Helmut Reichelt – Kritische Theorie als Programm einer neuen Marx-Lektüre * Leseprobe aus: ders., Neue Marx-Lektüre
Helmut Reichelt
Kritische Theorie als Programm einer neuen Marx-Lektüre
Adorno läßt keinen Zweifel aufkommen: Spricht er von gesellschaftlicher Objektivität, ist immer ein reales System gemeint. Alle gesellschaftstheoretischen Äußerungen – seine Auseinandersetzung mit der Soziologie, die Kritik am Positivismus, der Ideologiebegriff, Konstitutionsfragen, sein Begriff von Dialektik – sind nur denkbar und zu verstehen im Kontext dieses zentralen Theorems von der Objektivität dieser Struktur, der gesellschaftlichen Totalität. Die Kritische Theorie, ja der Begriff der Kritik selbst, steht und fällt mit dieser Voraussetzung.
Obwohl dieser Begriff im Mittelpunkt der Kritischen Theorie steht, ist ihm doch sehr schwer beizukommen. Hans Albert hat ihn abgetan mit der Bemerkung, dass damit nicht viel mehr gesagt würde, als »dass eben alles mit allem zusammenhänge«. Dieser Gefahr ist sich Adorno bewusst, denn Gesellschaft läßt sich, wie er wiederholt ausführt, nicht in einer Verbaldefinition fassen. Er verweist auf Nietzsche, der den Grund nennt: Wo immer »sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt «, scheitern Definitionen. So auch beim Begriff der Gesellschaft. Sie sei »wesentlich Prozeß«, [ 1 ] konstatiert Adorno, und »nur eine ausgeführte (Theorie) der Gesellschaft könnte sagen, was Gesellschaft ist.« (8, 11)
Doch wie ist zu verfahren, wenn nur die ausgeführte Theorie die Definition ist, aber gleichwohl etwas über diesen Gegenstand mitgeteilt werden soll? Adorno hilft sich, indem er, wie er in seiner Einleitung in die Soziologie (1968) betont, lediglich »Fragmente« dieser Theorie vorträgt, [ 2 ] gleichsam Kurzformeln, die Leitfadencharakter für die weitere Ausformulierung haben. Synonym für Gesellschaft gebraucht Adorno die Ausdrücke Totalität, objektive Struktur, wobei er wiederholt betont, dass diese Konzeption von Gesellschaft an einen bestimmten Typus von Gesellschaft selbst gebunden ist. Adorno bezieht den Begriff der Gesellschaft auf die bürgerliche Gesellschaft. Wenn »wir von Gesellschaft in dem emphatischen Sinne (Herv. H.R.) sprechen, den dieser Begriff seit dem neunzehnten Jahrhundert nun einmal angenommen hat«, [ 3 ] dann ist dies etwas anderes als Gesellschaft in »vergangenen Epochen« (8, 9). [ 4 ] Diese bürgerliche Gesellschaft unterscheidet sich von jenen anderen »Gesellschaftstypen « darin, »dass … zwischen den Menschen ein Funktionszusammenhang besteht, der dann allerdings wieder nach den geschichtlichen Stufen erheblich variiert, der gewissermaßen keinen ausläßt, in den alle Angehörigen der Gesellschaft verflochten sind und der ihnen gegenüber eine gewisse Art von Selbständigkeit annimmt; während jene anderen Gesellschaftstypen, wie ich sie Ihnen aufgezählt habe, demgegenüber ein Moment haben, das viel loser ist, also ein Moment haben, in dem ein solcher Funktionszusammenhang, ein solches Wechselspiel zwischen den einzelnen Menschen und dem Ganzen nicht statthat…« [ 5 ] Solche Umschreibungen von Gesellschaft, werden sie als Erläuterungen der anspruchvollen, aus Hegels Philosophie stammenden Totalitätskonzeption aufgefaßt, können zu solchen Mißverständnissen Anlaß geben, wie sie oben erwähnt wurden; aber schon in der eben zitierten Formulierung wird Zusätzliches anvisiert, was leicht übersehen wird, weil Adorno diesen Aspekt gleichsam nur nebenbei erwähnt: die Selbständigkeit dieses Ganzen. Es ist dies aber das entscheidende Moment überhaupt in Adornos Objektivitätsbegriff: Wenn von Verselbständigung die Rede ist, dann meint Adorno eine wirkliche Verselbständigung, eine durch das Handeln der Menschen selbst hervorgebrachte Prozessualität, die ein Eigenleben gewinnt, sich gegenüber allen Handelnden zu einer eigenen dynamischen Einheit verkehrt und die Menschen zu Exekutionsorganen dieses »Ganzen« herabsetzt. Und das trifft eben nur in der bürgerlichen Gesellschaft zu. Nur im Kontext dieser Konzeption einer objektiven gesellschaftlichen Struktur erhält der Ausdruck Totalität seine präzise Bedeutung, aber ist dann natürlich auch mit einer außerordentlichen Hypothek belastet: Die Theorie der Gesellschaft muss entwickeln, wie – mit Adornos Worten – »verselbständigte Verhältnisse aus den Verhältnissen von Menschen abzuleiten« (8, 12) sind, mit anderen Worten: wie sich reale Verselbständigung konstituiert.
