte Bestehende und entwerfe ein besseres Kommendes oder zeige zumindest den Weg dahin. Theorie heißt hier: sich Strategien oder bessere Zustände ausdenken.
Praxis ist das, was der Körper macht. Zwar geschieht dies natürlich nie ohne den Kopf, aber wenn man praktisch wird, dann lasse man das Denken Denken sein und höre auf mit dem Überlegen, mit dem Analysieren und dem Ordnen, mit dem Reden und dem Erörtern, sei‘s zur Eigenverständigung, sei‘s zur Überzeugung anderer. Praxis ist, wenn man “was tut”, also körperliche Arbeit. Praxis führt das aus, was der Kopf gedacht und erkannt hat. Sie kommt dann zum Tragen, wenn “der Unterdrückte”, so erklären es gestandene Praktiker wie die ehemalige terroristische Vereinigung Revolutionäre Zellen (RZ), “Widerstand leistet – und zwar nicht nur mit dem Maul.” [ 2 ] Sie will das Bestehende verändern, will die Realität “umbauen”, nicht lediglich durchdenken und kritisieren.
Der Praktiker kritisiert den Theoretiker. Er sei “faul”, “ängstlich”: da wird “immer nur geredet und gewartet: daß andere das Richtige tun.” [ 3 ] Sein Handeln ist “abgehoben” und “inkonsequent”, denn er weiß doch alles, tut aber nichts zur Veränderung. Er weiß, wie schlimm alles ist, lehnt sich aber zurück und will sich weiter besinnen, gar noch die Praxis kritisieren, während das Elend andauert. Indem er sich so verhält, indem er sich von der Praxis abwendet, zu der es ihn doch hintreibt oder hintreiben muß, trägt er zum Fortbestehen des Elends mit bei. [ 4 ]
Der Praktiker hingegen möchte – nein: er fordert sogar – das, was er bereits erreicht habe: die sagenhafte “Einheit von Theorie und Praxis”. Und dies bedeutet, daß die revolutionäre Haltung einer kritisierenden Theorie (= im Kopf gegen das System sein) auch in revolutionären Taten geübt werden solle. Theoretisches Treiben sei “Hirnwichserei”. [ 5 ] Oder, wie der erfahrene Praktiker Klaus Viehmann (Bewegung 2. Juni, antiimperialistische Linke, Triple Oppression-Theoretiker) es verächtlich formuliert: “auf der Glatze irgendwelcher Abstraktionen oder Megatheorien Locken drehen”, [ 6 ] also realitätsfernes, sinn- und gegenstandsloses Tun. Mao Tse-Tung wußte: Theorie ist von Bedeutung, “weil” sie “Anleitung zum Handeln” sei. Und Theorie, so Mao weiter, die nicht in Praxis umgesetzt wird, werde “bedeutungslos”. [ 7 ] Und diesen Satz kennt jeder in vielen Sprachen und in mannigfacher Abwandlung, der durch Jugendsubkulturen und deren Musik sozialisiert wurde und auch mal auf die Texte gehört hat.
An dieser Stelle zeigt sich dreierlei:
Erstens, was unter Theorie verstanden wird: nämlich sich bewußt machen, was für “Schweinereien” in der Welt passieren; also Informiertsein, wie im Grunde alle, nur eben anders und besser, sei‘s weil man sich der “richtigen” Medien bedient, sei‘s weil man die “richtige Einstellung” hat. Dieses Verständnis von Theorie bezeichnete Marx als “die Schwäche einer Art von Kritik, welche die Gegenwart zu be- und verurteilen, aber nicht zu begreifen weiß.” [ 8 ] Wenn dies alles ist: Erkennen des Bestehenden, Abbilden des Offensichtlichen, Wahrnehmen des Elends, das auf der Straße liegt, damit dieses Bild Anlaß zur Empörung und zum Handeln ist; – wenn Theorie also nicht mehr ist als Registrieren, wozu braucht man dann “Theorie”? Ein paar Augen, ein Hirn und ein sie verknüpfender Reiz-Reaktions-Mechanismus genügten, um erwünschtes Verhalten hervorzurufen. Weil unter Theorie immer nur dies verstanden wurde, stellte sich den Antreibern einer politischen Bewegung das Verhältnis von Theorie und Praxis stets in der Form der Agitation: wie bringe ich meine Inhalte an den Menschen, und welcher – werbewirksamen – Mittel kann ich mich dabei bedienen, um dies möglichst effektiv zu erreichen?
Zweitens soll Theorie eine Anleitung sein, ein Vorspiel zur Praxis, nicht mehr. Theorie sei auf Praxis ausgerichtet: nicht mit ihr identisch, aber insofern deckungsgleich, als sie von dieser gänzlich umfaßt und erst zur Wahrheit gebracht werde. Auch wenn man zugesteht, daß Theorie als Kritik “einen wertvollen Beitrag leisten” könne, indem sie beispielsweise auf eine verkürzte Kapitalismuskritik hinweist, so habe sie dabei aber konstruktiv zu sein und nicht nur einen “abstrakten Vorwurf” zu erheben. Sie habe “das Radikalisierungspotential […] auszuloten und in diesem Sinne an einer Weiterentwicklung von Bewegungspolitik mitzuwirken.” [ 9 ] Wer dies nicht unterschreibt, darf nicht mitmachen.
Drittens zeigt sich hier schon, worum es den Praktikern geht: um einen Persilschein. “Aber man muß doch irgendwas tun!”, heißt es immer wieder. Ja, natürlich! – Aber was? Egal, genug Ziele gibt es ja, Hauptsache, man trägt sein Scherflein bei, und sei es nur die eingeworfene Scheibe des Ortsverbandes einer Partei oder die der zwei Schalter starken Filiale eines Kreditinstituts im Vorort. Der anherrschende Satz ist Ausdruck eines Gewissensnotstands, eines inneren Konflikts, eines Gewissenszwangs.
