Magnus Klaue – Das sogenannte Ich * Leseprobe aus: Magnus Klaue, Verschenkte Gelegenheiten
Das sogenannte Ich
Magnus Klaue
Die meisten Linken hierzulande ähneln sich darin, dass sie weder lesen noch schreiben können. Wie sie sich aber das Vergnügen an ihren ebenso vorhersehbaren wie folgenlosen »Mobilisierungen« nicht durch die Enttäuschung darüber verderben lassen, dass jeder abgefeierte Aufstand sich früher oder später als zeitgemäße Form der Regression entpuppt, so gerät ihre redundante Gesinnungstextproduktion durch ihren habituellen Analphabetismus nie ins Stocken. Weit davon entfernt, die Sprache gleich anderen Öffentlichkeitsarbeitern als unbegriffene, aber nützliche Hirn- und Mundspülung zu verwenden, sich ihr also mit lässigem Pragmatismus zu nähern, wollen sie sie sogar verbessern, um sie möglichst geschlechter- und schichtengerecht zu gestalten. Wie bei allen ihren Projekten geht es ihnen auch bei solchem Sprachreformismus statt um Wahrheit nur um Politik. Sprache gilt ihnen nicht als Ausdrucksform, in der sich die Erfahrung einer widersprüchlichen Wirklichkeit kristallisiert, sondern als »Konstruktion«, an der so lange herumzulaborieren sei, bis sie der vermeintlich korrekten Gesinnung entspricht, deren sprachlichen Niederschlag man dann mit jener Realität verwechselt, die man längst nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Den konformierenden Dissidenten erkennt man daran, dass er auf die zarteste Regung verwirklichter Freiheit eher verzichten kann als auf den Unterstrich.
Anders als die Beschwörung verändernder Praxis suggeriert, ist dieses Sprachverständnis durch und durch idealistisch. Weil Sprache nicht als Form des Ausdrucks verstanden wird, deren Triftigkeit oder Hohlheit an ihr selbst aufzuweisen wäre, sondern als Modus der Konstruktion von Realität, verschmelzen in der linken Sprachpolitik Paranoia und Willkür. Einerseits wähnt man sich, da man Sprache nicht anders zu denken vermag denn als alles und jedes überhaupt erst konstituierendes Zwangssystem, von diversen »Diskursen« und »Dispositiven« umstellt oder wenigstens »adressiert«. Andererseits glaubt man, mittels der Sprache, da sie doch wirklichkeitskonstituierende Kraft habe, gleich auch die Gesellschaft verändern zu können, die sie spricht, und frönt einem Reglungswahn, der noch vor 50 Jahren das Privileg deutschnationaler Sprachreiniger gewesen ist. Mit diesen gemein haben die progressiven Sprachwächter zumindest die Annahme, dass die Sprache und ihre Verwendung permanent auf die Korrektheit der ihr zugrunde liegenden Gesinnung überprüft werden müßten. Die Frage, weshalb all die geschlechtergerecht sprechenden Menschen sich im Alltag untereinander genauso roh und geistlos verhalten wie je, kommt gar nicht mehr auf. Das Bemühen um die korrekte Sprache hat die Sehnsucht nach dem besseren Leben erstickt.
Während Sprachpolitik sich nur dafür interessiert, wozu Sprache dienen kann, nimmt Sprachkritik die Sprache in dem ernst, was sie wirklich sagt. Gäbe es heute noch Sprachkritik, würde sie sich beispielsweise der Frage widmen, was es sozialpsychologisch bedeutet, dass Menschen ganze Arbeitskreise zwecks Optimierung der sprachlichen »Repräsentation« ihrer sexuellen, ethnischen oder sozialen Identität gründen, oder weshalb lesbische, schwule, transsexuelle und bisexuelle Menschen es als politischen Erfolg statt als Erniedrigung auffassen, sich in einem Wort zusammengeschweißt zu finden, das wie der Kurztitel einer neuen Castingshow klingt: LGBT. Sie würde sich überdies fragen, welche gesellschaftliche Disposition in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass der progressive Politsprech von Metaphern der Medienwelt, von Optionen, Netzwerken und Schnittstellen, durchzogen ist, oder weshalb Menschen, die früher soziale Kämpfe führten, sich heute zu politischen Akteuren depotenzieren. Doch der akribische Blick fürs Oberflächliche, der im rhetorischen Abhub der Wirklichkeit die Wahrheit über sie entdeckt, ist der Bereitschaft gewichen, alle sprachlichen Skrupel im Kampf um die Deutungshoheit fahrenzulassen. Die Sprache ist im Guten wie im Schlechten nicht mehr Medium der Erkenntnis, sondern der kulturellen Hegemonie: Wenn kein Karl Kraus mehr über sie richtet, verwandeln sich alle eingebildeten Kritiker in kleine Antonio Gramscis.