In diesem Begriff von Gesellschaft sind also immer die konstituierenden Subjekte mitgedacht, ohne Subjektivität keine Objektivität; was aber nicht bedeutet, dass diese von den handelnden Menschen hervorgebrachte Struktur auch verstehbar sein müßte. Das Gegenteil ist der Fall, das Unverstehbare ist geradezu ein konstitutives Moment dieser Totalität, die gleichwohl aus verstehbarem Handeln zu entwickeln ist. »Aber die objektive Rationalität der Gesellschaft, die des Tausches, entfernt sich durch ihre Dynamik immer weiter von dem Modell der logischen Vernunft. »Darum ist Gesellschaft«, so heißt es pointiert in der Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« (1969), »das Verselbständigte, wiederum auch nicht länger verstehbar; einzig das Gesetz von Verselbständigung. Unverstehbarkeit bezeichnet nicht nur ein Wesentliches ihrer Struktur, sondern ebenso die Ideologie…« (8, 296)
Der Kern einer dialektische Gesellschaftstheorie ist also in diesem Moment an verselbständigter Objektivität zu sehen, die nicht mehr hermeneutisch aufgeschlossen werden kann, ein Konstitutionsprozeß, zu dem es wesentlich gehört, dass die Genese im Resultat verschwunden ist, »aufgehoben« – wie Hegel sagen würde. In einer prägnanten Formulierung, die sich in den »Notizen von einem Gespräch« (1965) mit Sohn-Rethel finden, hat Adorno diesen Sachverhalt zusammengefaßt: »Historischer Materialismus ist Anamnesis der Genese.« [ 6 ] Gesellschaft wird geradezu bestimmt als das, was sich dem Verstehen entzieht: »…Reflexion auf Gesellschaft (hebt) dort an, wo Verstehbarkeit endet« (8, 12) und Aufgabe der Gesellschaftstheorie wäre es darum, die »Nichtverstehbarkeit zu verstehen« (ebd.). In die Struktur der Gesellschaft ist deren Undurchsichtigkeit »eingebaut« und es kommt entscheidend darauf an, dieses Moment an opaker Objektivität theoretisch zu durchdringen und als subjektive Konstitution aufzuzeigen.
Jedem Hegelkenner wird natürlich sofort auffallen, dass Adorno in diesen Gedankengängen Motive aus Hegels Phänomenologie wiederholt. Hegels Programm, nämlich »Substanz ebenso sehr als Subjekt« zu begreifen, alle Substantialisierung theoretisch aufzulösen als Gegenständlichkeit einer Gedankenbewegung, schließt die Kehrseite ein, die erneute Substantialisierung des Subjekts; dem Bewußtsein kommt auf der nächsten Stufe die Erfahrung der vorangegangenen Stufe als neuer Gegenstand, als ein undurchschaut Ansichseiendes, entgegen. Dieser dialektische Erfahrungsprozeß »funktioniert« also nur im Kontext des »natürlichen Bewußtseins«, das sich auf allen Stufen erneut herstellt. Natürliches Bewußtsein heißt, dass in der Unterscheidung von Bewußtsein und Gegenstand, von Subjekt und Objekt, der Gegenstand – obwohl ein Konstituiertes, nämlich die Gegenständlichkeit einer Gedankenbewegung – dem Bewußtsein immer als ein Ansich erscheint, ihm von außen entgegenkommt, es diesen Gegenstand als unabhängig von ihm erfährt und es sich selbst, wie Hegel im Kontext der sinnlichen Gewißheit sagt, wegdenken kann, während der Gegenstand bleibt.
Diese Unterscheidung zwischen Subjekt und Objektivität in der Form des Ansich, und der entsprechenden Methode, der Unterscheidung zwischen dem »zusehenden« Philosophen, der dem Bewußtsein »zusieht«, wie es seine Erfahrung macht, fi ndet sich auch in der Kritischen Theorie: Der Philosoph, das zusehende Bewußtsein, das den Begriff entfaltet, das ist die Kritische Theorie; aber wer spielt die Rolle des erscheinenden Wissens? Wer macht die Erfahrung der gesellschaftlichen Objektivität und vor allem, wie macht er sie?
Diese Frage ist nicht abzulösen von jener nach den Konstitutionsbedingungen von Theorie selbst. Wie eingangs hervorgehoben unterstellt Adorno, dass nur die neuzeitlich bürgerliche Gesellschaft »Gesellschaft im emphatischen Sinne« sei. Nur hier kann von Objektivität gesprochen werden, von einer realen Verselbständigung gegenüber den handelnden Subjekten. Das heißt aber auch: nur hier kann überhaupt »Gesellschaft« erfahren werden. Adorno hat in seinen Seminaren immer wieder die Studierenden ermuntert, den »bösen Blick« zu entwickeln, sich für die Erfahrung von Gesellschaft zu sensibilisieren und dann das Erfahrene theoretisch zu verarbeiten, wie umgekehrt die Sensibilität für Erfahrung durch Aneignung kritischer Theorie zu schärfen. Denn Theorie kann letztlich nichts anderes sein als eine spezifische Form der Verarbeitung von erfahrener Objektivität; wird aber diese bewußte Reflexion auf Erfahrung abgeschnitten, verkürzt sich die Theorie um Entscheidendes: Es ist dies Adornos Kritik der positivistischen Soziologie. Sie ist eine dieser Gestalten des erscheinenden Wissens. Der »Doppelcharakter (der Gesellschaft) aber modifiziert das Verhältnis sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu ihrem Objekt, und davon nimmt der Positivismus keine Notiz. Er behandelt Gesellschaft, potentiell das sich selbst bestimmende Subjekt, umstandslos so, als ob es Objekt wäre, von außen her zu bestimmen … Solche Substitution von Gesellschaft als Subjekt durch Gesellschaft als Objekt macht das verdinglichte Bewußtsein der Soziologie aus.« (8, 316) Der Positivismus kappt die Erfahrung realer Verselbständigung und mit dem Verzicht auf den theoretischen Nachvollzug der Genese von Objektivität versperrt er sich auch die Reflexion auf seine eigene Herkunft. Wir können daher von einer doppelten Aufgabenstellung der dialektischen Soziologie sprechen: Sie ist theoretischer Nachvollzug der realen Entstehung von Gesellschaft als objektive Struktur und Totalität und sie ist Kritik der Wissenschaft als »erscheinendes Wissen«, ein falsches Bewußtsein der Objektivität. Das ist – in wenigen Sätzen – der Kerngehalt des dialektischen Gesellschaftsbegriffs, gewissermaßen die Programmatik einer auszuführenden Theorie, und wir wollen jetzt der Frage nachgehen, ob Adorno in seinen weiteren Ausführungen diese Programmatik präzisiert hat oder ob er womöglich dahinter zurückgefallen ist. Adorno bemüht eine spekulative Sprache und zwar vor allem dann, wenn er die Objektivität der Struktur, die reale Einheit des Systems als Totalität, thematisiert. Er spricht sogar – ganz hegelianisch von der Gesellschaft als dem »objektiv Erscheinenden« [ 7 ] oder – eine analoge Wendung –, dass die Gesellschaft »in einer faktischen sozialen Situation erscheint« (8, 10). Diese Formulierungen werden natürlich in der soziologischen Theoriediskussion als philosophische Relikte, als Restbestände spekulativen Denkens abgetan, die mit Wissenschaft unvereinbar sind. Eine Theorie, für die eine die Individuen beherrschende »objektive Begrifflichkeit« das »Allerwirklichste« ist, das objektive System selbst als ein »objektiv Erscheinendes« charakterisiert wird, ist für die herrschende Theorie »Essentialismus«, Spekulation über eine »Hinterwelt« (Nietzsche) aus dem 19. Jahrhundert. Adorno würde demgegenüber darauf beharren, dass der gesellschaftstheoretische Materialismus erst dann seine theoretische Brisanz entfaltet, wenn er diese Form gesellschaftlicher Realität als objektiven Begriff entfalten kann.