Wenn die Rote Armee Fraktion (RAF) 1971 im ›Konzept Stadtguerilla‹ schrieb, daß die Nicht-Praktiker durch die Taten der RAF “in einen unerträglichen Rechtfertigungsdruck” gerieten, [ 10 ] dann hatte sie damit recht; denn die Theoretiker, auf die sie sich bezog, waren vom gleichen Schlage wie sie selber, also miserable Theoretiker, nur wirklich feiger oder bequemer. Die peinliche Frage: “und was tust du, Genosse?”, die will sich der Praktiker nicht mehr stellen lassen müssen. Er habe aus “Einsichten, Erfahrungen und bewußt erlebten Veränderungen beg[o]nnen, Konsequenzen für‘s Verhalten, für‘s Handeln” zu ziehen, [ 11 ] und nun habe er endlich das, worum Deutsche sich immer bemüht haben: Identität. “Politische Identität”, so definierte die RAF gleich zu Beginn ihres ersten Manifests, das sei “die permanente Integration von individuellem Charakter und politischer Motivation.” [ 12 ] Was das denn ist und wie das geht, das brauchte nicht erklärt zu werden. Deswegen beteten die RZ es einfach nach: beim Guerillero seien “Persönlichkeit, Gedanken, Gefühle und Handlungen deckungsgleich”, er arbeite daran, “identisch zu werden”. [ 13 ] Stadtguerilla bedeute “sich völlig identifizieren mit dieser Art Dasein [als Guerillero], heißt völlige Deckungsgleichheit zwischen Leben und Politik.” [ 14 ] Offenbar hat damals jeder gewußt, was damit gemeint war. Erklärt werden kann es nicht, denn es ist wenig mehr als Beschwörung: von Wohlfühlen, von “echt” oder “authentisch Sein”, von Widerspruchslosigkeit. [ 15 ] Das Problem beim Vorhaben der “politischen Identität” besteht darin, daß es weniger um verändernde Praxis geht als um einen selbst. Die Sorge um die Realisierung der “politischen Identität” ist ein narzißtisches Um-sich-selbst-Kreisen. Aber es geht auch um mehr als um das eigene Bedürfnis, nämlich darum, die Zerrissenheit aufzuheben, die eigenen Ideale mit den alltäglichen Zwängen nicht vereinbaren zu können.
Indem beispielsweise der Veganer darüber wacht, was in und an seinen Körper gelangt, reguliert er unmittelbar sinnfällig seine eigene Identität. Aber seine egozentrische Sorge um sich dient nicht nur ihm. Seine Existenz wird zum Demonstrationsort einer vorweggenommenen gesellschaftlichen Veränderung. Er handelt so, weil er dasselbe Problem wie der linksradikale Revolutionär hat. Beide behaupten, sich für eine Allgemeinheit einzusetzen, ohne daß ihnen ein relevanter Teil dieser Allgemeinheit folgte oder wenigstens Gehör schenkte. Wer sich keine Projektionsfläche für die eigenen Wünsche (sei‘s in Form der Arbeiterklasse, sei‘s der “Massen”, sei‘s der Bewegung) wählen mag, weil er diese Illusion vielleicht schon aufgegeben hat, der kann sich immerhin noch auf sich selbst zurückziehen. Der Revolutionär kann so die verloren geglaubte Möglichkeit der Revolution an sich selbst demonstrieren. Die Existenz des Kämpfers wird zur Materiatur der Glaubwürdigkeit seines Einsatzes. Deswegen ging auch nach der Inhaftierung der RAF-Mitglieder der Kampf angeblich “weiter”. Das Bild des Kämpfers wird zur Ikone, sein Körper, nach seinem Ableben, zur Reliquie. [ 16 ]
Dieses Elend ist aus der Logik von “politischer Identität” entwickelbar. Denn sie bedeutet immer eine “Reduktion der moralischen Forderung auf nichts anderes als auf das bloße Man-selbst-Sein”, wodurch “jeder bestimmte Inhalt, wie man zu sein habe, zu verschwinden” beginnt.” [ 17 ] Es geht nur um die reine Form, vor allem Inhalt. Aus dieser Haltung heraus, mit dieser Entschlossenheit folgte man traumwandlerisch dem Existenzialismus Heideggers denn auch tatsächlich bis zum “Sein zum Tode”. [ 18 ] Es ist so, daß, “nur wer gewissermaßen sich rein erhält, […] Haß, Nerven, Freiheit und Beweglichkeit genug [hat], der Welt zu widerstehen.” Aber andererseits läßt er “gerade vermöge der Illusion der Reinheit […] die Welt nicht draußen bloß, sondern noch im Innersten seiner Gedanken triumphieren.” [ 19 ] Man fügt sich im Widerstand eine Verhärtung zu und fordert sie dann auch von anderen, die die Welt in anderer Form an einem auch vollzogen hätte. [ 20 ] Aus dieser problematischen Konstitution der “politischen Identität” rührt die Empfindlichkeit der Praktiker gegen Kritik. Sie müssen die eigene inhaltliche Schwäche verbergen, und v.a. müssen sie die eigene Person schützen, die sie so tief und dicht mit diesem Konzept von Praxis verwoben haben. Adorno hielt “eine gewisse Vorsicht” “gegenüber Menschen, die sogenannten reinen Willens sind”, für ratsam, weil dieser reine Wille “fast stets verschwistert ist mit der Bereitschaft zur Denunziation, mit dem Bedürfnis, andere zu bestrafen und zu verfolgen.” [ 21 ] Den Rigorismus, den man an sich selbst exerziert, läßt man auch an anderen aus. Was man sich selbst antat, davon sollen auch andere nicht verschont bleiben. Die Schwäche der eigenen Konzeption soll verschwinden, indem man die Welt ihr gleichmacht.
Die Ausweglosigkeit des Sich-verweigern-Wollens, das aber nie gelingt, hat Adorno in zwei aufeinanderfolgenden Aphorismen der ›Minima Moralia‹ – von denen keiner für sich alleine genommen werden darf – dargestellt. In Aphorismus Nr. 5 (›Herr Doktor, das ist schön von Euch‹) beschreibt er den Drang zur totalen Verweigerung angesichts des vollendeten Grauens, welches das gesamte Leben durchdringt. Die zunächst anempfohlene Konsequenz ist der Rückzug in die Einsamkeit. Aphorismus Nr. 6 (›Antithese‹) aber beginnt gleich mit einer Warnung vor den Implikationen und Konsequenzen eines solchen Rückzugs. Der sich Verweigernde könnte sich für besser halten und seine Kritik als Legitimation für sein eigenes Dasein benutzen. Das richtige Leben wird dadurch aber nicht erreichbar. Möglich ist nur Einsicht in die Verstrickung, nicht die Befreiung daraus aus individuellem Entschluß. Auch der Kulturkritiker ist Teil der Kultur, ebenso wie seine Kritik. [ 22 ] Dies gilt sowohl für seine Kritik als Produkt, die als Ware auf den Meinungsmarkt geworfen wird, wie für das Bedürfnis, die Reaktionsbildung des Kritikers. Man muß am Bestehenden ausreichend teilgenommen haben, um es verabscheuen zu können. “Die Absage ans herrschende Unwesen der Kultur setzt voraus, daß man an diesem selber genug teilhat, um es gleichsam in den eigenen Fingern zucken zu fühlen, daß man aber zugleich aus dieser Teilhabe Kräfte zog, sie zu kündigen.” [ 23 ] Es gibt kein “absolut richtiges Bewußtsein als aufklärerisch-revolutionärer Widerpart des herrschenden falschen Bewußtseins.” [ 24 ] Daraus folgt zum einen, als Maxime für das alltägliche Verhalten, sich selbst zu mißtrauen. Zum anderen ist durch die und mit der Kritik die Möglichkeit zur Transzendierung geschaffen. Auch diese erwächst aus dem bestehenden Schlechten. Hieraus folgt aber nicht, daß man sich besser fügen solle, daß es unmöglich wäre, sich zu lösen. Ein “Außerhalb”, welches als Grundlage für eine Überwindung die notwendige Voraussetzung sei, ist nicht zwingend. [ 25 ]
II.
