Stephan Grigat – Von der positiven zur negativen Dialektik * Leseprobe aus: Lukács, Verdinglich, Marxismus, Geschichte
Von der positiven zur negativen Dialektik
Fetischkritik und Klassenbewußtsein bei Georg Lukács
Stephan Grigat
Georg Lukács ist als Verfasser von Geschichte und Klassenbewußtsein jener Autor, auf den sich alle späteren Kritiker, die der Auseinandersetzung mit den Marxschen Ausführungen zum Fetischismus zentrale Bedeutung beimessen, in der einen oder anderen Form beziehen. Er gilt als Wegbereiter einer Marx-Interpretation, welche die Kategorie der Totalität in den Mittelpunkt des Interesses stellt, und die von ihren Gegnern gerne als »Hegelmarxismus« abqualifiziert wurde und wird. Trotz seiner späteren Parteinahme für die alternative Warenproduktion realsozialistischer Prägung, die in den 1950er-Jahren, kurz nach dem Slánský-Prozeß, selbst noch den stalinistischen Haß auf den Westen und Angriffe gegen den stets mit antisemitischen Untertönen attackierten »Kosmopolitismus« beinhaltete (Scheit 2011: 40), dem Lukács »prinzipiellen Vaterlandsverrat« attestierte und einen »Marxismus-Leninismus« entgegensetzte, der als »Beschützer und Vorkämpfer der nationalen Freiheit und Selbstbestimmung« auftreten sollte (Lukács 1954: 635), war die Auseinandersetzung mit Lukács für die Kritische Theorie ebenso von großer Bedeutung wie für die undogmatischen Marxisten der 60er, 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. In den 1990er Jahren bezogen sich vor allem Vertreter eines wertkritischen Marxismus auf ihn (Kurz 1997: 51).
Auch außerhalb Deutschlands erlangte die Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 1919 bis 1922, die bald nach ihrem Erscheinen von parteikommunistischer Seite wegen angeblicher »idealistischer« und »mystischer« Tendenzen massiv kritisiert wurde (Wiggershaus 1993: 92; vgl. auch Koltan 1997: 48; Buckmiller 1973: 15), einigen Einfluß. In Frankreich wurden Marxisten wie Maurice Merleau-Ponty und Lucien Goldmann stark von Lukács geprägt (Behrens/Hafner 1993: 91). In Italien spielten die Schriften von Lukács eine wichtige Rolle bei den Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen marxistischen Richtungen (Marramao 1973: 217ff.). In Großbritannien wurde Lukács erst mit einiger Verspätung rezipiert und in der Regel nicht sehr positiv aufgenommen. [ 1 ] In den 1920er Jahren erlangte Geschichte und Klassenbewußtsein auch in jenen Gegenden Beachtung, in denen die Bolschewisierung der Kommunistischen Parteien nicht in der gleichen Geschwindigkeit stattfand wie in Europa. So wurden beispielsweise in den Jahren 1924 bis 1927 in der KP Japans kritische Marxisten wie Lukács oder auch Karl Korsch, der seine Schrift Marxismus und Philosophie fast zeitgleich mit Geschichte und Klassenbewußtsein veröffentlicht hat, intensiv diskutiert (Buckmiller 1981: 11). [ 2 ]
Die wichtigsten Ausführungen von Lukács zum Fetischismus finden sich in dem Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats , den er ebenso wie Methodisches zur Organisationsfrage extra für Geschichte und Klassenbewußtsein verfaßt hat. Diese zwei Texte bezeichnete er in seinem Vorwort aus dem Jahr 1967 als die »beiden … ausschlaggebend wichtigen Studien« (GuK: 18) in seiner Textsammlung. In Die Verdinglichung das Bewußtsein des Proletariats findet sich jener Satz, auf den sich später sowohl alle Befürworter als auch alle Kritiker von Lukács bezogen haben: »Man könnte … sagen, daß das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware den ganzen historischen Materialismus, die ganze Selbsterkenntnis des Proletariats als Selbsterkenntnis der kapitalistischen Gesellschaft … in sich verbirgt« (ebd. 354). Diesen verborgenen Gehalt des Fetischkapitels herauszuarbeiten und zu zeigen, wann, wie und von wem in der Geschichte der Fetischismus überwunden werden kann, sieht Lukács als seine Aufgabe an.
Gegen die Tendenz, die kategorialen Entwicklungen am Beginn des Kapitals zu ignorieren oder für überflüssig zu erklären, betont Lukács die Zentralität der Kategorie der Ware im Kapital. Wies Marx darauf hin, daß die Ware die Elementarform der kapitalistischen Gesellschaft ist, so ergänzt Lukács, daß es »kein Problem dieser Entwicklungsstufe der Menschheit [gibt] …, dessen Lösung nicht in der Lösung des Rätsels der Waren struktur gesucht werden müßte« (ebd. 257). Die Analyse der Ware ist daher kein isoliertes Problem und auch nichts, was einer bestimmten Einzelwissenschaft – etwa der Ökonomie – überlassen werden könnte, »sondern zentrales, strukturelles Problem der kapitalistischen Gesellschaft« (ebd.).
Der Fetischismus der kapitalistischen Warenproduktion ist für Lukács zentral. Die Warenstruktur beruht darauf, »daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine ›gespenstige Gegenständlichkeit‹ erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt« (ebd.). Die Marxsche Fetischkritik enthalte zugleich den »methodischen Grundgedanken« des Marxschen Hauptwerks: »die Rückverwandlung der ökonomischen Gegenstände aus Dingen in prozeßartig sich wandelnde konkrete Beziehungen zwischen Menschen« (ebd. 369). Der erste Schritt der Fetischkritik, die Lukács als das »methodische Problem der Ökonomie« (ebd. 371) bezeichnet, obwohl es sich der Ökonomie gar nicht als Problem aufdrängt, sondern nur der Kritik der Ökonomie, ist demnach die Rückbeziehung der dinglichen Verhältnisse auf die Beziehungen von Menschen. Der zweite Schritt ist die Auflösung dieser menschlichen Beziehungen in soziale Prozesse. In der Fetischkritik wird so »das Werden als die Wahrheit des Seins, der Prozeß als die Wahrheit der Dinge« (ebd. 366) erkennbar, wie Lukács in deutlicher Anlehnung an Hegels Wissenschaft der Logik formuliert.
Lukács betont die Historizität des Warenfetischismus. Er betrachtet ihn als ein Spezifikum der kapitalistischen Produktionsweise. In vormodernen Gesellschaften habe es zwar bereits Warenverkehr gegeben, die Ware war aber keineswegs die Elementarform dieser Gesellschaften. Der Warenfetischismus war demnach wie die Ware selbst ein randständiges Phänomen, wohingegen er im Kapitalismus die gesellschaftliche Totalität strukturiert. Für Lukács ist der Übergang von vorkapitalistischen zu kapitalistischen Verhältnissen nicht nur ein quantitativer, sondern ein qualitativer. Das heißt, die Ausbreitung der Warenform von einem vereinzelt auftretenden Phänomen zur allumfassenden Struktur, von einer Form unter vielen zur universellen Form, ist nicht nur eine Steigerung von bereits Vorhandenem, sondern bewirkt einen inhaltlich bestimmbaren Wechsel. In vorkapitalistischen und kapitalistischen Gesellschaften existieren »qualitativ verschiedene Gegenständlichkeitsformen« (ebd. 258).
Bei Marx finden sich zwar auch Bemerkungen über den historischen Prozeß der Herausbildung der einzelnen Fetischformen, aber im Mittelpunkt steht bei ihm die Kritik der an sich unlogischen Mystifikation und deren Steigerung vom Warenfetisch über den Geld- bis zum Kapitalfetisch. Lukács hingegen betont den historischen Prozeß, der zur zunehmenden Mystifikation, zur Vervollkommnung der Fetischisierung vom Beginn des Kapitalismus bis zur Ausprägung dieser Gesellschaftsform, wie Lukács mit ihr in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts konfrontiert war, geführt hat.