Das Verschwinden der Sprachkritik ist indes kein bloßes Verfallsphänomen, sondern hat seinen objektiven Grund im Schwinden der Möglichkeit von Freiheit, das es den Individuen kaum noch erlaubt, sich auch nur augenblicksweise für etwas anderes als den beliebigen Vertreter einer beliebigen Meinung zu halten. Die Resignation angesichts der gesellschaftlich erzeugten Beliebigkeit befördert nicht die Dezenz, sondern den Größenwahn. Weil, was man sagt, ohnehin niemals Anspruch auf Wahrheit anmelden kann und nichts als Ausdruck eines partikularen »Sprechorts« ist, muss man sich auch nicht mehr an Widersprüchen messen, sondern kann jedem Einwand mit dem Hinweis auf dessen »Situiertheit« begegnen. In welchem Maße dieser hybride Relativismus längst auch dort herrscht, wo der sprachkritische Impuls noch vorhanden ist, läßt sich an Matthias Dusinis und Thomas Edlingers Buch In Anführungszeichen studieren, das im Untertitel nicht zufällig Glanz und Elend der Political Correctness heißt und an die Stelle der Sprachkritik einen unentschiedenen Liberalismus setzt.
Seinen Ausgang nimmt das Buch von der treffenden Beobachtung, dass fast alle Menschen heute buchstäblich in Anführungszeichen sprechen: »Sie heben die Hände in die Höhe und biegen Zeige- und Mittelfingerspitzen synchron zweimal nach unten … Ein tauber Beobachter könnte die gewunkenen Gänsefüßchen dahingehend interpretieren, dass sich der Sprecher von sich selber distanzieren möchte: Ich, das sogenannte.« Was wie eine Geste bescheidener Selbstrelativierung aussieht, bezeugt in Wahrheit die Konvergenz von Entselbstung und Anmaßung. Weil sie das Ich der anderen wie das eigene nur noch als sogenanntes, gleichsam zitiertes kennen, glauben die Menschen, um so rücksichtsloser mit eigenen wie fremden Meinungen verfahren zu können. Die Selbstrelativierung schlägt um in Selbstüberhöhung: »Anführungszeichen sind … ein funktionales Element einer Opferrhetorik, in der die berechtigten Forderungen auf (!) Anerkennung zu Floskeln moralischer Selbstüberhöhung erstarren können.« Indessen deutet die windschiefe Diktion bereits darauf hin, dass auch die Autoren selbst nicht von jenem Zwang zur Relativierung frei sind, der nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge, sondern nur noch zwischen »berechtigten Forderungen« und Übertreibungen – und daher letztlich gar nicht mehr – zu unterscheiden erlaubt. Dazu paßt ihr Vorhaben, nicht etwa den Widerspruch, sondern die »Spannungsfelder« zwischen »Respekt und Skepsis, Stolz und Scham, Märtyrerpathos und Handlungsunfähigkeit« zu untersuchen, auf welche die Rhetorik der Anführungszeichen verweise. Wo sich statt Antagonismen Spannungsfelder auftun, hat der Geist bereits kapituliert.
Konsequent bieten die Autoren zwar eine beeindruckende Materialsammlung zu Themen und Formen der Political Correctness, bereden diese jedoch nur, statt sie auf den Begriff zu bringen. Sich einen Begriff von der Unwahrheit politisch korrekter Sprache zu machen, würde implizieren, auch deren mittlerweile ebenso beliebtes Gegenstück, die Rhetorik politischer Unkorrektheit, der Lüge zu überführen, wie sie die Diktion libertärer Korrektheitskritiker prägt. Doch denen sind Dusini und Edlinger selbst zu nahe, um sie kritisieren zu können. Statt die Norm der Korrektheit im Namen einer urteilenden, der Sache gerecht werdenden Sprache zu verabschieden, schimpfen sie nur auf die vermeintlichen Übertreibungen, in welchen politischen Milieus auch immer sie diese vermuten. Dadurch verwandelt sich ihre Sprachkritik am Ende in eine Spielart spätbürgerlicher Anerkennungspolitik. So geißeln sie die »totale Dialogbereitschaft« gegenüber ethnischen Gruppen, verharmlosen aber das Kopftuch zum »feuchten Traum der Islamophobiker«. Genderaktivisten werfen sie die Kultivierung ihrer Empörung vor, Antideutsche, die jenen Opferkult sehr früh kritisiert haben, rügen sie dafür, sich »auf die energische Zurückweisung verborgener deutscher Interessen im Weltgeschehen spezialisiert« zu haben. Über Frauenfußball und Dreadlocks machen sie sich lustig, Dildos und den Slutwalk finden sie okay. Mit Kritik hat dieses Vergeben von Pro- und Contra-Punkten schon deshalb nichts zu tun, weil es die Widersprüche überspielt, statt sie zu pointieren.