Der subjektivistische Lösungsversuch des Verhältnisses von Theorie und Praxis ist also zu kritisieren. Auch wenn er gegenüber der Tradition, dem orthodoxen Marxismus, einen Fortschritt bedeutet, so ist er selbst zugleich deren Verfallsprodukt.
Bei Marx, im ›Elend der Philosophie‹ (1847), heißt es: “Wie die Ökonomen die wissenschaftlichen Vertreter der Bourgeoisklasse sind, so sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats.” Anfangs, d.h. solange das Proletariat selber noch unterentwickelt ist, seien sie noch “Utopisten”. “Aber in dem Maße, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen.” [ 26 ] Die Theoretiker artikulieren also das, was sich vor ihren Augen abspielt und müssen nichts oder nur wenig hinzufügen. Aus diesem frühen Text Marxens spricht noch die Zuversicht der naturwüchsig vernünftigen Rolle des Proletariats im Gang der Geschichte. [ 27 ] Im Marxismus und im Parteikommunismus wurde das später noch weitaus simpler und roher aufgefaßt, indem man auf die vernünftige und zielgerichtete Entwicklung der Geschichte hin zum Sozialismus vertraute. Wegen des Vorrangs der objektiven Tendenz dürfe das Individuum nur im Einklang mit den Direktiven der Partei und nur als Vollzugsorgan historischer Tendenzen handeln. Auch hier trat der Marxismus das bürgerliche Erbe an. Denn üblicherweise wird politisches Handeln aus einer hehren ethischen Verantwortung abgeleitet, seine Legitimation findet es darin, daß es ein Handeln für andere, für alle sei. Die Abstraktion von den eigenen Bedürfnissen und Interessen, die Uneigennützigkeit bis hin zur Selbstlosigkeit diente als Ausweis der Berechtigung zum revolutionären Handeln. Der Praktiker, der Intellektuelle, die leninistische Partei, sie alle sollten als Stellvertreter handeln. Und hierin liegt tatsächlich ein Wahrheitsmoment der postmodernen Kritik am Intellektuellen als Stellvertreter. [ 28 ] Und ebenso liegt ein Wahrheitsmoment im Subjektivismus der Anarchisten und der Autonomen. Wiewohl die linksradikale Praxis eine zum Teil berechtigte Kritik am Marxismus formuliert, bleibt sie selbst dessen Verfallsprodukt:
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Der Subjektivismus beschwört die Mächtigkeit und Bewußtheit des autonomen Individuums gerade dann, wenn eben dieses Individuum zunehmend ohnmächtig wird. [ 29 ]
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Beide ähneln einander: der Marxismus wartet auf den richtigen Zeitpunkt, den er “tiktaktisch auskalkuliert hat”, [ 30 ] und daher genau weiß, wann der Sozialismus kommen soll, während der Linksradikale darauf wartet, den richtigen Hebel zu finden, um eine Bewegung anzuwerfen oder in die richtige Richtung lenken zu können.
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Der äußere Zwang der Geschichte, den der Marxist glaubte, erspüren zu müssen, hat sich beim Linksradikalen in den Gewissenszwang transformiert.
Obwohl sie die gegenwärtige Schwäche des Individuums gewahrte, widersprach auch die Kritische Theorie hinsichtlich der Möglichkeit zur Revolution dem Marxismus. “In der Gegenwart”, so Max Horkheimer im Jahre 1940, “verklärt die Rede von der mangelnden Reife das Einverständnis mit dem Schlechten. Für den Revolutionär ist die Welt schon immer reif gewesen. Was im Rückblick als Vorstufe, als unreife Verhältnisse erscheint, galt ihm einmal als letzte Chance der Veränderung. Er ist mit den Verzweifelten, die ein Urteil zum Richtplatz schickt, nicht mit denen, die Zeit haben.” [ 31 ] Die Revolution ist nicht dafür da, den Lauf der Geschichte zu vollenden, den Gesetzen der Geschichte zu dienen, sondern für die Bedürfnisse der Menschen. “Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum”, so Wolfgang Pohrt, “heißt Revolution machen wollen keineswegs primär, Mitgefühl für die Ausgebeuteten zu entwickeln und den Entschluß zu fassen, deren Lage zu bessern. Revolution machen wollen heißt vielmehr, einen großen Ausbruch zu planen – den Ausbruch aus einem Zeitabschnitt, von dem man meint, daß man darin nicht mehr die Luft fände. Um die Details wie Wohnung, Entlohnung, Ernährung, die durch allmähliche Reformen zu verbessern wären, geht es nicht. Man will ans Fenster stürzen, um es aufzureißen, und zwar mit einem Ruck.” [ 32 ]
Die vielzitierte, von Herbert Marcuse beschriebene “Weigerung mitzumachen und mitzuspielen, der Ekel vor aller Prosperität, der Zwang zu protestieren”, [ 33 ] ist unabdingbar. Gleichwohl ist es problematisch, sich auf das unmittelbare Unbehagen zu berufen. John Holloway beispielsweise, ein Bewegungstheoretiker der Gegenwart, baut auf den “Schrei”, [ 34 ] ein undeutliches Spüren, die Wut, die zum Gedanken treibe. Diese Wut sei aber immer schon mehr als nur individuell unmittelbar, denn sie richte “sich nicht nur gegen einzelne Geschehnisse, sondern gegen ein allgemeines Unrecht.” [ 35 ] Er beschwört eine Unmittelbarkeit, etwas, das zwar noch unterentwickelt, aber als ein Mehr bereits ganz sicher vorhanden sei. Das einfache “Nein” allerdings reicht nicht. Es muß mehr sein; es muß aus einer guten Begründung ertönen, nicht ursprünglich aus einer guten Begründung hervorgehen, man muß ihm aber eine solche verschaffen (können). Das bloße “Nein”, auf das Holloway sich beruft, umfaßt und besagt allein alles und nichts. [ 36 ]
Im Gegensatz zu Bewegungstheoretikern, wie Holloway einer ist, sind Bewegungskritiker bei Praktikern und Bewegungslinken unbeliebt. Nicht nur sei das, was sie sagen, abgehoben, abstrakt und unverständlich, sondern auch “arrogant” und “besserwisserisch”. [ 37 ] Ist man bei einem Bewegungstheoretiker also besser aufgehoben, nur weil dieser den Praktikern gegenüber aufgeschlossener, freundlicher und nachsichtiger auftritt? Ein Bewegungstheoretiker bemüht sich, eine Bewegung zu verstehen, sie zu analysieren, ihr ein Bewußtsein und eine Richtung zu geben und sie theoretisch zusammenzufassen. Er nähert sich ihr ähnlich und mit vergleichbarer Betulichkeit wie ein Pädagoge oder ein Sozialarbeiter – nur eben in revolutionärer Absicht. Der Bewegungstheoretiker betreibt eine Form von Theoriebildung, die man als “Revolutionsontologie” bezeichnen kann: er weiß zum einen immer schon ganz sicher, daß eine unentwickelte Protestform auf bestimmte nachfolgende weiterentwickelte Protestformen hinweise, und zum anderen, daß eine einzelne Protestform in einem größeren, gar weltweiten Zusammenhang stehe. [ 38 ] Gerade das Verständnis des Bewegungstheoretikers ist Herablassung; er nimmt sein Objekt gar nicht ernst:
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Er spricht ihm mehr politisches Bewußtsein zu, als sich tatsächlich nachweisen läßt.