Kann er das? Wie schon oben angedeutet, spricht Adorno im »emphatischen Sinne« von Gesellschaft nur im Hinblick auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die er auch die Tauschgesellschaft nennt. Damit teilt er natürlich nicht die Vorstellungswelt der Ökonomen, die in ihren Robinsonaden bzw. der heutigen Gestalt dieses Theorems, dem methodologischen Individualismus, von vorausgesetzten Einzelnen ausgehen, die dann am Markt zusammentreffen und tauschen. Diese Vorstellung kritisiert er als Sozialnominalismus. [ 8 ] Den Ausdruck Tauschgesellschaft gebraucht Adorno synonym mit Kapitalismus, worauf es ihm aber ankommt, ist die Tatsache, dass in dieser Gesellschaft alle Menschen diesem Tauschmechanismus unterworfen sind, an dem die Kritische Theorie einsetzt, wenn es um die Präzisierung des Totalitätsgedankens geht, also um den Nachweis der Einheit dieser wirklichen Systematizität.
Den zentralen Gedanken hinsichtlich dieser Problematik hat Adorno schon in den 1930er Jahren von Alfred Sohn-Rethel aufgenommen. Im Gegensatz zu Horkheimer, der davon gar nichts hielt, hat Adorno zeitlebens an diesem Gedanken festgehalten und ihn Schritt für Schritt ins Zentrum seines Gesellschaftsbegriffs gerückt, der seine »objektive Basis in dem begrifflichen Wesen oder in dem Abstraktionsverhältnis der gesellschaftlichen Objektivität selber hat, das durch den Tausch gegeben ist«. [ 9 ] Diese Tauschabstraktion ist also ein Begriffliches, das »in der Sache selbst« waltet, es ist also nicht die »konstitutive Begrifflichkeit der erkennenden Subjekte« [ 10 ] gemeint, sondern eine von den Subjekten im Austausch hervorgebrachte, existierende Abstraktion, eine »Einheit, die sich durch den Trennungs-, durch den Abstraktionsmechanismus hindurch überhaupt erst vollzieht, eigentlich erst konstituiert «. [ 11 ] Erst mit dieser Konzeption einer »objektiven Begrifflichkeit« kann Gesellschaft als realer Vorrang eines Allgemeinen entwickelt werden, unter das die Menschen subsumiert sind und das zugleich als ein Abstraktes wirklich sein soll: »Gesellschaft ist so wesentlich Begriff wie der Geist. Als Einheit der durch ihre Arbeit das Leben der Gattung reproduzierenden Subjekte wird in ihr objektiv, unabhängig von aller Reflexion, abgesehen von den spezifischen Qualitäten der Arbeitsprodukte und der Arbeitenden. Das Prinzip der Äquivalenz gesellschaftlicher Arbeit macht Gesellschaft im neuzeitlichen Sinn zum Abstrakten und zum Allerwirklichsten, ganz wie Hegel es vom emphatischen Begriff des Begriffs lehrt.« (5, 267) Gesellschaft als Begriff und eben nicht in dem Sinne, dass wir als Wissenschaftler einen Gesellschaftsbegriff bilden, sondern die Gesellschaft selbst soll Begriff sein, wie Adorno dies in der Vorlesung herausstellt: »Das, was Gesellschaft eigentlich zu einem Gesellschaftlichen macht, wodurch sie im spezifischen Sinne sowohl begrifflich konstituiert wird, wie auch real konstituiert wird, das ist das Tauschverhältnis, das virtuell alle Menschen an diesem Begriff von Gesellschaft teilhaben läßt.« [ 12 ] An diesem Punkt laufen nun alle Fäden zusammen. Gesellschaft als ein objektiv Begriffliches und dies zugleich als Kern der materialistischen Theorie. Adorno beharrt darauf: »Den Vorwurf des Idealismus hat nicht ein jeder zu fürchten, der Begriffliches der gesellschaftlichen Realität zurechnet« (8, 209), und Adorno gesteht zu, dass die Kritische Theorie als Ganze mit diesem Gedanken steht und fällt. »Der Übergang zur Kritik liegt also eben in dieser Einsicht in die Bestimmtheit, wenn Sie so wollen, in den Begriffscharakter der objektiven Struktur selbst … das ist das Scharnier, könnte man sagen, an dem die Konzeption einer kritischen Theorie der Gesellschaft mit der Konstruktion des Begriffs der Gesellschaft als einer Totalität zusammenhängt.« [ 13 ]
Wie ist nun der Nachweis dieser objektiven Begrifflichkeit und deren Ausbreitung zu einer übermächtigen Totalität zu erbringen? Insbesondere in den letzten gesellschaftstheoretischen Veröffentlichungen hat sich Adorno bemüht, die Konstitution des Wertes als eine »Einheit der Vielen« zu entwickeln, die »Objektivität eines Begrifflichen« auf einen Abstraktionsvorgang zurückzuführen, den die Subjekte unbewusst durchführen. Er bezieht sich dabei auf den zentralen, von Marx im Fetischkapitel geäußerten Gedanken, von dem auch Sohn-Rethel in seinen Arbeiten ausgegangen ist: »Indem die Menschen ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« [ 14 ] Auf diesen letzten Satz kommt es an: Wie ist dieses Moment des Nichtwissens im bewußten Handeln der Beteiligten zu fassen. Und wie wir noch sehen werden, konzentriert sich die gesamte Problematik der Ökonomie um dieses Kerntheorem des historischen Materialismus.