Zu Beginn der kapitalistischen Vergesellschaftung sind die Menschen als Träger der ökonomischen Verhältnisse noch relativ klar erkennbar gewesen. Durch die spätere Entwicklung, mit der Durchsetzung stärker vermittelter Formen ist nach Lukács das Durchschauen der fetischisierten ökonomischen Beziehungen immer schwieriger geworden (ebd. 259f.). Ist das Auftret en des doppelt freien Lohnarbeiters noch eine historische Neuheit, so sind auch die Mittel der Ausbeutung offenkundiger und brachialer als später. »Der Verdinglichungsprozeß der Arbeit selbst, also auch der des Bewußtseins des Arbeiters ist« – wohl deshalb und nicht »dennoch«, wie Lukács schreibt – »viel weniger fortgeschritten« (ebd. 265f.). Im historisch entwickelten Kapitalverhältnis erscheinen die am meisten mystifizierten Kapitalformen wie das Kaufmanns- und Geldkapital dem fetischistischen Bewußtsein in der bürgerlichen Gesellschaft als die tatsächlichen Repräsentanten des gesellschaftlichen Lebens. Diese verkehrte Form steht nach Lukács aber erst am Ende der ihm bereits bekannten Durchsetzungsgeschichte des Kapitalverhältnisses: »So wie das kapitalistische System sich ökonomisch fortwährend auf erhöhter Stufe produziert und reproduziert, so senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein« (ebd. 268). Lukács »begrenzt« (Grenz 1974: 39) die Verdinglichung jedoch nicht auf die Epoche des modernen, entwickelten Kapitalismus, sondern ordnet nur die entfalteten Fetischformen, die komplizierteren Verdinglichungsphänomene der Phase des entwickelten Kapitalverhältnisses zu.
Die fetischistischen Gegenständlichkeitsformen werden in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig produziert. Nur die Betrachtung der Totalität erkennt sie als notwendigen realen Schein. Die alltäglichen Vorstellungen von diesen Gegenständlichkeitsformen sind ebenfalls Gegenstand der Totalitätsbetrachtung. In ihnen ist aber nach Lukács nicht »die kapitalistische Produktionsordnung selbst, sondern die Ideologie der in ihr herrschenden Klasse« (GuK: 186) zu erkennen, welche die Gesellschaft notwendigerweise falsch reflektiert. Der fetischistische Schein, der hier als eine Art Schleier aufgefaßt wird, verhüllt die Wirklichkeit im doppelten Sinn. Erstens verdeckt er die Geschichtlichkeit der Dinge wie der Verhältnisse, und zweitens verhüllt er nach Lukács – und hier wird die Kritik Theodor W. Adornos an Lukács einsetzen [ 3 ] – die sozialen Beziehungen hinter den Dingen und den Verhältnissen. Die Kritik des Fetischismus muß daher »mit dem Zerreißen der Ewigkeitshülle der Kategorien zugleich ihre Dinghaftigkeitshülle zerreißen« (ebd. 187).
Die Verdinglichung, die Tatsache, daß ein gesellschaftliches Verhältnis von Menschen die Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt und dadurch, der liberalen Ideologie zum Trotz, durch die aus der Arbeitsteilung resultierende Gleichzeitigkeit von Überindividualisierung und Versachlichung wirkliche Individualität nahezu verunmöglicht und die Freiheit des Menschen nur als Freiheit gegenüber den isolierten Subjekten kennt, ist für Lukács die »struktive Grundtatsache« kapitalistischer Warenproduktion. Die Grundtatsache der Verdinglichung meint bei Lukács, auch wenn er an anderer Stelle von Verdinglichung nur als »ideologische(m) Phänomen« (ebd. 269) spricht, sowohl den Fetischcharakter als objektives Verhältnis als auch die Fetischisierung als subjektive Reflexion dieses Verhältnisses. Fetischismus meint bei ihm sowohl die Verdinglichung des Denkens als auch die Verdinglichung des Seins.
An mehreren Stellen spricht Lukács von einer Steigerung des Fetischismus oder der Verdinglichung. Die verdinglichte Welt erscheint »auf zweiter Potenz« (ebd. 286). In Krisensituationen bestehe im Kapitalismus die Tendenz, die Verdinglichung »auf die Spitze zu treiben« (ebd. 397). Der Fetischismus bleibt nicht auf die Sphäre der ökonomischen Kategorien beschränkt, sondern ergreife die ganze Gesellschaft. Die Verdinglichung beschränkt sich nicht darauf, daß alle nützlichen Gegenstände in Waren verwandelt werden, sondern sie »drückt dem ganzen Bewußtsein des Menschen ihre Struktur auf« (ebd. 275). Bereits Lukács sah, daß die Verdinglichung bis in die intimen Gefühlsäußerungen von Menschen, bis in intime Beziehungen hinein wirkt, womit er spätere Gedanken der Kritischen Theorie bereits andeutet.
Bemerkenswert ist, daß sich bei Lukács erste Versuche finden, die Fetischkritik auf den Staat anzuwenden, Verdinglichung in staatlichen Strukturen aufzuzeigen und die verdinglichende Wirkung von Rechtssystemen hervorzuheben. Andeutungsweise und noch relativ vermittlungslos wird der Verdinglichungsbegriff auch auf die Nation angewendet, wenn Lukács von den »verdinglichten Trennungen nach Nationen« (ebd. 517) spricht. Staat, Recht und Verwaltung werden bei ihm implizit als Fetische vorgestellt, die zwar von Menschenhand geschaffen wurden, aber als übermächtig und naturgegeben erscheinen. Die Arbeitsteilung, welche die Verdinglichung befördert, sei in der Bürokratie, die Lukács in Anlehnung an Max Weber analysiert, zum Teil noch frappanter als in der industriellen Produktion. Wie in der Produktion vom konkreten Gebrauchswert der Waren weitgehend abstrahiert wird, so kommt es in der staatlichen Verwaltung zu einer sich »immer steigernde[n] Abtrennung vom qualitativ-materiellen Wesen der ›Dinge‹«, an deren Stelle eine »formell-rationalistisch[e] … Behandlung aller Fragen« (ebd. 274) tritt. Durch die staatliche Verwaltung kommt es zu einer »Steigerung der verdinglichten Bewußtseinsstruktur als Grundkategorie für die ganze Gesellschaft« (ebd. 275).
Während der materielle Fetischismus von Warenproduktion und -zirkulation seinen Ausdruck in den verdinglichten, die Totalität als Kategorie zunehmend ausblendenden Begriffen der Ökonomie findet, entsprechen dem scheinbar naturhaften und geschichtslosen Dasein des Staates die festgefügten Kategorien der Rechtswissenschaften. Der Fetischismus in den Rechtswissenschaften ist nach Lukács noch verfestigter als in der Ökonomie, da es sich bei ersterer um eine bewußtere »Verdinglichung ihrer Einstellung« (ebd. 283) handele. Auch wenn Lukács Verdinglichung in der Ökonomie und in der staatlichen Struktur einzeln anführt, wendet er sich doch vehement gegen eine Trennung oder eine Entgegensetzung von Staat und Ökonomie. Die Trennung von Ökonomie und im Staat materialisierter Gewalt ist bereits Ausdruck des Fetischismus in den ökonomischen Beziehungen und der fetischistischen juristischen Form der organisierten Gewalt, die »ihr latentes, ihr potentielles Vorhandensein in und hinter jeder ökonomischen Beziehung vergessen macht« (ebd. 417). So wie die Trennung der Menschen nach Nationen oder – was Lukács ebenfalls anführt – Berufen, ist auch die Trennung des gesellschaftlichen Lebens in die scheinbar autonomen Bereiche Wirtschaft und Politik eine Unterscheidung, die auf der Verdinglichung beruht.