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Er nimmt sie vor der Form der Kritik in Schutz. Oftmals wird dem Inhalt der Kritik gar nicht widersprochen, er empfiehlt statt dessen nur bessere didaktische, pädagogische Umgangsformen.
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Er behandelt die Objekte seiner Theoretisierungsleistung als bewußtlose Gestalten, die unfähig sind, das zu meinen, was sie tun.
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Er entschuldigt reaktionäre Momente und Strömungen in der Bewegung. [ 39 ]
III.
So viel und so wenig ist richtig an Bewegungstheorie: ohne das Bedürfnis nach Kritik gibt es keine Kritik, ohne das Bedürfnis nach Veränderung gibt es keine Veränderung. Dies ist gerichtet gegen:
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die Theorie, die sich für “reine Theorie” hält;
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den Marxismus, der seine politische Praxis auf eine angeblich objektive Determination hin justiert;
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die Praktiker, die der Theorie “Abstraktheit” und “Abgehobenheit” vorwerfen.
Denken und Fühlen, Theorie und Bedürfnis können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Zum einen müssen sie sich gegenseitig durchdringen. “Nichts alberner als zu glauben”, so Günther Anders, “daß, wer genau denken könne, nicht fühlen könne, und daß Denken nicht leidenschaftlich sei. Das glauben allein Sentimentale. Umgekehrt muß unser Fühlen genau so genau sein wie unser Denken. Und unser Denken genau so passioniert wie unser Fühlen. Das weiß nur der nicht, der weder fühlen noch denken kann. […] Nicht nur gilt, daß, wer nicht genau denken kann, auch nicht genau fühlen könne, sondern auch umgekehrt, daß, wer nicht genau fühlen kann, auch nicht genau denken könne. Wer die zwei als antipodische Tätigkeiten oder Zustände hinstellt oder, sich auf sein Fühlen berufend, das Denken verächtlich macht, der weiß ebensowenig, was Fühlen ist, wie was Denken ist; der kann weder das eine noch das andere.” [ 40 ] Denken hat immer eine Basis im Trieb, und auch das Gefühl hat man nie unmittelbar. Erst wenn es durchs Denken hindurchgegangen ist, hat man das Gefühl entwickelt. Damit das Gefühl Gefühl sein kann, bedarf es seiner näheren Bestimmung und Entfaltung durchs Denken. Umgekehrt hat die Beschäftigung mit Theorie eine leibliche, materi elle Dimension: “die zu Hilfe eilende Gehirnfreude des Wissens” [ 41 ] gibt Glück und ist – wenn auch nicht jedem – eine notwendige Lebensäußerung. Auf die sich selbst gestellte Frage, ob es notwendig sei, daß geschrieben wird, was er schreibt, antwortete der Wiener Theater- und Literaturkritiker Alfred Polgar: “Nein, ich glaube nicht, daß meine Arbeit notwendig ist; dennoch muß ich sie tun. Sie ist meine Reflexbewegung des Widerstands gegen das Bedrängende, Lächerliche, Unentwirrbar-Dunkle innerer und äußerer Welt, sie ist der natürliche Ausdruck meiner Freude am Geschenk des Daseins und meines Zweifels an dem Wert dieses Geschenks, sie ist ein so wesentlicher Teil von mir, daß ich mich selbst verneinen müßte, wollte ich sie verneinen. Dazu fehlt mir zwar nicht die Lust, aber die Kraft.” [ 42 ]
IV.
Theorie und Praxis sind getrennt: sie stehen sich feindlich gegenüber – Theorie und Praxis sind auseinander und sind es nicht.
Es gibt keine Praxis ohne Theorie; und dies ist auch bei der gescholtenen theoriefernen der Fall. Jede Praxis hat eine Theorie in sich. Jede Praxis geschieht aus einer bestimmen Motivation, der eine bestimmte Wahrnehmung, Erkenntnis oder Weltsicht zugrunde liegt, die blind sein mag und nur als sogenannter “gesunder Menschenverstand”, als Alltagsideologie zum Tragen kommt. Sie mag sie nicht wahrnehmen, aber sie handelt nach ihr, bewegt sich am (womöglich unbewußten) Gängelband einer Weltsicht, die man als Theoretiker und Kritiker extrapolieren und logisch weiterentwickeln kann, um ihre Prämissen und Konsequenzen zu entwickeln. – Dazu zwei Beispiele:
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Die Praxis der political correctness geht aus von der Diskurstheorie: gesellschaftliche Objektivität bestehe aus Diskursen, aus Gesagtem und denjenigen, die bestimmen, was wie gesagt wird. Deswegen sollen Veränderungen der Art und Weise, wie gesprochen wird, auch die Realität verändern können. [ 43 ]
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Die praktische Kapitalismuskritik der no globals, den Staat gegen “unkontrollierte Finanzmärkte” anzurufen, basiert auf einer Trennung und Entgegensetzung von Staat und Kapital. Ihre Konzentration auf die Kritik der Finanzmärkte wiederum basiert auf der Trennung und Entgegensetzung von Finanzkapital und Realkapital. In beiden Fällen reproduzieren sie die Oberflächenerscheinungen des Kapitalverhältnisses, das sich als ein solches Aus- und Gegeneinander darstellt. [ 44 ]
Aber es geht noch weiter: nicht nur reproduzieren mehr oder weniger bewußte Theorien den Schein, den die bürgerliche Gesellschaft selber wirft – die subversive Praxis kann obendrein auch die Fortführung dessen sein, was man bekämpfen möchte:
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Die Sozialdemokratie und die “Grünen” waren und sind eine “staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien”, “die lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub”, [ 45 ] das heißt sie sind dafür da, unter Umständen potentiell aufbegehrende Menschen zu binden und in Konformismus zu transformieren. Weil man unter Kapitalismus einen ungerechten Geld-, Güterverteilungs- und Partizipationsmodus verstand, kämpfte man für eine materielle, soziale und politische Besserstellung der Arbeiterklasse (und später der Frauen, Ausländer, Behinderten usf.) und machte aus dem strategischen Weg das Ziel. Diese Bemühungen, seine eigene Klientel zu einer gesellschaftlichen pressure group zu formieren und dann an die Fleischtöpfe zu führen, sind legitim, – aber man sollte zu anderen und sich selbst so ehrlich sein, daß es genau darum geht und nicht um die Überwindung des Kapitalverhältnisses.