Auch in wiederholten Anläufen, insbesondere in der letzten Soziologievorlesung, ist es Adorno nicht gelungen, diesen Vorgang exakt zu fassen. Trotz weitgehender Übereinstimmung mit den Intentionen Sohn-Rethels hat er zwar immer am Gedanken der Tauschabstraktion festgehalten, aber die Ausführungen von Sohn-Rethel scheinen ihn nie ganz überzeugt zu haben. [ 15 ] In den oben genannten »Notizen« wird die »enzyklopädische Analyse der Tauschabstraktion« als ein Desiderat genannt. Indirekt muss Adorno eingestehen, dass auch er selbst den Beweis schuldig geblieben ist.
Auch Adornos Erläuterungen der Beziehung zwischen dieser Tauschabstraktion und dem Gelde verbleiben bei Andeutungen: »Dieser Tausch vollzieht sich im allgemeinen, wie Sie alle wissen, in der entwickelten Gesellschaft nach der Äquivalenzform des Geldes; und die klassische Nationalökonomie schon und im Anschluß an sie Marx haben nachgewiesen, dass die wahre Einheit, die hinter dieser Äquivalentform des Geldes steht, die durchschnittlich aufzuwendende gesellschaftliche Arbeitszeit ist … Bei diesem Tauschen nach Arbeitszeit, nach durchschnittlicher gesellschaftlicher Arbeitszeit, wird notwendig abgesehen von der spezifischen Gestalt der miteinander zu tauschenden Objekte, sie werden stattdessen auf eine allgemeine Einheit reduziert. Die Abstraktion liegt also hier nicht in dem abstrahierenden Denken des Soziologen, sondern in der Gesellschaft selbst steckt eine solche Abstraktion, oder, wenn Sie mir es jetzt noch einmal gestatten, auf dieses Wort zu rekurrieren, es steckt in der Gesellschaft als einer Objektivität bereits etwas wie ›Begriff‹. Und ich glaube, die entscheidende Differenz einer positivistischen von einer dialektischen Lehre von der Gesellschaft ist die, dass eine dialektische Lehre von der Gesellschaft auf diese in der Sache liegende Objektivität des Begriffs rekurriert, während die positivistische Soziologie diesen Vorgang verleugnet…« [ 16 ] Alle Motive der dialektischen Theorie sind hier versammelt, aber alle Aussagen bleiben auf der Ebene der Versicherung. Analoges gilt auch für den postulierten inneren Zusammenhang zwischen der kategorialen Unbewußtheit im Tauschakt und der aus der Tauschhandlung zu entwickelnden Klassengesellschaft. Adorno bezieht sich auf Marx, der in »großartiger Einheit« von Kritik und Wissenschaft diesen Zusammenhang entwickelt hätte. Sein Werk »…heißt Kritik der politischen Ökonomie, weil es aus Tausch und Warenform und ihrer immanenten, ›logischen‹ Widersprüchlichkeit das seinem Existenzrecht nach zu kritisierende Ganze herzuleiten sich anschickt. Die Behauptung der Äquivalenz des Getauschten, Basis allen Tausches, wird von dessen Konsequenzen desavouiert. Indem das Tauschprinzip kraft seiner immanenten Dynamik auf die lebendige Arbeit von Menschen sich ausdehnt, verkehrt es sich zwangvoll in objektive Ungleichheit, die der Klassen.« (8, 307)
Adorno knüpft hier an Gedankengänge an, die Horkheimer bereits in den frühen Aufsätzen der 1930er Jahre niedergeschrieben hat. Horkheimer spricht dort wiederholt von einem immanenten Zusammenhang der Kategorien der politischen Ökonomie, wobei auch er den Ausgangspunkt dieser ganzen Entwicklungsdynamik an der Warenform festzumachen sucht, die es ermöglichen soll, sowohl Klassengesellschaft wie auch die immanente Dynamik dieser Objektivität aus diesem ersten Prinzip »abzuleiten«. »Die kritische Gesellschaftstheorie als ganze (ist) ein einziges entfaltetes Existentialurteil«, stellt Horkheimer in seinem berühmten Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) [ 17 ] fest, also eine besondere theoretische Form, in der die Einheit des objektiven Systems in methodisch adäquater Gestalt theoretisch reproduziert wird. Horkheimer ist der erste Theoretiker, der in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Hegelschen Begriffs der Darstellung »wieder entdeckt« hat, nämlich als Entwicklung von Kategorien auf dem Wege einer »immanenten Konkretisierung«, ein Verfahren, das von Hegel (auch) als Nachweis des notwendigen Zusammenhangs des Ganzen gedacht war. Dieses »entfaltete Existentialurteil« besagt, »grob formuliert, dass die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt … Die einzelnen Denkschritte innerhalb dieser Theorie sind, wenigstens der Intention nach, von der gleichen Strenge wie die Deduktion innerhalb einer fachwissenschaftlichen Theorie, jeder ist dabei ein Moment in der Konstitution jenes umfassenden Existentialurteils.