Verdinglichung und Klassenbewußtsein
Die Verbindung der Beschäftigung mit der Verdinglichung einerseits und dem Proletariat andererseits dürfte einiges zum Verkaufserfolg von Geschichte und Klassenbewußtsein in den 1970er Jahren beigetragen haben. Für alle, die in den 60er Jahren durch die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie die Verdinglichung ins Zentrum ihrer Überlegungen gerückt hatten, dann aber sich daran machten in den diversen K-Gruppen dem Proletariat oder dem Volke ›zu dienen‹, mußte Lukács als ideale Synthese erscheinen. In Geschichte und Klassenbewußtsein finden sich einerseits zahlreiche Vorwegnahmen von Lukács’ Anbiederung an die bolschewisierten kommunistischen Parteien und seiner späteren Verteidigung des Realität gewordenen Staatssozialismus. Zu nennen wäre hier seine Tendenz, Revolutionstheorie auf eine reine Parteitheorie einzuschränken. Andererseits bleiben genügend Anknüpfungspunkte für andere Positionen offen. In Geschichte und Klassenbewußtsein findet sich sowohl das bedingungslose Lob der Partei als auch eine Kritik an reformistischen und opportunistischen Tendenzen. Maoisten mußten sich also bestens bedient fühlen. Lukács forderte die Unterordnung der Gesamtpersönlichkeit unter die Revolution, was die K-Gruppen freute, kritisierte aber gleichzeitig die verdinglichten Beziehungen von Parteimitgliedern zu ihren Führern, was undogmatische Marxisten und Spontis begeisterte. Linke Sozialdemokraten und – mit etwas weniger Recht – DKPler oder KPÖler konnten sich in den Ausführungen gegen das Sektenwesen wiederfinden. Einerseits lieferte Lukács mit seiner Warnung vor der Möglichkeit einer dogmatischen Erstarrung der Theorie die Grundlage für eine Kritik am Realsozialismus. Andererseits ist durch die Postulierung eines objektiven Klasseninteresses, das Anknüpfungspunkte für eine Definition dieses Interesses durch die Parteiführung beinhaltet, und durch die klare Distanzierung vom Anarchismus der Autoritarismus des Realsozialismus bereits angelegt.
Geschichte und Klassenbewußtsein ist nicht nur eine Analyse der Verdinglichung im Kapitalismus, sondern vor allem eine Untersuchung über den potentiellen Träger der Überwindung der Verdinglichung: das Proletariat. Anders jedoch als im Denken vieler marxistischer Aktivisten ist das Proletariat bei Lukács nicht von vornherein, von sich aus, nur auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung dazu fähig, die Verdinglichung zu überwinden. Ganz im Gegenteil: Die Daseinsformen des Proletariats »sind so beschaffen, daß die Verdinglichung sich in ihnen am prägnantesten und penetrantesten … äußern muß. Die Verdinglichung aller Lebensäußerungen teilt das Proletariat also mit der Bourgeoisie« (ebd. 332). Lukács betont die Gleichheit der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch Bourgeoisie und Proletariat. Die »objektive Wirklichkeit des gesellschaftlichen Seins ist in ihrer Unmittelbarkeit« (ebd.) für alle Klassen dieselbe. Die gesellschaftlichen Kategorien wie Ware, Wert, Geld und Kapital müssen daher allen Subjekten der bürgerlichen Gesellschaft, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit als Fetische erscheinen. Das fetischistische Denken ist bei Lukács in einer ersten Annäherung klassenübergreifend. Nach der Konstatierung der Gemeinsamkeit geht es ihm in einem zweiten Schritt jedoch um das Herausstreichen der Unterschiede. Auch wenn Bourgeoisie und Proletariat in ihrem Alltagsbewußtsein zunächst derselben Verdinglichung unterworfen sind, so sind nach Lukács doch die » spezifischen Vermittlungskategorien« (ebd.), durch welche den beiden Klassen die fetischistische Unmittelbarkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ins Bewußtsein gelangt, unterschiedlich. Lukács hält zwar an seiner Einschätzung fest, daß das gesellschaftliche Sein in seiner Unmittelbarkeit für Bourgeoisie und Proletariat dasselbe ist, schwingt sich in der Folge aber zu einer großangelegten Verteidigung des Erkenntnisprivilegs der ausgebeuteten Klasse auf. Das Klassenbewußtsein der Bourgeoisie sei objektiv falsch und bleibe auch stets falsch. Das Bewußtsein des Proletariats sei zwar zunächst auch falsch, müsse aber keineswegs falsch bleiben, da es in der Gesellschaft keine objektiven Schranken für dieses Bewußtsein gäbe. Für Lukács existieren »verschiedene Fälle von ›falschem Bewußtsein‹« (ebd. 228). Dasselbe gesellschaftliche Sein, das die bürgerlichen Subjekte per se zu fetischistischen Subjekten degradiert, halte »durch den Motor der Klasseninteressen« das Bürgertum in der verdinglichten Unmittelbarkeit gefangen, »während es das Proletariat darüber hinaustreibt« (ebd. 348). Bei Marx fühlen sich die ökonomischen Charaktermasken, die Personifikationen des konstanten ebenso wie jene des variablen Kapitals, trotz der von Marx eindringlich geschilderten sozialen Katastrophen, und trotz seiner Einschätzung, daß der Fetischismus letztlich durch die soziale Revolution überwunden wird, in den entfremdeten, verdinglichten und fetischisierten Formen so zu Hause »wie ein Fisch im Wasser« (MEW 25: 787). Lukács hingegen glaubt daran, daß sich für die Arbeitenden alle Illusionen über ihren selbständigen Subjektstatus durch ihre alltäglichen Lebenserfahrungen verflüchtigen. Durch die unterstellte Erkenntnis, daß die eigene Subjektivität durch das Kapitalverhältnis konstituiert ist, und man daher nur Objekt der Wertverwertung sein kann, sei »für den Arbeiter der verdinglichte Charakter der unmittelbaren Erscheinungsweise der kapitalistischen Gesellschaft auf die äußerste Spitze getrieben« (GuK: 349f.). Sowohl Bourgeoise als auch Proletarier unterliegen einer Verdoppelung der Persönlichkeit. Sie existieren einerseits als Element der Kapitalverwertung und andererseits als Zuschauer derselben. Während sich die Bourgeoisie als selbständiges Subjekt der Wertverwertung begreifen könne (auch wenn sie das nicht ist) und eine Einrichtung im Falschen so noch halbwegs möglich erscheint, ist dem Proletariat diese Möglichkeit nach Lukács von vornherein versperrt.
Schon früh ist darauf hingewiesen worden, daß hier ein entscheidender Unterschied zur Marxschen Konzeption der Charaktermaske deutlich wird. Lukács spricht von Charaktermasken nur in Bezug auf Kapitalisten. Bei Marx hingegen »umfaßt die Charaktermaske sowohl Kapitalisten als auch Proletarier in ihrer entfremdeten Existenz« (Matzner 1964: 134). Sowohl Proletarier als auch Kapitalisten sind Personifikationen ökonomischer Verhältnisse, ihre leibhaftige Verkörperung. Bei Lukács hingegen ist die Charaktermaske nur das zwangsläufig falsche Bewußtsein der Bourgeoisie, dem das Klassenbewußtsein des Proletariats gegenübersteht.
Wenn Lukács von den Proletariern als erkenntnisfähigem Subjekt, als identischem Subjekt-Objekt der Geschichte spricht, meint er jedoch nie den einzelnen Arbeitenden. Als Einzelproletarier verbleibt er oder sie ebenso in der fetischistischen Anschauung der Welt wie der Einzelkapitalist. Die gesellschaftliche Totalität kann nach Lukács nicht vom Individuum, sondern nur von einer Klasse erkannt werden, die als Subjekt »selbst Totalität ist« (GuK: 212).