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Subkulturen bilden sich ein, mit einem Lifestyle, einem bestimmten Outfit, bestimmten Konsumgewohnheiten usf. Protest auszudrücken. Tatsächlich führen sie der Kulturindustrie nur immer wieder neue Verwertungsmöglichkeiten zu. Sie nähren den Gegner und bekämpfen ihn nicht. Wenn ihr Handeln auch diese Konsequenzen hat, so begehen sie doch keinen “Verrat”. Eine Haltung, die zwar eine ungeheure Opposition ausdrücken soll, aber nie mehr sein konnte als ein gefühlsmäßiger Ausdruck für irgend etwas, über das man sich selber erst noch klarwerden müßte, wird von der Kulturindustrie nur praktisch zu ihrer Wahrheit gebracht.
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Die Ich-Techniken, die in den 1970ern und 80ern auf den westlichen Markt kamen und zuerst im Milieu der (ehemaligen) Protestbewegung aufgegriffen wurden (also alle möglichen Formen von, v.a. fernöstlichen, Religionen, von Sekten, Spiritualismus, Esoterik, autogenem Training, von Psychotherapien, schließlich von Ernährung und der sonstigen Sorge um den Körper), dienten dazu, die Individuen für einen Kapitalismus härterer Gangart, der zu mehr Flexibilität und höheren Arbeitsleistungen zwingt, fit zu machen. Weil man, in Abkehr von den “objektivistischen” Konzeptionen, davon ausging, daß die Veränderung im “Inneren” beginnt, im “Bewußtsein” und in der “Ich-Du-Beziehung”, mußte man erst sich selbst entdecken und seine Wirkung nach außen, mußte man zunächst sich selbst verändern und bearbeiten. Der Aufruf der RZ, “gleichzeitig und gleichgewichtig auch den Kampf gegen das kapitalistische System in uns zu führen”, wurde hier auf eine ganz eigene Weise aufgenommen. [ 46 ]
Sowenig es eine Praxis ohne Theorie gibt, so wenig gibt es eine Theorie ohne Praxis. In jeder Theorie steckt gesellschaftliche Praxis, steckt “gesellschaftliches Sein”. Theorie ist nicht “rein”. Auch im gänzlich “Abgehobenen” kann ein gesellschaftlicher Erfahrungsgehalt aufgespürt werden. Wer sich ganz auf eine dieser beiden Seiten wirft, der schreibt diese Trennung fort. Wer meint, eines sei vom anderen getrennt, der befriedigt die selbstgenügsame Ansicht der Praktiker über Theorie wie der Theoretiker die über Praxis. Theorielose oder theoriekritisierende Praktiker und praxislose oder praxiskritisierende Theoretiker stehen sich näher, als sie meinen.
Praxis als Aktionismus ist, genauso wie das Sich-Werfen auf Theorie, Ausdruck und Resultat von individueller Ohnmacht angesichts übermächtiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Es gibt allerdings einen Unterschied: während die Theorie dies wissen kann (und vor allem wissen sollte und muß), kann und darf die Praxis dies nicht wissen. Die Theorie kann dies in ihre Gedankenbewegung mit aufnehmen, da sie die Freiheit hat, sich selbst zu widersprechen. Die Praxis hingegen stellte sich so sehr in Frage, daß sie sich selber verunmöglichte. Die Praxis überspielt die Ohnmacht durch Ersatzhandlungen. Theorie ist der Ort, an dem diese Unfreiheit in einer freien Reflexionshandlung noch aufgenommen werden kann, sie ist damit der einzige noch verbleibende Ort der Freiheit wirkungsohnmächtiger Subjekte.
Die sogenannte praxislose Theorie stellt sich diesem Dilemma. Sie ist nicht “abgehoben”, sondern die Theorie des Status quo; sie ist die kritische Theorie eines gesellschaftlichen Prozesses, der sich blind weiterwälzt und zu welchem diejenigen, die ihn zu negieren meinen, beitragen. “Destruktion”, so Johannes Agnoli, ist die “Bestimmung des Gelehrten in dürftiger Zeit.” [ 47 ] Sie ist die kritische Theorie eines Zustands, in dem kein revolutionäres Subjekt in Sicht ist. Im Gegensatz zu den umstandslosen Praktikern weiß sie aber darum; und dies ist ihr einziger Vorsprung. Die Theorie soll die Praxis weiter kritisieren, aber sie soll sich darauf nicht zuviel einbilden, denn sie soll der Tatsache eingedenk bleiben, daß ihre Freiheit auf einem Mangel beruht: nicht Praxis zu sein und nicht sein zu können. Sie kann, ebenso wie das Konstrukt “theoretische Praxis”, dieser Zwitter eines Gestalt gewordene n schlechten Gewissens der Theoretiker, Praxis nicht ersetzen, nicht einmal antizipieren. Praxis ist das zur Theorie “Hinzutretende”. [ 48 ] Von Theorie führt kein gerader Weg zur Praxis, letztere ist aus ersterer nicht abzuleiten. Die Entscheidung zur Praxis ist ein Sprung, darin liegt das existenzialistische Moment materialistischer Kritik. [ 49 ]
Deswegen ist sie aber nicht einer rationalen Überprüfung entzogen. Theorie drängt es zur Praxis, denn sie möchte das, was sie als negativ erkannt hat, geändert wissen, zu einem besseren Zustand – aber nicht um jeden Preis. Praxis meint, schon einen Schritt weiter zu sein, weil sie schon im Prozeß der Bemühungen um Veränderung mittendrin sei. Das ist sie nicht. Sie ist mindestens einen Schritt davor, wenn sie noch nicht angefangen hat, auf sich selbst zu reflektieren, auf das, was sie tut, wenn sie handelt, und auf die Theorie, nach der sie handelt, womöglich ohne es zu wissen. Theorie als Kritik entschleunigt und bremst, indem sie auf Besinnung drängt, unter Umständen stoppt sie falsches Handeln. Kritik muß nicht “konstruktiv” sein. Wieso sie das sein müsse, das wäre erst zu begründen und nicht wie selbstverständlich vorauszusetzen. Ebensosehr müßte erst einmal begründet werden, wieso Kritik vom Zustand eines positiven Besseren auszugehen hätte. Für das, was man anstrebt, genügt die Formel “richtige Gesellschaft” oder “gute Gesellschaft”. [ 50 ] Das Andere, das damit gemeint ist, ist “nicht direkt formulierbar”, [ 51 ] es kann nur aufscheinen in der Kritik dessen, was nicht sein soll. [ 52 ] Vor einer konkreten Utopie ist zu warnen: “Die Kritik kann […] dem Falschen nicht ein Richtiges gegenüberstellen, eine schöne Utopie, nach deren Modell die befriedete Zukunftsgesellschaft vermittels eines revolutionären Akts zu verwirklichen wäre. Diese Utopie wäre reaktionär, weil sie von den vorfindlichen Produktionsbedingungen ausgehen müßte und sie, der historischen Entwicklung enthoben, als sozial ausgeglichenen Zustand zu verewigen hätte.” [ 53 ] Sie kann nur Aspekte des Bestehenden in die Zukunft verlängern und läuft indessen Gefahr, damit auch repressive Normen hinüber zu befördern. Der Mangel an Utopie ist kein Mangel, sondern Resultat einer bewußten Entscheidung um der Menschen willen: was der befreite Mensch sein wird, das kann man in einer unfreien Gesellschaft, wo man nur die Entstellungen kennt, noch nicht wissen. Solcher “Kanalisierung der Zukunft” [ 54 ] ist zu wehren. Utopien halten einfach das Gute der Gegenwart fest und streichen das Schlechte; beide Seiten gehören aber zusammen, die eine ist nicht ohne die andere zu haben. [ 55 ] Nicht zuletzt zeitigten die Versuche, ein vorab fixiertes Bild zu verwirklichen, abscheuliche Folgen. [ 56 ]
V.