« [ 18 ] Horkheimer wiederholt aber in dieser Abhandlung lediglich, was er in dem zwei Jahre zuvor erschienen Aufsatz Zum Problem der Wahrheit (1935) schon sehr viel deutlicher niedergeschrieben hatte: »Die gegenwärtige Gesellschaftsformation ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfaßt. Aus dem allgemeinen Grundbegriff der Ware wird hier in rein gedanklicher Konstruktion der des Wertes abgeleitet. Aus ihm entwickelt Marx die Kategorien von Geld und Kapital in einem geschlossenen Zusammenhang; alle historischen Tendenzen dieser Form der Wirtschaft, die Zusammenballung der Kapitalien, die sinkenden Verwertungsmöglichkeiten, Arbeitslosigkeit und Krisen sind mit diesem Begriff gesetzt, werden in strenger Folge abgeleitet. Zwischen dem ersten allgemeinsten Begriff, dessen Abstraktheit mit jedem theoretischen Schritte weiter überwunden wird, und den einmaligen historischen Verläufen soll – zumindest der theoretischen Intention nach – ein geschlossener gedanklicher Zusammenhang bestehen, in dem jede These notwendig aus der ersten Setzung, dem Begriff des freien Tausches von Waren folgt … Dieser Versuch, die Theorie in der geschlossenen Gestalt eines in sich notwendigen Gedankenganges bis zu Ende durchzuführen, hat einen objektiven Sinn. In der theoretischen Notwendigkeit spiegelt sich die reale Zwangsläufigkeit … die Selbständigkeit, welche die ökonomischen Mächte den Menschen gegenüber gewonnen haben, die Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Gruppen von der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Apparates.« [ 19 ]
Einige wichtige Gedanken, die wir beim »späten« Adorno finden, sind hier schon vorgedacht: Verselbständigung, Einheit des objektiven Ganzen, Kritik als Darstellung der Kategorien – und doch gibt es einen Zentralgedanken, der sich bei Horkheimer nicht findet: den der Tauschabstraktion, den Horkheimer immer nur in der Version von Sohn-Rethel kannte und den er vehement zurückwies und sich damit auch den Zugang zu einer subtileren Auseinandersetzung mit den Kategorien der Ökonomie versperrte. So sind seine Charakterisierungen der Kategorien in der Marxschen Kritik mehr als fragwürdig: »Im Kapital führt Marx die Grundbegriffe der klassischen englischen Nationalökonomie: Tauschwert, Preis, Arbeitszeit und andere nach ihren exakten Bestimmungen ein. Alle auf Grund der wissenschaftlichen Erfahrung damals fortgeschrittensten Definitionen werden herangezogen. Im Gang der Darstellung gewinnen jedoch diese Kategorien neue Funktionen; sie tragen zu einem theoretischen Ganzen bei, dessen Charakter den statischen Anschauungen, innerhalb derer sie entstanden sind, …widerspricht. Das Ganze der materialistischen Ökonomik ist dem System der klassischen entgegengesetzt, und doch sind die einzelnen Begriffe übernommen. Die dialektischen Bewegungsformen des Denkens erweisen sich als dieselben wie diejenigen in der Wirklichkeit. [ 20 ]
Der letzte Satz wiederholt das Widerspiegelungstheorem und Adorno hätte einer solchen Lesart der Marxschen Kritik nicht zugestimmt. Horkheimers Darlegungen des Gesamtzusammenhangs der Kategorien und Begriffe im Marxschen Kapital haben weitgehend intuitiven Charakter und sind wohl mehr vor dem Hintergrund seiner Hegellektüre zu lesen. Gleichwohl hält Adorno, wie auch Horkheimer, sein Leben lang (und im Gegensatz zur Unterstellung von Habermas) an der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie fest. [ 21 ]
Warum nun soviel Aufhebens mit diesem ökonomischen Kern der Kritischen Theorie, wenn sie selbst mit dem Nachweis der Realität des Allgemeinen gescheitert ist? Der Begriff des Systems, der Begriff einer objektiven Struktur ist der wundeste Punkt in der Sozialwissenschaft. Und die Kritische Theorie ist m.E. die einzige Denkrichtung, welche – trotz dieses Defizits – die elaborierteste sozialwissenschaftliche Programmatik aufweist. Begriffe, die in der Soziologie wie Spielmarken umhergeschoben werden – Verselbständigung, Realabstraktion, Objektivität, falsches Bewußtsein –, kann sie mit einem präzisen Sinn verbinden. Dazu bedarf es allerdings noch einer weiteren Entfaltung ihrer Programmatik. Obwohl Adorno ganz offensichtlich an Hegels Argumentation in der Phänomenologie des Geistes anknüpft, hat er doch nirgends bewusst darauf hingewiesen, dass diese Übertragung Hegelschen Denkens in die materialistische Theorie einen doppelten Begriff von Kritik impliziert. Einer dieser beiden wurde gerade genannt: nämlich im Adornoschen Rekurs auf Marx und dessen Kritik der politischen Ökonomie. Adorno hat – wie auch Horkheimer – sehr genau gesehen, dass Marx mit dem Begriff der Kritik nicht nur Wissenschaftskritik meint, sondern Kritik als Darstellungsprinzip begreift, als Kritik der Kategorien, als deren dialektische Entwicklung. Diese Dialektik, von der Ador no selbst sagt, dass sie das »Nichtverstehbare« (nämlich die objektive Abstraktion) in ihrer immanenten Dynamik als Kategorienkritik zu entwickeln hätte, ist zugleich der methodisch anspruchsvolle Nachweis der Einheit dieses wirklichen, realen Systems. Als dieser theoretische Nachvollzug der realen »Verselbständigung aus Verhältnissen zwischen Menschen«, wie Adorno formuliert, berührt dieser erste Kritikbegriff einen Topos, den wir aus der soziologischen Theorie als das Bemühen kennen, Handlungstheorie und Systemtheorie systematisch zu verknüpfen.