Das Proletariat behält bei Lukács die Rolle des revolutionären Subjekts. Da er die Marxsche Fetischkritik ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, ist eine der Hauptaufgaben dieses revolutionären Subjekts in der Defetischisierung der kapitalistischen Formen zu sehen. Wie das Proletariat zu solch einer Defetischisierung gelangen kann, versucht Lukács anhand der Analyse des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in bezug auf die Arbeitszeit darzustellen. Gerade bei der Arbeitszeit zeige sich, daß die für kapitalistische Produktion bestimmende Quantifizierung eine »verdinglichende und verdinglichte Hülle ist« (ebd. 350). Beim »Problem der Arbeitszeit« habe die Verdinglichung »ihren Höhepunkt erreicht« (ebd.). Bei der Quantifizierung der Arbeitszeit erscheint der Arbeitende einerseits zwar als reines Objekt, andererseits weise diese Objekthaftigkeit aber schon über die reine Unmittelbarkeit gesellschaftlicher Wirklichkeit hinaus. Wird sich der Arbeitende über sein Dasein als Ware bewußt, so könne er sich auch über das gesellschaftliche Sein bewußt werden. Indem dann die Unmittelbarkeit der gesellschaftlichen Realität als Resultat zahlreicher Vermittlungsschritte erkennbar wird, vollbringt das Proletariat bei Lukács damit die Defetischisierung der kapitalistischen Formen. Erkennen die Arbeitenden sich selbst, »beginnen die fetischistischen Formen der Warenstruktur zu zerfallen« (ebd. 352).
Was – wenn auch in vermittelterer Form – durchaus die Besonderheit aller Waren in der kapitalistischen Produktionsweise ausmacht, beschreibt Lukács als »spezifische Gegenständlichkeit« der Ware Arbeitskraft: »daß sie unter dinglicher Hülle eine Beziehung zwischen Menschen, unter der quantifizierenden Kruste ein qualitativer, lebendiger Kern ist« (ebd. 353). Wird das erkannt, könne der »Fetischcharakter einer jeden Ware enthüllt werden« (ebd., Herv. i. Orig.). Die Defetischisierung der Ware Arbeitskraft durch die Arbeitenden selbst ist eine Form praktischer Erkenntnis. Die Erkenntnis des spezifischen Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft, ihre Fähigkeit, wert- und mehrwertbildend zu wirken , » vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am Objekt ihrer Erkenntnis« (ebd., Herv. i. Orig.). Der spezifische Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft gerät so in den Mittelpunkt der revolutionstheoretischen Überlegungen; ähnlich wie später bei Adorno, der meinte, »daß der Warencharakter an der Arbeitskraft seine Grenze findet, die nicht bloß Tauschwert sondern Gebrauchswert hat« (AGS 6: 261), daran aber bei weitem nicht so optimistische Zukunftserwartungen knüpfte wie Lukács.
Um am Erkenntnisprivileg des Proletariats festzuhalten, muß Lukács beim Proletariat einen unverdinglichten Rest konstruieren, obwohl er immer wieder auf die Totalität des Fetischismus hinweist und vom fetischistischen Schein spricht, »der alle Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft umgibt« (GuK: 186). Friedemann Grenz hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Lukács’ Theorie suggeriert, daß es im Inneren der Arbeitenden etwas geben muß, daß »tendenziell jederzeit in der Lage ist, Anstoß an der Verdinglichung des Lebens des arbeitenden Subjekts zu nehmen« (Grenz 1974: 39). Die Grundstruktur der Verdinglichung sieht Lukács in allen Sphären der kapitalistischen Gesellschaft gegeben. Beim Proletariat sei die Verdinglichung jedoch in reiner Form vorhanden, während sie in anderen Fällen »hinter einer Fassade« (GuK: 356) versteckt sei. Bei Nichtproletariern schreitet die Verdinglichung für Lukács bis zur Verdinglichung der »Seele« fort. Bei Journalisten beispielsweise, deren »›Gesinnungslosigkeit‹« ihm als »Gipfelpunkt der kapitalistischen Verdinglichung« (ebd. 275) gilt, oder bei Beamten, verhalte es sich so, daß der Schein immer schwerer zu durchschauen wird, »je tiefer die Verdinglichung in die ›Seele‹ des seine Leistung als Ware Verkaufenden reicht« (ebd. 356). Bei Proletariern stelle sich das ähnlich, aber im entscheidenden Punkt doch anders dar. Der Prozeß der Verdinglichung negiere zwar den Arbeiter, solange er nicht gegen die Verdinglichung revoltiert; auch seine »Seele« wird in Mitleidenschaft gezogen. Dennoch gebe es bei Arbeitenden etwas, das frei von der Verdinglichung bleibe: das »menschlich-seelische Wesen«, das nicht zur Ware verwandelt wird. Was der Unterschied zwischen der »Seele« und dem »menschlich-seelischen Wesen« sein soll, bleibt unklar. Die Angehörigen des Proletariats könnten sich gegen ihr verdinglichtes Dasein »innerlich vollkommen objektivieren«. Das »menschlich-seelische Wesen« müßte also jenseits der Vermittlung durch die Totalität der Wertform existieren. Ein Beamter hingegen verdingliche auch in jenen »Organen, … die die einzigen Träger seiner Auflehnung gegen diese Verdinglichung sein könnten« (ebd.). Anders als beim Proletariat würden bei ihm auch seine Gedanken und Gefühle von der Verdinglichung erfaßt. Lukács rechnet also nicht, wie Jürgen Habermas meint, »in der subjektiven Natur der Menschen mit einem Reservat, das gegen Verdinglichung resistent ist« (Habermas 1981: 491), sondern nur in der subjektiven Natur der dem Proletariat zugehörigen Menschen.
Zur weiteren Begründung, warum das Proletariat zur Erkenntnis und Überwindung der Verdinglichung in der Lage sei, das Beamtentum hingegen nicht, führt Lukács, unversehens von der Abstraktion ins Konkrete wechselnd, Pragmatisierungen, Pensionsaussichten und Aufstiegschancen an. Da das Proletariat mit derartigen Privilegien in der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht rechnen könne, sei allein das Dasein des Proletariats der Ort, wo die verdinglichte Struktur der Gesellschaft subjektiv »ins Bewußtsein gehoben und auf diese Weise praktisch durchbrochen werden kann« (GuK: 357).
Während die bürgerliche Theorie und das ihr entsprechende Denken im Fetischismus befangen bleibe, sei das proletarische Bewußtsein in der Lage, »den Mensch als Kern und Grund der versachlichten Beziehungen« (ebd. 361) zu erkennen. Dieses Erkennen kann nach Lukács aber nur »in der und durch die Aufhebung« (ebd.) der Unmittelbarkeit der Gesellschaft, also nur im Augenblick oder nach der Zerstörung des Fetischismus der bürgerlichen Gesellschaft, stattfinden. Für die Kritik an dieser Gesellschaft heißt das, daß von der Verdinglichung, die nicht nur falsches Bewußtsein, sondern materielle Realität ist, ausgegangen werden muß. Lukács streift hier ein prinzipielles Problem der Fetisch- und Kapitalkritik: Einerseits ist der Fetischismus der bürgerlichen Welt gesamtgesellschaftlich wohl tatsächlich nur dann vollständig zu erkennen, wenn er im Verschwinden begriffen ist. Andererseits wird er niemals verschwinden, wenn er zuvor nicht durchschaut und kritisiert wurde.