Kann man abschließend sagen, was Theorie und Praxis zu sein hätten? Nach Adorno darf Theorie nicht solcherart von Praxis getrennt werden, daß Theorie ohnmächtig wird; daß Praxis willkürlich wird; daß Theorie den Primat praktischer Vernunft bricht. Praxis ist als nicht-regressive zu denken. Sie muß jenseits von Spontaneität und Organisation sich entfalten. Eine solche Form von Praxis kann nur theoretisch aufgefunden werden. [ 57 ] Was Theorie und Praxis jeweils für sich zu sein hätten und in welchem Verhältnis sie zueinander zu stehen hätten, das kann nur in solchen Konstellationen zum Ausdruck kommen. Kein Entwurf und keine Definition wird gegeben, nur Abstoßungspunkte. Ebenso in der Schwebe bleibt, was, im Anschluß an das obige Marx-Zitat [ 58 ] , “richtige Theorie” wäre, von Horkheimer auch “emphatische Theorie” genannt. [ 59 ] Zu fragen bleibt aber, wodurch sich eine “Erkenntnis [auszeichnet], die mehr sein will als entweder Feststellung oder Entwurf” [ 60 ] ? Was eine “Theorie, die mehr will als Nachkonstruktion” [ 61 ] , sein soll, das hat auch Adorno offengelassen. Man kann sich hier nur behutsam vorwärts tasten. In der “emphatischen Theorie” ist der “gewöhnlichen Theorie”, die nur eine bloße “Sammlung von Erklärungen” ist, noch ein anderes Moment zur Seite gestellt: sie sei “etwas, das die Welt verändern soll und aus diesem Willen geboren ist.” [ 62 ] “Theorie soll nicht sagen, was ist, sondern was sein soll.” Aber wieso sollte sie? “Es handelt sich darum, den richtigen Aspekt zu finden, unter dem das, was auf der Welt ist, in die Gestalt zusammenschießt, in der es gesehen werden soll. Man braucht den Stoff, aber man muß ihn sehen als das, was er ist, nämlich die Verkörperung des Infamen.” [ 63 ] Aber wieso muß man? Die “Sehnsucht nach dem Anderen” ist “das treibende Motiv für alles Nachdenken.” [ 64 ] Aber wie begründet man diese Sehnsucht? Wie erweist man ihre Berechtigung und wie bestimmt man ihre Richtung? Hier fangen die Probleme erst an: Wie kommt die Kritik in die Theorie? Oder ist die Frage falsch gestellt? Ist die Sehnsucht nach dem Anderen das treibende Motiv für alles Nachdenken, wie Horkheimer formuliert? Was für ein Nachdenken ist dann das Denken, in dem diese Sehnsucht nicht zu finden ist? Ist es kein Denken? Oder eine verkümmerte Form? [ 65 ]
Die Kritische Theorie erhebt den Anspruch, nicht eine beliebige Position in einem bloßen Machtkampf konkurrierender Interessen zu sein, dessen Sieger vorübergehend festlegen kann, was Wahrheit ist. Aber wodurch ist die Entscheidung für sie mehr als bloßer Dezisionismus? Adorno äußerte sich zu diesem Problem nicht mehr. Horkheimer kam in späteren Jahren immer wieder darauf zurück: “Ohne den Glauben an eine letzte Autorität werden alle moralischen Vorstellungen, selbst diejenigen der Atheisten, zu bloßen persönlichen Neigungen.” “Wenn es etwas Relatives gibt, dann muß es auch das Andere geben, das nicht relativ ist.” [ 66 ] Wer oder was aber ist die letzte Autorität? Was ist nicht relativ? Es fallen einem nur Antworten aus der Vergangenheit ein, die man schon längst verworfen hatte, die sich einem jetzt aber contre cœur wieder aufdrängen. Das Problem der Kritischen Theorie, so Horkheimer, “liegt in ihrem Ansatzpunkt: woher weiß ich, was das Richtige ist, sofern es mir nicht durch Gott gezeigt oder gar befohlen ist?” [ 67 ] Denn “ohne den Glauben hat der Begriff der Wahrheit keinen Sinn. Adorno geht so weit zu sagen, daß ohne einen Gott das Denken sinnlos ist.” Auf diese Herausforderung an die materialistische Kritik gibt es bislang keine Antwort. In diese Richtung wäre weiterzudenken, denn “bei diesen Überlegungen fängt das Denken an: Alles andere ist längst bekannt oder ohne Interesse.” [ 68 ]
[ 1 ] Anders, Wenn ich verzweifelt bin, 53.
[ 2 ] RZ: Revolutionärer Zorn. Nr. 3 (Mai 1977), in: Früchte des Zorns, 166 (im Orig. fett).
[ 3 ] RZ: Revolutionärer Zorn. Nr. 1 (Mai 1975), in: Früchte des Zorns, 87.
[ 4 ] Genau so übrigens hieß es in der angeblich intelligenteren Auseinandersetzung Hans-Jürgen Krahls mit seinem Lehrer Adorno. Vgl. Krahls Aufsätze ’Das Elend der kritischen Theorie eines kritisch en Theoretikers‘, ’Der politische Widerspruch der kritischen Theorie Adornos‘ und ’Kritische Theorie und Praxis‘; alle in: Krahl, Konstitution und Klassenkampf. Adorno setzt sich in ’Kritik‘, ’Resignation‘ (beide in AGS 10), ’Kritische Theorie und Protestbewegung‘ sowie in dem Gespräch ’Keine Angst vor dem Elfenbeinturm‘ (beide in AGS 20) mit diesen Vorwürfen auseinander.