Aber es gibt auch einen zweiten Kritikbegriff, der zu thematisieren wäre unter dem Titel »erscheinendes Wissen«, also wie diese gesellschaftliche Objektivität von den Menschen selbst erfahren wird. Wenn Verselbständigung gebunden ist an diesen Vorgang einer den Subjekten selbst nicht durchsichtigen Abstraktion, die ihnen (im Gelde, und damit verbunden in allen anderen Kategorien) als Gegenstand entgegenkommt, dann muss die Kritik der Soziologie als eine Gestalt des Wissens entwickelt werden, die sich grundsätzlich von der Kritik im ersten Sinne unterscheidet. In der oben zitierten Passage hat Adorno diesen Unterschied auch benannt: vom Doppelcharakter der Gesellschaft nimmt der »Positivismus keine Notiz. Er behandelt Gesellschaft … umstandslos so, als ob sie Objekt wäre, von außen her zu bestimmen…« (8, 316)
Das ist – zuerst einmal sehr pauschal – Adornos Kritik an der Soziologie. Impliziert ist ein Begriff von Positivismus, der nur in der Kritischen Theorie und in der frühen Hegelkritik von Marx zu finden ist. Konstitutiv für diesen Positivismus ist ein analoges Moment an kategorialer Unbewußtheit, wie es bereits im Konstitutionsakt der Kategorien der politischen Ökonomie anvisiert wird, und das Adorno immer voraussetzt. Positivismus heißt dann Nichtdurchschauen der Genese von Vergegenständlichung und demgegenüber ist, wie bereits oben zitiert, der »historische Materialismus die Anamnese der Genese«. Dies korrespondiert mit Adornos Bestimmung der Soziologie, die »wesentlich in der Selbstreflexion der Wissenschaft bestehe«, [ 22 ] der »traditionellen « Soziologie als einer sich selbst mißverstehenden Wissenschaft, die lediglich die Erfahrung gesellschaftlicher Objektivität artikuliert, sich aber als Theorie versteht.
Adorno stellt den Erfahrungsbegriff ins Zentrum seiner Theorie, denn Theoriebildung setzt ein mit der Erfahrung dieser realen Verselbständigung, der »Realabstraktion«, wie sie aus der Binnenperspektive der Menschen wahrgenommen wird. Zur Erläuterung dieses Erfahrungsbegriffs soll hier auf den emphatischen Begriff von Erfahrung rekurriert werden, den wir in Adornos Hegelstudien finden. Bezeichnenderweise hat Adorno eine dieser Abhandlungen mit dem Titel »Erfahrungsgehalt« überschrieben, läßt aber ganz bewusst den »Begriff der Erfahrung zunächst in der Schwebe«: konkretisieren könne ihn nur die »Darstellung« (5, 295). In dieser Darstellung unterscheidet Adorno zwischen Erfahrungsgehalten der Hegelschen Philosophie und Erfahrungsgehalten in der Hegelschen Philosophie. Was ist der Unterschied, worauf läuft es hinaus? Es geht Adorno um nichts Geringeres als dieses Moment an Unbewußtheit, das er allerdings in dieser Hegelinterpretation nicht mit dem Positivismus zusammendenken würde. Hegels Philosophie als Ganze ist eine Reflexionsgestalt dieser Objektivität. »Das Interesse gilt nicht dem, wie Hegel, subjektiv, zu dieser oder jener Lehre gelangte, sondern, in Hegelschem Geiste, dem Zwang des objektiv Erscheinenden, das in seiner Philosophie sich reflektierte und niederschlug … Gefragt wird danach, was seine Philosophie als Philosophie ausdrückt.« (5, 296) Adorno spricht es explizit aus, dass dieses Verständnis von Erfahrung den üblichen Erfahrungsbegriff »eingreifend verändert« (5, 300), denn es ist der absolute Idealismus selbst, der als Erfahrungsgehalt thematisiert wird. [ 23 ]
Im Zentrum der Gesamtkonstruktion der Hegelschen Philosophie sieht Adorno – sehr abgekürzt – die Hegelsche Einsicht, dass die Kategorie der Subjektivität selbst noch ein Vermitteltes ist; was dem Individuum als ein Erstes und unwiderlegbares Absolutes gilt, ist bis in jedes sinnliche Einzeldatum abgeleitet und sekundär (5, 303ff.). Es ist die Erfahrung der Selbstverabsolutierung bürgerlicher Subjektivität, die über sich hinausweist und sich als ein Vermitteltes zu begreifen beginnt, um sich als Moment eines Gesamtzusammenhanges zu verstehen, den Hegel dann allerdings selbst wieder hypostasiert. »Die Hegelsche Selbstreflexion des Subjekts im philosophischen Bewußtsein ist in Wahrheit das dämmernde kritische Bewußtsein der Gesellschaft von sich selber.« (5, 313) Die Gesellschaftstheorie hat infolgedessen – und das habe die Marxsche Theorie geleistet – die Hegelsche Philosophie in das zurückzuübersetzen, was Hegel »in die Sprache des Absoluten projiziert hatte« (5, 318). [ 24 ] Es ist dies übrigens der Hintergrund von Adornos Umkehrung des berühmten Satzes von Hegel, demzufolge das Wahre das Ganze sei, und dem Adorno entgegenhält: Das Ganze ist das Unwahre.