Lukács führt, geprägt von seinen Erfahrungen aus Ungarn, den Arbeiterrat als eine »politisch-wirtschaftliche Überwindung der kapitalistischen Verdinglichung« (ebd. 256) [ 4 ] an. Gleichzeitig weist er aber darauf hin, daß es immer einen Unterschied zwischen dem tatsächlichen Bewußtsein und dem von ihm ausgemachten wahren Klassenbewußtsein des Proletariats selbst noch bei den revolutionärsten Arbeitenden geben wird. Klassenbewußtsein meint bei Lukács nie »das tatsächliche Bewußtsein einer Klasse, sondern vielmehr idealtypisch zweckrationales Denken« (Matzner 1964: 134). Der ›Zweck‹ des Proletariats ist die Vollendung der allgemeinen menschlichen Emanzipation. Die tatsächliche Vollendung des proletarischen Klassenbewußtseins wäre die Selbstaufhebung des Proletariats. Die Frage ist aber, ob es ohne »wahres« Bewußtsein jemals zu dieser Selbstaufhebung kommen kann. Für Lukács stellte sich diese Frage durchaus. Er geht von einem falschen Bewußtsein aus, verwahrt sich aber im Einklang mit Marx gegen eine starre Dichotomie von falsch und richtig, da das verdinglichte Bewußtsein einerseits zugleich subjektiv richtig und objektiv falsch ist, also subjektiv der Alltagserfahrung in der Warenwelt entspricht, aber durch Analyse der Ware als fetischistisch erkannt werden kann. Andererseits ist es aber subjektiv falsch und objektiv richtig, da es nach einer »doppelt dialektischen Bestimmung« (GuK: 223) zugleich auf der subjektiven Seite die gesetzten Ziele verfehlt, während es objektive Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft exekutiert. Lukács beschränkt sich aber nicht auf den Hinweis auf die Widersprüchlichkeit von richtig und falsch bezüglich des Bewußtseins, sondern beharrt auf einem dialektischen Zusammenhang zwischen Falschem und Wahrem: »das ›Falsche‹ ist zugleich als ›Falsches‹ und als ›Nicht-Falsches‹ ein Moment des ›Wahren‹« (GuK: 169). Von dieser Prämisse ausgehend stellt eine permanente, erst durch die vollendete Emanzipation aufhebbare Differenz zwischen tatsächlichem und objektiv richtigem, also »wahrem« Bewußtsein, das erst als solches zu Klassenbewußtsein wird, kein Problem mehr dar.
Da das bürgerliche Denken an den offensichtlichen Tatsachen klebt, seien ihm auch die mystifiziertesten Fetischformen am nächsten. Der Zins erscheine diesem Denken als die ursprüngliche Form des Kapitals, aus der sich die anderen Formen ableiten. Ausgehend von der Fetischform des Kapitals in seiner mystifiziertesten Form sei dem bürgerlichen Denken das Verständnis der Verdinglichung damit von vornherein verwehrt. Für das Proletariat sieht Lukács durch seine Konfrontation mit der tatsächlichen Quelle der Wertverwertung in der Produktion eine mögliche »Perspektive auf das vollkommene Durchschauen der Verdinglichungsformen« gegeben (ebd. 371). Auf Grund seiner alltäglichen Erfahrungen würde das Proletariat von der grundlegenden Beziehung von Kapital und Arbeit ausgehen und alle anderen Fetischformen des Kapitals aus der Zirkulationssphäre auf die Produktion und auf die in ihr stattfindende Ausbeutung rückbeziehen.
Einen der Hauptgründe für das Scheitern des bürgerlichen Denkens bei der Überwindung der Verdinglichung sieht Lukács im ausgeprägten Empirismus dieses Denkens. Die empirische Tatsache gilt dem bürgerlichen Denken als höchstes Gut wissens chaftlicher Erkenntnis. In den empirischen Tatsachen sind die gesellschaftlichen Verhältnisse aber bereits erstarrt. Die Prozeßhaftigkeit ist verschwunden. Die Tatsachen sind selbst verdinglicht und zugleich verdinglichend. Der Festgefügtheit der empirischen Tatsachen gegenüber »erscheint jede Bewegung bloß als eine Bewegung an ihnen, jede Tendenz auf ihr Verändern als bloß subjektives Prinzip« (ebd. 370, Herv. i. Orig.). Um die Verdinglichung zu überwinden, müßte die methodische Fixierung auf die Empirie durchbrochen und durch die Orientierung auf die sozialen Prozesse, welche die Tatsachen erst schaffen, ersetzt werden. Daran hat das bürgerliche Denken aber kein Interesse, woraus sich erkläre, daß es »die Verdinglichung auf die letzte Spitze« treibe und »eben aus diesen ›Tatsachen‹ seinen höchsten theoretischen und praktischen Fetisch bilden muß« (ebd.). Gegen das empiristische, auf die scheinbar voraussetzungslosen Tatsachen fixierte Denken setzt Lukács die Kategorie der Totalität, deren Hervorhebung er später selbst als großes Verdienst von Geschichte und Klassenbewußtsein bezeichnet hat (vgl. ebd. 22f.). Lukács betont, daß der grundlegende Unterschied zwischen marxistischer Kritik und bürgerlicher Theorie nicht darin besteht, daß der Marxismus der Ökonomie Priorität einräume, sondern darin, daß die marxistische Kritik immer in bezug auf die Totalität formuliert wird. Das Wesen der marxistischen Methode besteht für Lukács nicht in der permanenten Suche nach einem in der Geschichte vorherrschenden ökonomischen Motiv, sondern in der »Herausarbeitung jener ›höheren Wirklichkeit‹, von der her sich die fetischhaft erstarrte Oberfläche, das Ensemble unmittelbar gegebener Dingformen als ›Schein‹ bestimmen läßt, als Ausdruck eines falschen, in bloßen ›Reflexionskategorien‹ verharrenden Bewußtseins« (Breuer 1977: 92f.). Damit setzt er sich nicht nur in Gegensatz zur bürgerlichen Theorie, sondern ebenso zum positivistischen Vulgärmarxismus, der sich bis heute vor allem für Wirtschaftspolitik glaubt interessieren zu müssen. Nur mittels der Kategorie der Totalität ist die Erkenntnis der Wirklichkeit nach Lukács möglich. Die gedankliche Reproduktion der Wirklichkeit führt zur Erkenntnis der konkreten Totalität. Die konkrete Totalität ist für Lukács die »eigentliche Wirklichkeitskategorie« (GuK: 181). Zugleich ist die Zentralität der Kategorie der Totalität für die Kritik eine relativ zuverlässige Barriere vor dem Reformismus und der Affirmation. Sie weist permanent darauf hin, »daß das Handeln … auf die Veränderung des Ganzen gerichtet ist« (ebd. 360). Durch die Verdinglichung erscheint die Realität aber nicht als Totalität, als eine Einheit mit gewaltsam vermittelnden Prinzipien, sondern als eine »Vielheit von voneinander selbständigen Dingen und Kräften« (ebd. 246).
Auch wenn Lukács von konkreter Totalität redet, ist es richtig darauf hinzuweisen, daß die Kategorie der Totalität bei ihm von jeder Empirie getrennt wird. Alfred Schmidt hat bemerkt, daß das zu einer Inhaltslosigkeit der Kategorie führt, da der Begriff der Totalität nur im Kontext der Kritik der politischen Ökonomie Sinn macht und von Marx auch stets so verstanden und verwendet wurde (Cerutti u. a. 1977: 9). Lukács hingegen löst »die hegelsche Kategorie der Totalität in eine von der Sache abgelöste Methode« (Breuer 1985: 16) auf.