[ 5 ] Merkwürdigerweise wurden solche Äußerungen meines Wissens nie von Feministinnen oder Männergruppen kritisiert. Denn was für eine merkwürdige, geradezu “männliche” Vorstellung von “richtiger”, “gesunder” Sexualität steht hinter dem Ausdruck “Hirnwichserei”: der Theoretiker hocke alleine zuhause und vergebe onanistisch sein (geistiges) Ejakulat, wohingegen der Praktiker, die Welt befruchtend und sie somit verändernd, mit Gleichgesinnten nach außen geht.
[ 6 ] Viehmann, Stadtguerilla und Klassenkampf, 76.
[ 7 ] Zit.n. RAF, Das Konzept Stadtguerilla, 31.
[ 8 ] Marx, Das Kapital, MEW 23, 528, Fn 328. Populäre Beispiele für eine solche Kritik sind die begeistert rezipierten Bücher von Viviane Forester (’Der Terror der Ökonomie‘) und Naomi Klein (’No Logo!‘).
[ 9 ] Brand/Habermann/Wissen, Vom Gebrauchswert radikaler Kritik, 45f. Deren Erörterungen zum “Gebrauchswert radikaler Kritik” bleiben schwammig und zeigen die Farblosigkeit einer Bestimmung von Kritik, wenn deren Rahmenbedingungen im vorhinein festgelegt werden sollen, anstatt daß Kritik an einem bestimmten Gegenstand sich bewähren kann.
[ 10 ] RAF, Das Konzept Stadtguerilla, 23.
[ 11 ] RZ: Revolutionärer Zorn. Nr. 1, in: Früchte des Zorns, 87.
[ 12 ] RAF: Das Konzept Stadtguerilla, 22.
[ 13 ] RZ: Interview aus “Holger, der Kampf geht weiter” (Mai 1975), in: Früchte des Zorns, 98.
[ 14 ] Ebd., 110.
[ 15 ] Einige gute Beiträge zu Sinn und Unsinn von der Rede von “Identität” sind Scharang, Das Geschwätz von der Identität, Schneider, Identität?, und Claussen, Jargon der Einigkeit. Zur Karriere, den dieser Begriff in der Linken und durch die Linke nahm, vgl. Bittermann, Wie die Identität unter die Deutschen kam.
[ 16 ] Dies erhellt dann auch das Verhältnis der Sympathisanten zu ihren Idolen: sie brauchen sie als stellvertretende Leidens- und Schmerzensmänner und -frauen. Vgl. hierzu Bruhn, Revolution des Willens und Randale und Revolution, Harnischmacher, Das Phantasma, und Pohrt, Die Freunde.
[ 17 ] Adorno, Probleme der Moralphilosophie, ANS IV/10, 240.
[ 18 ] Heidegger, Sein und Zeit, §§ 45-53 (Sein zum Tode) und §§ 54-60 (Entschlossenheit). Günther Anders kommentierte, das Selbst werde zum “Kloster” (Über Heidegger, 176f.). Hegel kritisierte schon früher, in der Rechtsphilosophie, den in diesem Verhalten drohenden “einsame[n] Gottesdienst seiner selbst” (§ 140).
[ 19 ] Adorno, Minima Moralia, AGS 4, 151 (Aph. 86).
[ 20 ] Christoph Türckes kürzlich annoncierte Vorschläge für “lauter kleine[…] alltägliche[…] Notwehrhandlungen” – Protest gegen “Hintergrundmusik im Restaurant”, “Kampf ums Radiohören am Arbeitsplatz”, “Abschreiben von Texten und Formeln” (Erregte Gesellschaft, 311) – illustrieren die Verarmung von Widerstand bis hin zur Verschrobenheit.
[ 21 ] Adorno, Probleme der Moralphilosophie, ANS IV/10, 242. Auch Hegel warnte vor der “reine[n] Innerlichkeit des Willens”, welche ebensosehr die Möglichkeit ist, “die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen, und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein” (Rechtsphilosophie, § 139). Vgl. zur Logik und Gefahr des Tugendterrors ebd. §§ 133-139 und Phänomenologie des Geistes, 385-394 und 415-442.
[ 22 ] Vgl. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, sowie Helms, Über die gesellschaftliche Funktion der Kritik.
[ 23 ] Adorno, Minima Moralia, AGS 4, 30f. (Aph. 8).
[ 24 ] Helms, Fetisch Revolution, 113.
[ 25 ] Stefan Breuer (’Krise der Revolutionstheorie‘) untersucht und kritisiert die Suche nach einem absoluten Grund (sei‘s in Gestalt einer Ontologie der Arbeit, der Arbeiterklasse als historisch verbrieftes revolutionäres Subjekt, der Bedürfnisse, der Ausgestoßenen oder einer Anthropologie) am Beispiel des Werks von Herbert Marcuse. Die in der Gegenwart an diversen linken Theorien geübte Kritik von Michael Hardt & Antonio Negri (Empire, 46, 59, 72, 198ff., 245, 361, 392, 419f.), immer wieder versucht zu haben, einen vom Kapitalverhältnis unversehrten, diesem entgegenstehenden oder von diesem nach außen gedrängten Standpunkt zu finden, trifft. Hardt & Negri öffnen sich damit aber dem postmodernen Weg, daß man zum einen nur mitmachen könne, hierüber aber zum anderen in den schon bestehenden Machtstrukturen Widerstand leisten könne. Was hier noch Widerstand heißt, wird offengelassen. Wie weit dieses gewitzt-resignierte Mitmachen geht, das bleibt jedem selbst überlassen. Zur Kritik von Hardt & Negri vgl. Kettner, “Empire”, und ders., Die Besessenen.
[ 26 ] Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 143.
[ 27 ] Zur Entwicklung der Marxschen Revolutionstheorie vgl. König, Geist und Revolution, Drittes Kapitel, und Sieferle, Die Revolution.
[ 28 ] Vgl. beispielsweise Deleuze/Foucault, Die Intellektuellen, v.a. 88-91.
[ 29 ] Zum Verschwinden des Individuums vgl. Kapitel 4 in Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, GS 6, 136-164, Kapitel III in Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse, in Adorno, Minima Moralia die Aphorismen No. 88, No. 97, No. 99 und No. 147, sowie Adorno, Glosse über Persönlichkeit.
[ 30 ] Kraus, Hüben und Drüben, 169.
[ 31 ] Horkheimer, Autoritärer Staat, GS 5, 305.
[ 32 ] Pohrt, Brothers in crime, 17.
[ 33 ] Marcuse, Zum Begriff der Negation, 190.