Im strikten Gegensatz zur Verabsolutierung des verselbständigten Systems zum »wahren Ganzen« durch Hegel versteht sich die Kritische Theorie als eine Theorie auf Widerruf: Das in seinem »Existenzrecht zu kritisierende Ganze«, gesellschaftliche Objektivität als »eigentliches « Obj ekt der Theorie, ist als praktisch zu Überwindendes gedacht und mit der praktischen Abschaffung verschwindet auch der Gegenstand der Theorie und damit würde auch Theorie verschwinden. »Theorie wird vorausgesetzt und benutzt, um sie in ihrer gängigen Gestalt abzuschaffen. Das Ideal einer veränderten wäre ihr Erlöschen.« [ 25 ]
Dass dieser Begriff von Erfahrung nicht identisch ist mit dem des Szientismus, muss nicht weiter ausgeführt werden. Wesentlich aber ist, dass Hegel in der theoretischen Verarbeitung dieser Erfahrung verabsolutierter Subjektivität ein Moment an kategorialer Bewußtlosigkeit aufweist, das konstitutiv ist für diese Gesellschaft selbst und das Hegel mit dem Positivismus teilt. Es ist eine Positivismuskritik, die schon beim jungen Marx in seiner Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Staatsrecht zu finden ist, wo er explizit von Hegels »unkritischem Positivismus « spricht und ihn als Kehrseite der mystischen Spekulation kritisiert. Positivismus und Spekulation sind zwei Seiten einer Medaille und das ist auch heute noch so, nur natürlich nicht mehr in dieser offenen Gestalt, wie dies in Hegels Rechtsphilosophie der Fall ist.
Darum ist auch der Adornosche Begriff von Positivismus zu präzisieren. Adorno hat zwar – wie eingangs skizziert – kritisiert, dass der Positivismus vom Doppelcharakter der Gesellschaft »keine Notiz nimmt« (keine Notiz zu nehmen ist also konstitutiv für diese Form des Bewußtseins, es ist nicht ein bewußtes Nicht-zur-Kenntnis-nehmen, sondern eine dieses bestimmte Wissen selbst konstituierende Unbewußtheit), aber Adorno selbst kann diesen Doppelcharakter immer nur konstatieren, indem er – paradigmatisch – die beiden sich ergänzenden Momente dialektisch gegeneinander hält: Der sich verabsolutierenden Subjektivität korrespondiert eine monströse Begriffsbildung in der nicht abzuweisenden Erfahrung verselbständigter Einheit der Gesellschaft. Wie in einem Ping-Pong-Spiel wird Weber gegen Durkheim ausgespielt, Durkheim gegen Weber. »Tatsächlich ist Handeln innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, als Rationalität, weitgehend objektiv ebenso ›verstehbar‹ wie motiviert. Daran hat die Generation von Max Weber und Dilthey zu Recht erinnert. Einseitig war das Verstehensideal, indem es ausschied, was an der Gesellschaft der Identifikation durch den Verstehenden konträr ist. Darauf bezog sich Durkheims Regel, man solle die sozialen Tatsachen wie Dinge behandeln, prinzipiell darauf verzichten, sie zu verstehen.« (8, 11f.) Adorno, übrigens auch wieder im Anschluß an Horkheimer, [ 26 ] weigert sich, solche Entgegensetzungen von Individualismus und Kollektivismus, verstehbares Handeln versus holistische Konstrukte, als adäquaten theoretischen Ausdruck dieser Gesellschaft zu unterschreiben. Vielmehr müssen diese Entgegensetzungen zweier »begrifflicher Strategien« (Habermas) selbst noch einmal als eine Gestalt dieses Positivismus dechiffriert werden, als eine Form der Artikulation dieser spezifischen Erfahrung verselbständigter Objektivität; sie sind aber nicht identisch mit dem »Begriff « dieser Gesellschaft.
Die »Totalitätskategorie (der) Hegel-Marxistischen Gesellschaftstheorie« wird mißverstanden, wenn sie als »Einheit zweier Elemente« interpretiert wird, die später »auseinandergefallen sei, nämlich einerseits in Handlungstheorien und andererseits in Systemtheorien.« [ 27 ] Die »alte« Kritische Theorie würde demgegenüber darauf beharren, dass diese beiden Paradigmen – Handlungstheorien und Systemtheorien –, wie immer »nicht-trivial« miteinander verbunden, lediglich das Bewußtsein der Verselbständigung von Gesellschaft artikulieren, aber nicht deren begriffliche Erfassung darstellen. Was Adorno in Bezug auf Weber und Durkheim konstatiert, läßt sich auch auf Habermas übertragen, dass nämlich dieses Verstehensideal Unverstehbares ausscheidet und gewissermaßen in das Paradigma der Systemtheorie abschiebt. Der Positivismus der Habermasschen Gesellschaftstheorie besteht darin, dass er sich, wie jede sozialwissenschaftliche Theorie, auf Formen und Kategorien dieser gesellschaftlichen Objektivität stützt, die nur noch äußerlich aus der Empirie aufgenommen werden, ohne ihren gesellschaftlichen Formgehalt zu thematisieren.
Aber hier zeigen sich auch die Grenzen von Adorno. Es ist die Frage, ob Adorno die (hier sehr pointiert herausgehobene) dialektische Programmatik seines Objektivitätsbegriffs hinsichtlich seiner Kritik der Sozialwissenschaft völlig »ausschöpfen« kann. Die Tatsache, dass Adorno seinen Objektivitätsbegriff an die Kategorien der politischen Ökonomie bindet, aber nur andeutungsweise die Gegenständlichkeit der Realkategorien entwickeln kann, läßt ihn übersehen, dass die von ihm als »monströs« charakterisierten Begrifflichkeiten von Durkheim auch in Bereichen der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung zu finden sind, wo sie nicht vermutet werden. [ 28 ] So kommt es gewissermaßen zu einer Dialektik der Kritischen Theorie selbst: die Auseinandersetzung mit der Wert- und Geldform, die Adorno kurz vor seinem Tode [ 29 ] als die »heiligsten Güter« der Kritischen Theorie bezeichnete, deren »enzyklopädische Analyse« er anmahnte, führt zu einem Theoriebegriff, der sich nicht mehr mit Adornos Marxinterpretation und seinem Selbstverständnis deckt.
Anmerkungen
[ 1 ] Theodor W. Adorno, Gesellschaft (1965), in: Gesammelte Schriften, Band 8, Soziologische Schriften I, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1972, S. 9. (In Klammern gesetzte Ziffern nach den folgenden Adorno-Zitaten beziehen sich auf die Gesammelten Schriften, Band und Seitenangaben.)