Hier zeigt sich einer der zentralen Unterschiede zwischen Korsch und Lukács. Wie der Herausgeber seiner Werke richtig anmerkt, hat bei Korsch die Kategorie der Totalität »niemals die Qualität des ›idealistisch spekulativen Systemgedankens‹ angenommen wie … bei … Geschichte und Klassenbewußtsein, wo der Geltungsanspruch der ›Erkenntnis‹ auch über die empirische Geschichte hinaus vertreten wird« (Buckmiller 1993: 75). Für Korsch bedeutete Totalität eine Totalität aus Bewußtsein und Wirklichkeit, wobei das Bewußtsein in der Regel gerade kein Klassenbewußtsein im Sinne Lukács’ ist, sondern sich aus den alltäglichen, fetischistischen Bewußtseinsformen speist, denen sowohl das Proletariat als auch die Bourgeoisie im Normalfall verhaftet bleiben. Der Vorwurf von Oskar Negt, Korsch habe einen konsequenten Materialismus vor allem dann praktiziert, »wenn die Verhältnisse der gegebenen Gesellschaft und die Machenschaften des Klassenfeindes untersucht werden«, sich hingegen idealistischen Projektionen zugeneigt, »wenn es um das historisch verändernde Subjekt, die Arbeiterklasse selber, geht« (Negt 1981: 50), trifft sehr viel eher auf Lukács als auf Korsch zu.
Lukács’ Klassenfetisch
Bei aller Problematik einer Konstruktion eines Erkenntnisprivilegs einer bestimmten Klasse, das an vielen Stellen bei Lukács zu einem Erkenntnismonopol gesteigert wird, ist nochmals hervorzuheben, daß Lukács keinerlei Automatismus behauptet, der von der Existenz des Proletariats zur Entwicklung von Klassenbewußtsein im Sinne von Defetischisierung führt. Daß die Träger der Ware Arbeitskraft sich über ihr warenförmiges Dasein bewußt werden, ist bei Lukács nicht zwangsläufig der Fall, sondern nur eine Möglichkeit. Daß diese Möglichkeit nicht zur Wirklichkeit wird, schloß Lukács nicht ganz aus. Die Bourgeoisie wird nach Lukács in Krisen mitunter gezwungen, die Verdinglichung teilweise zu durchschauen. Unter bestimmten Bedingungen sehe sie sich genötigt, »in den ökonomischen Formen nicht nur rein fetischistische Beziehungen zu sehen, sondern dem Zusammenhang zwischen Ökonomie und menschlicher Bedürfnisbefriedigung ins Auge zu blicken«. Diese lichten Momente ändern aber nichts an der grundsätzlichen »Blindheit der Totalität gegenüber« (GuK: 402). Das bißchen Klarheit, daß der Bourgeoisie durch die akute Krise aufgenötigt wurde, bleibe eine »Klarheit für den ›internen Gebrauch‹« (ebd.). Für das Proletariat erblickt Lukács eine widersprüchliche Entwicklung bezüglich des Fetischismus in Krisensituationen. Einerseits potenziere sich die Verdinglichung, andererseits würden die Fetische zunehmend versagen. Einerseits sei in Krisenzeiten »die zunehmende Aushöhlung der Verdinglichungsformen – man könnte sagen, das Platzen ihrer Kruste vor innerer Leere –, … und andererseits zugleich ihr quantitatives Zunehmen« (ebd. 397) zu beobachten. Dieser Gleichzeitigkeit von Unterminierung und Ausbreitung des Fetischismus entspricht nach Lukács die Gleichzeitigkeit von der Verbesserung der Möglichkeiten für das Proletariat, die Verdinglichung zu überwinden, was die Loslösung von den »Lebensformen, die der Kapitalismus geschaffen hat« (ebd. 440), also die innerliche wie äußerliche, die gedankliche wie praktische Loslösung von den Fetischen der kapitalistischen Warenproduktion und der staatlichen Ordnung voraussetzt, und die Zunahme der Gefahr, daß sich das Proletariat den entleerten Fetischen völlig unterwirft. Die Spezifik der Ware Arbeitskraft führt also nicht von sich aus zur Selbsterkenntnis seiner Träger, sondern schafft nur die Voraussetzungen dazu. Alle Versuche, zwischen gesellschaftlichem Sein und selbstbewußtem Bewußtsein einen Automatismus am Werke zu sehen, verweist Lukács in das Reich der Mythologie.
Gerne wurde Lukács auf Grund des oben zitierten Satzes zur Zentralität des Fetischabschnitts eine unzulässige Reduktion des Marxschen Werkes und Denkens auf die Fetischkritik vorgeworfen. Um diesen Vorwurf zu entkräften, braucht man nur den bei Lukács folgenden Satz anzuführen, in dem er festhält, daß aus der Zentralität des Kapitels über den Fetischcharakter der Ware keineswegs folgt, »daß die Entwicklung des Ganzen in seiner inhaltlichen Fülle damit überflüssig gemacht worden wäre« (ebd. 354). Lukács reduziert nicht das Marxsche Werk auf die Fetischkritik, aber er tendiert dazu, die Fetischkritik auf die Kritik des Fetischcharakters der Ware zu reduzieren. Mit den ausführlichen Darstellungen zum Fetischismus und zur Mystifizierung im dritten Band des Kapitals u nd in den Theorien über den Mehrwert befaßt sich Lukács nicht explizit.
Das größte Problem bei Geschichte und Klassenbewußtsein besteht im Erkenntnisprivileg des Proletariats. Für Lukács ist die Selbsterkenntnis des Proletariats zugleich die Erkenntnis der gesamten Gesellschaft. Hier stellt sich die Frage, warum die Selbsterkenntnis des Kapitalisten, also die Einsicht in seine Funktion als ökonomische Charaktermaske, als Personifikation ökonomischer Verhältnisse, als mit Willen und Persönlichkeit begabtes Kapital und damit auch in seine ausbeuterische Funktion – und nur das wäre Selbsterkenntnis, wie auch beim Proletariat Selbsterkenntnis nur heißen kann, sich als objektiven Bestandteil des Kapitalverhältnisses zu begreifen und daher die eigene Abschaffung im Sinne einer Emanzipation zum selbstbestimmten und mündigen Individuum zu betreiben – nicht auch zugleich Erkenntnis der gesamten Gesellschaft bedeuten würde? Daß das Proletariat auf Grund seiner Stellung im Produktionsprozeß von anderen Voraussetzungen ausgeht als Nicht-Proletarier, liegt auf der Hand. Ob diese anderen Voraussetzungen aber auch tatsächlich bessere sind, muß bezweifelt werden. Ist die Totalität als fetischistisch konstituierte begriffen, läßt sich nicht sagen, daß die Bourgeoisie an den am meisten entwickelten Fetischformen haftet, während das Proletariat auf Grund seiner physischen Anwesenheit bei der Wert- und Mehrwertproduktion unmittelbar mit dem noch relativ leicht zu durchschauenden Warenfetisch konfrontiert ist. Allein die Tatsache, daß das Proletariat mit der Produktion unmittelbarer konfrontiert ist, bedeutet noch nicht, daß die ihm Zugehörenden tatsächlich auch von der Produktion ausgehen und alle scheinbar unabhängig von der Produktionssphäre existierenden gesellschaftlichen Formen auf die Produktion rückbeziehen. Das Proletariat kann sich seine in Form der Vorenthaltung der Bedürfnisbefriedigung real erlebbare Ausbeutung sehr gut durch die zu hohen Zinsen und die zu hohen Preise in der Zirkulationssphäre erklären. Genau hier setzt die Antisemitismustheorie der Kritischen Theorie ein, wenn sie darauf verweist, daß die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung »gesellschaftlich notwendiger Schein« (Horkheimer/Adorno 1944/47: 183) [ 5 ] ist. Die Bourgeoisie kann hingegen in Krisensituationen sehr schnell eine Ahnung von der Abhängigkeit des zinstragenden Kapitals von der Mehrwertabpressung in der Produktion erhalten. Die Wahrnehmung, daß es den einen »gut« und den anderen »schlecht« geht, gründet in der Fähigkeit zur Erfahrung. Warum das so ist, kann aber nur im Wege des Denkens begriffen werden. Dieses Denken, das sich einen Begriff von der Differenz von Wesen und Erscheinung machen muß, ist zwar nicht unabhängig von der Klassenlage der Denkenden, aber keineswegs durch diese determiniert.