Ob sie im konkreten Fall nun im Recht sind oder nicht, stets erscheinen die Ansichten der Autoren zufällig, ohne der Konsequenz eines Gedankens zu folgen. Staatliche Erlasse zwecks Optimierung der Sprachgerechtigkeit wie den 2010 erstellten »Leitfaden für diskriminierungsfreie Sprache, Handlungen, Bilddarstellungen« des österreichischen Ministeriums für Arbeit und Soziales lehnen sie ab, weil diese die Gesellschaft als »voll von potentiellen, sich überidentifizierenden Adressaten von Diskriminierungen« erscheinen ließen. Andererseits bezeichnen sie die Regeln der Political Correctness ihrerseits im Leitfadendeutsch als »Kompaß«, den »manche immer feiner einjustieren wollen, während andere ihn bloß noch Verrücktspielen sehen«, und dekretieren: »Gleichzeitig aber muss, wenn das eigene Gesicht sich vor Zorn zu röten beginnt und trotzdem das Gemeinschaftliche im Auge behalten werden will, die Anerkennung meines Maßes mit der Anerkennung aller anderen Selbstbezüge kompatibel gemacht werden.« Eine Welt, in der alle einander wechselseitig als kompatibel anerkennen und stets »das Gemeinschaftliche im Auge behalten«, kann schwerlich etwas anderes als die Hölle auf Erden sein.
Besonders deutlich zeigt sich die Beliebigkeit der Argumentation dort, wo Dusini und Edlinger sich mit Israel beschäftigen. Während sie bei ihrer Kritik postfeministischer Sprachpolitik so aggressiv werden, dass der Verdacht naheliegt, der wahre Gegenstand ihrer Abscheu sei eher das weibliche Geschlecht als das Genderdeutsch, verfallen sie beim »Nahostkonflikt« in jenen Jargon, den sie zuvor noch anprangerten: »Der Nahostkonflikt verdeutlicht nicht nur, wie nationale und kulturelle Narrative zwischen Europa und dem arabisch-israelischen Raum anhand der Opfer/Täter-Dichotomie politische Leidenschaften mobilisieren. Er offenbart auch, dass die verkürzte Rede von kollektiven Identitäten die Wirklichkeit … verfehlt … Postidentitäre, emanzipative Bewegungen betonen hingegen die Fluidität und Pluralität des gesellschaftlichen Standorts, von dem aus die jeweiligen Akteure sprechen und handeln.« Am Ende des Nahostkapitels steht eine Utopie von Jerusalem »als geteilte und gleichzeitig doppelte Hauptstadt zweier in ihren Opferstigmatisierungen gefangenen Gesellschaften«, in der »die Selbstentfremdung zur Bedingung von Selbstachtung« geworden wäre. Die Viktimisierungsrhetorik, die die Autoren am Feminismus beanstanden, treiben sie selbst auf die Spitze. Wo der jüdische Staat zwanglos im »israelisch-arabischen Raum« verschwindet, scheint die Unterscheidung zwischen Terroristen und ihren Opfern hinfällig geworden zu sein.
Die Beliebigkeit ist also nicht harmlos, sondern hat hier wie auch sonst ein bestimmtes Ziel: die Zerstörung individueller Urteilskraft zugunsten einer Logik der »Anerkennung«, in der jeder Lüge Recht gegeben und jede triftige Erkenntnis in die Schranken ihres »Standorts« verwiesen wird. Dass Israel im Namen dieser besseren Welt ebenso zurückgepfiffen wird wie jeder sich zum Ganzen aufspreizende Geltungsanspruch, versteht sich von selbst. Damit aber wird der Anspruch auf Erkenntnis, in dem sich Kritik von Politik unterscheidet, zugunsten purer Taktik preisgegeben. Anders als Gerechtigkeit ist Wahrheit unteilbar. Sofern sie nicht allen ganz gehört, hat sie keine Wirklichkeit; das hat sie mit der Freiheit gemein. Weil Kritik darauf zielt zu zeigen, weshalb alle gegeneinander im Recht und an sich selbst im Unrecht sind, ist ihr Medium eher die Einseitigkeit als eine vorgetäuschte Vielfalt, die jedem zustimmt und damit jeden um das Ganze bringt. Die Kritik trifft die Sache nur, wo sie übertreibt, daher wird sie, sofern sie gelingt, der Ungerechtigkeit geziehen. Und doch regen sich allein in der Überempfindlichkeit der Kritik noch Spuren dessen, worin das Ich über seine Benennung hinausreicht. Nur weil die Menschen sich gar nicht mehr wünschen, etwas anderes als Sogenannte zu sein, weisen sie jede Erinnerung daran als Anmaßung zurück.
Zuerst in: In Anführungszeichen. Glanz und Elend der Political Correctness
Suhrkamp,Berlin 2012