[ 2 ] Theodor W. Adorno, Einleitung in die Soziologie (1968). Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen Band 15, hrsg. von Christoph Gödde, Frankfurt am Main 1993, S. 31
[ 3 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 54f.
[ 4 ] Von Gesellschaft im »nachdrücklichen Sinne« spricht Adorno in seiner Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 55
[ 5 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 55
[ 6 ] Notizen von einem Gespräch zwischen Th.W. Adorno und A. Sohn-Rethel am 16.4.1965, in: Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen, Frankfurt am Main 1978, S. 139
[ 7 ] Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel. Erfahrungsgehalt (1959), in: Gesammelte Schriften, Band 5, hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, S. 296.
[ 8 ] Vgl. dazu die Seminarmitschrift von Hans-Georg Backhaus im Sommersemester 1962, in: Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg 1997, S. 501ff.
[ 9 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 77
[ 10 ] Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung (1957), in: Gesammelte Schriften, Band 8, a.a.O., S. 209
[ 11 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 77
[ 12 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 57
[ 13 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 60
[ 14 ] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 23, Berlin 1969, S. 88. (Im folgenden werden die Marx-Engels Werke Bd. 1ff., Berlin 1953ff. nach MEW, Band und Seitenangaben zitiert. Die Marx-Engels-Gesamtausgabe, Zweite Abteilung »Das Kapital« und Vorarbeiten, Berlin 1975ff. wird zitiert nach MEGA II, Band und Seitenangaben.)
[ 15 ] Adorno reagiert anfänglich geradezu euphorisch auf Sohn-Rethels Gedankengänge, schreibt von der »größten geistigen Erschütterung«, die er bei ihm ausgelöst habe (Brief vom 17. November 1936, in: Theodor W. Adorno und Alfred Sohn-Rethel, Briefwechsel 1936-1969, hrsg. von Christoph Gödde, München 1991, S. 32). Die »Notizen von einem Gespräch«, das 30 Jahre später stattfand, enden mit der Feststellung, dass eine »systematische enzyklopädische Analyse der Tauschabstraktion notwendig« sei (vgl. Anhang in: Sohn-Rethel, Warenform und Denkform, a.a.O., S. 139).
[ 16 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 58f.
[ 17 ] Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: Gesammelte Schriften, Band 4: Schriften 1936-1941, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1988, S. 201
[ 18 ] Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, a.a.O., S. 201
[ 19 ] Max Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit (1935), in: Gesammelte Schriften, Band 3: Schriften 1931-1936, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1988, S. 311f.
[ 20 ] Horkheimer, Zum Problem der Wahrheit, a.a.O., S. 317. Die Fortsetzung dieses Zitats lautet: »Wie ein Wasserstoffatom isoliert betrachtet seine bestimmten Eigenschaften hat, in der molekularen Verbindung mit anderen Elementen neue Qualitäten gewinnt, um die alten wieder aufzuweisen, sobald es aus der Verbindung losgerissen wird, so sind auch die Begriffe zu handhaben, sie behalten einzeln betrachtet ihre Definitionen und werden im Zusammenhang zu Momenten neuer Sinneinheiten. In der ›Flüssigkeit‹ der Begriffe spiegelt sich die Bewegung der Realität.«
[ 21 ] Vgl. Gerhard Brandt, Max Horkheimer und das Projekt einer materialistischen Gesellschaftstheorie (1986), in: ders., Arbeit, Technik und gesellschaftliche Entwicklung. Transformationsprozesse des modernen Kapitalismus, Aufsätze 1971-1987, hrsg. von Daniel Bieber und Wilhelm Schumm, Frankfurt am Main 1990, S. 281ff.
[ 22 ] Adorno, Einleitung in die Soziologie, a.a.O., S. 229
[ 23 ] Dieselbe Form der Kritik praktiziert Adorno in seiner im Sommersemester 1959 gehaltenen Kant-Vorlesung. Vgl. die Hinweise in der ersten Vorlesung vom 12.5.1959, in: Theodor W. Adorno, Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1959). Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen Band 4, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1995, S. 13. Allerdings muss hier betont werden, dass im Selbstverständnis von Adorno eine solche Kritik nur möglich scheint an Theoretikern, die vor dem (noch zu thematisierenden) weltgeschichtlichen Kulminationspunkt lebten. Warum wir trotzdem an diese Form der Kritik anknüpfen können, soll später begründet werden.
[ 24 ] Derselbe Gedanke findet sich in der Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« (1969): »Gesellschaftlich ist die Idee eines objektiven, ansichseienden Systems nicht so schimärisch, wie es nach dem Sturz des Idealismus dünkte und wie der Positivismus es beteuert. Der Begriff großer Philosophie … verdankt sich keinen vorgeblich ästhetischen Qualitäten von Denkleistungen, sondern einem Erfahrungsgehalt, der eben um seiner Transzendenz zum einzelmenschlichen Bewußtsein willen zu seiner Hypostasis als Absolutes verlockte. Zu legitimieren vermag sich Dialektik durch Rückübersetzung jenes Gehalts in die Erfahrung, aus der er entsprang.« (8, 289)
[ 25 ] Theodor W. Adorno, Vorlesung über negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66. Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen Band 16, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 139
[ 26 ] Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, a.a.O., S. 181: »Die bisherige Geschichte kann nicht eigentlich verstanden werden, verständlich sind in ihr nur Individuen und einzelne Gruppen, und auch dies nicht ohne Rest, da sie kraft ihrer inneren Abhängigkeit von einer unmenschlichen Gesellschaft auch im bewußten Handeln noch weitgehend mechanische Funktionen sind.«
[ 27 ] Jürgen Habermas, Dialektik der Rationalisierung, in: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985, S. 180
[ 28 ] Vg. das zweite Kapitel.
[ 29 ] In einem Gespräch mit Ernst Theodor Mohl anläßlich der Begutachtung der Diplomarbeit von Hans-Georg Backhaus.