Mit der Postulierung eines objektiven Klassenbewußtseins des Proletariats stellt sich Lukács gegen die Marxsche Vorstellung von der klassenübergreifenden Kraft des Fetischismus. Das resultiert vor allem aus Lukács »Betonung der Subjektseite der Verdinglichung durch ihre Anerkennung als psychische Struktur« (Grenz 1974: 40), während Marx vor allem den objektiven Charakter von Verdinglichung und Fetischismus hervorhebt. Auch wenn sich im gesamten Werk von Marx verstreut Formulierungen finden, die eine Unterscheidung zwischen zugerechnetem und tatsächlichem Bewußtsein, wie Lukács sie vornimmt, nahelegen, [ 6 ] so ist doch vor dem Hintergrund der Marxschen Fetischkritik eine »Klassenbewußtseinstheorie durch eine an Hegel angelehnte Konstruktion eines ›identische(n) Subjekt-Objekt(s) des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses‹ … gerade nicht vorstellbar« (Kerber/Schmieder 1997: 91). Ohne Zweifel sind Klasseninteressen in den realen sozialen Gegebenheiten begründet. Lukács’ Begriff des objektiven Interesses meint aber mehr. Er unterstellt dem objektiven Interesse des Proletariats einen Emanzipationscharakter, obwohl als objektives Interesse, das nur aus den sozialen Gegebenheiten hergeleitet wird, streng genommen auch nur ein systemimmanentes Interesse verstanden werden kann.
Das Kapitalverhältnis kann nicht durch die konsequente Wahrnehmung von Interessen aufgehoben werden, da es diese Interessen selbst konstituiert. Lohnarbeiter als Lohnarbeiter wollen mehr Lohn, nicht den Kommunismus. Der Wille und das Interesse, die sich hier artikulieren, sind nicht jene von voraussetzungslosen Subjekten, sondern von gesellschaftlichen Charaktermasken. Die Verwirklichung der Emanzipation kann demnach nicht die Verwirklichung eines Klasseninteresses sein, sondern nur die Überwindung von Klassen und ihren Interessen. Die Arbeiterklasse kann nicht den Sozialismus aufbauen, sondern der Aufbau des Sozialismus impliziert den Abbau der Arbeiterklasse: Revolutionäre Subjekte »organisieren sich nicht als Arbeiter, sondern als Kommunisten, deren unmittelbares Ziel es nur sein kann, das Arbeiter-Dasein für immer abzuschütteln« (Kurz/Lohoff 1989: 27).
Schon Adorno hat nachdrücklich darauf verwiesen, daß wirkliche Freiheit, also die Aufhebung von Kapitalverwertung und staatlicher Herrschaft, nicht allein einer Klasse, sondern allen zugute käme: »Wäre Kritik der Gesellschaft nur das Interesse einer Klasse und nicht das konkrete der Menschheit, so wäre sie keinen Schuß Pulver wert« (zit. n. Braunstein 2011: 72). Ein revolutionäres Subjekt kann daher auch nicht in Gestalt einer Klasse existieren, sondern nur als Summe jener unzufriedenen und leidenden Menschen, die in Reflexion auf die gesellschaftlichen Zwänge und im Bewußtsein ihrer trotz all dieser Zwänge stets existierenden Freiheit, Kritik formulieren und ein Interesse an emanzipativer Aufhebung und Abschaffung artikulieren: ein »seiner eigenen Konstitution wie Logik gemäß ins Nichts sich aufhebender antagonistischer Anti-Souverän der zum revolutionären Subjekt sich assoziierenden Individuen« (Bruhn 1998: 21).
Um dem objektiven Interesse des Proletariats den Willen zur Revolution zu implantieren, muß Lukács auf anthropologische und geschichtsphilosophische Voraussetzungen zurückgreifen, auf denen sein Begriff des objektiven Interesses, seine Vorstellung eines »zugerechneten« Klassenbewußtseins letztlich auch beruht (Behrens/Hafner 1993: 93). Die Klasse mit einem zugerechneten Bewußtsein kann nicht mehr aus den materiellen Gegebenheiten in der Gesellschaft bestimmt werden. Das Proletariat bekommt so ein objektives Interesse zugeschrieben und wird zum scheinbar naturhaften Motor der Emanzipation. Es wird zum Fetisch, der mehr können soll als das Proletariat in der Realität kann und will.
Lács kommt es zu keiner Vermittlung zwischen dem »Prozeß der Defetischisierung in den individuellen Lebenslagen der Proletarier« und »der theoretischen Defetischisierung durch die revolutionäre Theorie selbst« (Lohmann 1983: 262 f.). Die Proletarier werden bei Lukács gewissermaßen in ihr empirisches Dasein und in ein nur gedachtes Ideal aufgespalten. Hans-Jürgen Krahl hat diese Spaltung bei Lukács in Anlehnung an Marx’ Unterscheidung in Bourgeois und Citoyen aus dem Text Zur Judenfrage treffend charakterisiert: »das intelligible Subjekt der kommunistischen Gesamtpersönlichkeit ist [bei Lukács] gleichsam ein kommunistischer citoyen, der an den Entscheidungen der Zentrale, die ein kommunistischer volonté général ist, teilnimmt. Als empirisches Individuum ist er ein kommunistischer bourgeois, der gleichsam immer diesen Entscheidungen unterworfen ist, und erst post festum zur Einsicht in die Notwendigkeit dieser Entscheidungen … kommen kann« (Cerutti u.a 1977: 20).
Bei Lukács werden Dialektik als kritische Methode, gesellschaftliche Totalität und Proletariat nochmals zusammengedacht. Geschichte und Klassenbewußtsein ist der letzte ernstzunehmende Versuch, positive und negative Dialektik, wie sie aus dem Kapitalverhältni s selbst entspringen, noch einmal zusammen zu zwingen (Scheit 2001: 167). Die Identifizierung der Totalität mit dem Proletariat, die in der Kritischen Theorie dann negiert werden wird, äußert sich bei Lukács noch darin, daß das, was in der Methode antizipiert wird – die sich selbstbewußt produzierende und reproduzierende Gesellschaft –, ausschließlich in Verbindung mit dem Proletariat gedacht wird, das dieses Antizipierte in der Praxis erst noch umzusetzen hat. Dennoch ist es richtig, Geschichte und Klassenbewußtsein mit seiner Rückbesinnung auf die Kategorie der Totalität, auf die Wertformanalyse und die Marxsche Fetischkritik als »Anfang vom Ende des Marxismus als Emanzipationstheorie der Arbeiterklasse« (Koltan 1997: 48) zu begreifen. Bereits Mitte der 1920er-Jahre war der Widerspruch zwischen dem zugerechneten Klassenbewußtsein und dem tatsächlichen Bewußtsein des Proletariats, zwischen dem weltgeschichtlichen Auftrag, den das Proletariat von Marx erhalten hatte und den es von Lukács in Erinnerung gerufen bekam, und dem tatsächlichen Desinteresse großer Teile des Proletariats an einer revolutionären Vollendung der menschlichen Emanzipation so groß, daß die materialistische Kritik darauf reagieren mußte. Nicht nur Lukács, sondern auch Korsch stand vor der grundsätzlichen Frage, warum die in der Theorie stets behauptete Notwendigkeit (verstanden im Sinne von Zwangsläufigkeit) der Revolution nicht schon längst Wirklichkeit geworden war. Die Rückbesinnung auf die Marxsche Fetischkritik war dafür naheliegend.