[ 34 ] Holloway, Die Welt verändern, Kapitel 1. – Zur Kritik an Holloway vgl. Elbe, Holloways ’Open Marxism‘, und Kettner, Das Verhältnis des Theoretikers. Der Vordenker und bis in die Gegenwart Stichwortgeber der individuellen Empörung ist der sogenannte “Individualanarchist” Max Stirner (1806-1856). Zur Kritik einer solchen Empörung und ihrer Apotheose, zur Kritik ihrer Abstraktheit und ihrer Folgen vgl. Helms, Die Ideologie.
[ 35 ] Ebd., 11.
[ 36 ] Vgl. Heinrich, Versuch.
[ 37 ] Thomas Seibert wirft den Antideutschen “elitäre[.] Selbstüberhöhung” vor. Deren “auf die Spitze getriebene elitäre Distanzierung von der Bewegung” ende “in reiner Selbstbezüglichkeit” (The People of Genova, 67).
[ 38 ] Dies findet man nicht nur bei den Theoretikern der no globals, wie John Holloway (Die Welt verändern, 173, 179, 216, 217, 236) oder Michael Hardt & Antonio Negri (Empire, 44, 67, 70f., 142), sondern auch bei bewegungsfernen “gewagten Denkern” (vgl. Kettner: Die Protokolle) wie Christoph Türcke (Erregte Gesellschaft, 310).
[ 39 ] Oder auch Neonazismus: vgl. Wolfgang Fritz Haug (Zur Dialektik, 32f.), Alex Demirovic (Vom Vorurteil, 86) und Rudolf Leiprecht (Auf der Suche, 706) angesichts der Pogrome von Rostock und Hoyerswerda.
[ 40 ] Anders, Ketzereien, 246.
[ 41 ] Nietzsche, Menschliches, 641. Die Lösung des Verworrenen, Bedrängenden folgt, so Kant, einem “Bedürfnis” des Verstandes. Gelingt die Lösung, so wird man “erfreut (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt)” (Kritik der Urteilskraft, XXXIII und XXXIV). Vgl. hierzu auch Simon, Freiheit und Erkenntnis, und ders., Glück und Erkenntnis. Ob man dieser Freude folgen mag, das liegt freilich beim jeweiligen Individuum.
[ 42 ] Polgar, Bei Lichte, 5.
[ 43 ] Vgl. hierzu Scheit, Le capital caché.
[ 44 ] Vgl. hierzu bspw. Sandleben, Nationalökonomie und Staat.
[ 45 ] Kraus, Hüben und Drüben, 170 und 169.
[ 46 ] RZ: Interview aus “Holger, der Kampf geht weiter”, in: Früchte des Zorns, 110. Vgl. auch ISF, Diktatur der Freundlichkeit.
[ 47 ] Agnoli: Destruktion.
[ 48 ] Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, AGS 10, 780.
[ 49 ] Vgl. Bruhn, Der Untergang, 27, Fn 9.
[ 50 ] Horkheimer, [Nachgelassene Notizen 1949-1969] GS 14, 120 und Späne, GS 14, 214. Vgl. auch Adorno: Minima Moralia, AGS 4, Aph. 100.
[ 51 ] Horkheimer, Späne, HGS 14, 295.
[ 52 ] Vgl. ebd., 418.
[ 53 ] Helms, Fetisch Revolution, 113.
[ 54 ] Sonnemann, Negative Anthropologie, 29, vgl. auch ebd., 227-269.
[ 55 ] Vgl. Horkheimer, Anfänge, HGS 2, 242. Marx‘ Kritik an Proudhons Vorhaben der Verwirklichung der Ideale der bürgerlichen Gesellschaft gegen diese ist hierfür das Musterbild (vgl. Das Elend der Philosophie, MEW 4, 105, Das Kapital, MEW 23, 189, Grundrisse, MEW 42, 173f., Urtext, MEGA II/2, 52-61).
[ 56 ] Vgl. Horkheimer, Späne, HGS 14, 518. – Marx konnte aus Proudhons “konkreter Utopie” einer Gesellschaft, in der das Geld abgeschafft sein würde, indem das metallene Geld durch Arbeitsgeld oder Stundenzettel ersetzt würde, nicht nur vorhersagen, daß das Geld “zugleich abgeschafft und konserviert” würde (Grundrisse, MEW 42, 73), weil unbegriffen “die Basis des Tauschwerts beibehalten” würde (ebd., 166). Er konnte darüber hinaus prognostizieren, daß Proudhons “Tauschbank” sich zur “despotische[n] Regierung der Produktion und Verwalterin der Distribution” (ebd., 89) auswachsen müßte. Da bleibt vom proklamierten Anti-Etatismus des Anarchismus nichts übrig. Durch die Maßnahmen, die in der Güterdistribution ergriffen werden sollen, verkehrt sich der Anti-Etatismus ins Gegenteil. Auch Engels spottete, “daß der wahre Sinn der Abschaffung des Staates die verstärkte Staatszentralisation ist” (Brief an Marx, 10.08.1851, MEW 27, 306). – Ein weiteres Beispiel, aus der jüngeren Vergangenheit: 1967 plauderten Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler – führende Köpfe von ‘68 – mit Hans Magnus Enzensberger fürs ’Kursbuch‘ darüber, wie sie sich die emanzipierte Gesellschaft der Zukunft vorstellen. Aus ihrer für den Marxismus typischen Verherrlichung des Proletariats und seines Milieus konzipierten sie mit besten philanthropischen Absichten den Sozialismus begeistert als lebenslange totale Fabrik – ohne dies selbst zu merken (vgl. Enzensberger, Ein Gespräch, 159 und 164f.). Zur Kritik vgl. Helms, Fetisch Revolution, 137ff.
[ 57 ] Vgl. Adorno, Marginalien, AGS 10, 761 und 780.
[ 58 ] Vgl. Fußnote 8.
[ 59 ] Horkheimer, Späne, HGS 14, 224.
[ 60 ] Adorno, Minima Moralia, AGS 4, 83 (Aph. 46).
[ 61 ] Adorno, Marginalien, AGS 10.2, 760.
[ 62 ] Horkheimer, Späne, GS 14, 224.
[ 63 ] Ebd., 268.
[ 64 ] Ebd., 470.
[ 65 ] Dieses ungelöste Problem stellt sich auch bei Adornos Begriff von “offener”, “lebendiger”, “unreglementierter Erfahrung” (vgl. bspw. Soziologie und empirische Forschung, AGS 8, 212, Zur Logik der Sozialwissenschaften, AGS 8, 553, 555, und Einleitung, ANS IV/15, 90ff., 131, 136, 215).
[ 66 ] Horkheimer, Späne, HGS 14, 356, 370.
[ 67 ] Ebd., 333. Vgl. auch ebd., 371, 507f.
[ 68 ] Ebd., 369.