Von dieser Rückbesinnung ausgehend rekurriert Korsch auf eine potentiell revolutionär orientierte Subjektivität bei den Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft, ohne jedoch eine Klassenbewußtseinstheorie nach dem Lukácsschen Muster auszuarbeiten. Korsch favorisiert die Untersuchung konkreter Möglichkeiten der Intervention, »die Analyse solcher gesellschaftlichen Situationen, die denkbare Aktionen ermöglichen, die eine Systemtransformation herbeiführen könnten« (Kerber/Schmieder 1997: 105). Korsch vermeidet damit die bei Lukács mal mitschwingende, mal konstitutive Geschichtsphilosophie.
Lukács mit Geschichte und Klassenbewußtsein hingegen noch einmal versuchte, war das Unterfangen, den offensichtlichen Bruch zwischen Theorie und Praxis »mit einem theoretischen Kraftakt« (Koltan 1997: 48) zu kitten – ein Unterfangen, dessen Aussichtslosigkeit spätestens mit dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland offen zutage trat. Lukács sah die Stagnation im revolutionären Prozeß. Mit der Konstruktion eines objektiven, zugerechneten Klassenbewußtseins des Proletariats rettet er sich in die geschichtsphilosophische Gewißheit, daß diese Stagnation jedoch nur vorübergehend sein wird. Wie die von Lukács durchaus in Betracht gezogene, aber nicht für sehr wahrscheinlich gehaltene Möglichkeit, daß sich große Teile des Proletariats in der Krise den Fetischen der bürgerlichen Gesellschaft vollkommen unterordnen anstatt sie zu überwinden, historisch im Nationalsozialismus auf ganz spezifische Art und insbesondere durch den Antisemitismus Wirklichkeit werden sollte, konnte Lukács zur Zeit von Geschichte und Klassenbewußtsein noch nicht wissen. Es ist ihm zwar nicht vorzuwerfen, daß er die klassenübergreifende Anziehungskraft des Nationalsozialismus nicht vorausgesehen hat, aber es ist darauf hinzuweisen, daß sich in Geschichte und Klassenbewußtsein kaum Kategorien finden, die zum Verständnis der Begeisterung von großen Teilen des deutschen Proletariats für die deutsche Variante des kapitalistischen Antikapitalismus beitragen könnten (Cerutti u. a. 1977: 44).
Die Aufgabe der Reflexion des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Marxschen Fetischkritik stellte sich erst der Kritischen Theorie von Adorno und Max Horkheimer, für die Lukács zwar als eine Art Stichwortgeber fungierte, die aber im Angesicht der Katastrophe Dialektik dahingehend neu bestimmten, daß sie nur mehr als negative zu haben ist. Nach der keineswegs bloß in der nationalsozialistischen Propaganda, sondern im gemeinsam begangenen Massenmord und im Vernichtungskrieg real vollzogenen Aufhebung der Klassen in der Volksgemeinschaft, muß sich eine kritische Theorie der Gesellschaft von der Hoffnung auf die emanzipativen Potentiale des Proletariats endgültig verabschieden. Da der für den Traditionsmarxismus konstitutive Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit kein außerhalb jeglicher Geschichtlichkeit existierendes Verhältnis ist, kann er auch nicht unberührt bleiben von dem, was in der Kritischen Theorie als negative Aufhebung der Klassengesellschaft, als klassenlose Klassengesellschaft, als Zu-sich-selber-kommen der Klassenherrschaft durch die falsche Abschaffung der Klassen, kurz: als »Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose« (AGS 8: 390ff.) [ 7 ] , thematisiert wurde, in der sich die Klasse im Staat vom Kampf emanzipiert (Bruhn 2004: 26). Das proletarische Interesse hat sich im Nationalsozialismus mit dem Staat verbündet und sich an das Vernichtungswerk gemacht. Für die Emanzipation kann das nur bedeuten: »Nach der Wannsee-Konferenz ist jede Rede vom Klassenkampf … Beschönigung und Verdrängung der Geschichte« (ebd. 26). Damit wird jede positive Geschichtsphilosophie und Dialektik hinfällig: »Denn wenn es in der Geschichte des Kapitals jemals ein Kairos der Revolution gegeben hat, dann war es genau der Tag der Wannsee-Konferenz. Die Revolution aber blieb aus. … Wenn die Revolution jetzt noch stattfinden würde, wäre das zwar … sehr vernünftig, aber nur, wenn auch: immerhin, nachgetragene Rache. Die kommende Revolution kann keine mehr der Arbeiterklasse sein, keine des proletarischen Interesses. Die Revolution hat den Moment ihrer intensivsten historischen Notwendigkeit verpasst« (ebd. 27).
Nicht zuletzt aus dieser Erfahrung resultiert eine unbedingte Parteilichkeit gegen jede Art falscher Unmittelbarkeit. Neben dieser Parteinahme für die Vermittlung und den daraus resultierenden Interventionen gegen jeden Versuch ihrer barbarischen Aufhebung kann es Gesellschaftskritik nicht um eine Klassenbewußtseinstheorie im Sinne von Lukács gehen, sondern einzig um den Versuch, inmitten der falschen Gesellschaft individuelle und gesellschaftliche Selbstreflexion zu ermöglichen, um die Reste jener vom Zwang zu Kapitalproduktivität und Staatsloyalität systematisch beschädigten Mündigkeit zu retten, die eine Grundbedingung zur Verwirklichung von Freiheit ist.
Literatur
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Anmerkungen:
[ 1 ] Vgl. zur widersprüchlichen Lukács-Rezeption in Großbritannien Chun 1996: vor allem 184, 203, und 260f.
[ 2 ] Zu Korschs Bezugnahme auf die Marxschen Ausführungen zum Fetischismus vgl. Grigat 2007: 101ff.
[ 3 ] Zu Adornos Ausführungen über das eigentümliche Verhältnis von Schein und Wirklichkeit vor dem Hintergrund des Fetischismus vgl. Grigat 2007: 137.
[ 4 ] Auf die zentrale Rolle, die Arbeiterräte im Denken Lukács’ gespielt haben, weist sein früherer Assistent István Mészáros hin (1972a: 10).
[ 5 ] Auch sechs Jahrzehnte nach Erscheinen der Dialektik der Aufklärung lassen sich in der marxologischen Literatur Ausführungen finden, die dem Lukácsschem Erkenntnisprivileg des Proletariats huldigen und sich keine Sekunde für den historischen Bruch interessieren, den der Nationalsozialismus bedeutet hat: »Die unterschiedliche Positionierung von Klassenakteuren beeinflusst also die Formierung von Einstellungsmustern. Für gewöhnlich sind eher Arbeiter als Kapitalisten für nicht-fetischistische Denkformen empfänglich. Davon zeugt beispielsweise die Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland, wo bald nach der Veröffentlichung des Kapital die zentralen Einsichten der Kritik der politischen Ökonomie breit rezipiert wurden« (Gallas 2006: 320). Völlig zu Recht fragt Joachim Bruhn angesichts solcher mit Geschichtsvergessenheit wohl nur unzureichend charakterisierten Ausführungen: »Und wovon zeugt dann – ›beispielsweise‹ – die Deutsche Arbeitsfront? Die Volksgemeinschaft?« (Bruhn 2008: 72).
[ 6 ] Mészáros sieht zwischen Lukács und Marx in diesem Punkt Übereinstimmungen bis in die Terminologie. Vgl. Mészáros 1972b: 136.
[ 7 ] Adorno macht angesichts der Katastrophe ein für allemal Schluß mit der Anbetung des Proletariats als überhistorische Geheimwaffe der Emanzipation. Die Klassen- und Revolutionstheorie des traditionellen Marxismus hätte aber auch ohne die Erfahrung des Nationalsozialismus bei Adorno keine Chance gehabt.