Gerhard Scheit – Erfahrung im Zeitalter ihres Verschwindens * Leseprobe aus: Gerhard Scheit, Quälbarer Leib

Gerhard Scheit

Erfahrung im Zeitalter ihres Verschwindens

»All das sahst du / Als du den quälbaren Leib zerstörtest« – so endet das Gedicht, das Bertolt Brecht über den Freitod Walter Benjamins geschrieben hat (1993: 48). Im Epitheton für den Leib ist der politische Gehalt konzentriert: die Drohung, die der Flüchtling gewärtigt, zielt unmittelbar auf die Physis. Brecht allerdings hat es sich – als Parteikommunist, zu dem er geworden war – verboten, diesen Gehalt auch zu entfalten: »Die Bandenführer / Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker / Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen« – heißt es im selben Gedicht direkt davor. Es sind jedoch die Individuen, die man nicht mehr unter den Rüstungen sieht, sobald von Völkern überhaupt gesprochen wird. Denn Volk ist nur das Wort, das ihnen suggeriert, sie hätten einen gemeinsamen Leib, und der befinde sich unter der Rüstung, womit der Souverän in den Krieg zieht; Staatsmänner und Bandenführer könnten ihn beherrschen wie Bewußtsein und freier Wille die Gliedmaßen.

Benjamins eigene Schriften exponierten da bereits viel deutlicher die Diskrepanz, die in Brechts Zeile aufblitzt – zwischen der Parteinahme fürs Kollektiv, die das ideologisch Produzierte als kompakten Körper erscheinen läßt, und dem wahren Materialismus, der dem quälbaren Leib des Einzelnen gilt. »Mit dem Weltkrieg«, schrieb er 1936, »begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist… Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war, als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.« (BGS II.2: 439) Weil aber sonst nichts unverändert bleibt, wird auch noch der winzige, gebrechliche Menschenkörper dem Individuum zum Fremdkörper, das Heimlichste zum Unheimlichen, und ist doch das einzige, woran das Individuum sich überhaupt noch als Einzelnes und Unteilbares erfährt, während die anderen Indizien, die ihm als Besonderheiten in aller Vertrautheit Individualität verbürgen konnten, sich verflüchtigen. Diese Erfahrung hatte Kafka zu Protokoll gegeben: äußerste Vereinzelung – ohne die Spur mehr von Individuation. Vom Namen bleibt nur die Abkürzung, die aber schreibt Kafka seinen Figuren auf den Leib. Das Apriori der Erfahrung tritt als »vergessenste Fremde« hervor, wenn alle individuelle Erfahrungsfähigkeit schwindet, und die Erfahrung, sagt Benjamin, ist im Kurs gefallen und fällt weiter ins Bodenlose. Es bleibt zuletzt nur die des Gregor Samsa, der sich eines Morgens in seinem Bett »zu einem ungeheuren Ungeziefer« verwandelt findet – und dafür gibt es eben keine Erklärung: Kafka zapft den Sinn ab, wie Benjamin erkannte, damit an den bloßen Gesten kenntlich werde, in welcher Lage sich das Individuum befindet, formell mit allen anderen ebenso gleichgestellt wie inhaltlich durch sie überflüssig gemacht. Die ersten Gedanken nach der Verwandlung gehören denn auch dem Beruf und dessen Zwängen, und im nächsten Moment dringt auch schon der Prokurist der Firma in die Wohnung, um Kafkas Helden zur Arbeit zu holen, für welche dieser nun aber gar nicht mehr in Frage kommt. Die Konsequenzen spricht am Ende die eigene Schwester aus, die doch soviel Mitleid hatte: »wir müssen es loszuwerden suchen«, und der Bedienerin wird zuletzt stillschweigend überlassen, »das Zeug von nebenan« wegzuschaffen (KST 190; 198).

Mit dem Zeigefinger des »Verfremdungseffekts« hat Brecht in bewußter Plumpheit das Gestische aufgenommen – und Benjamin fühlte sich darum von ihm angezogen, sagte er ja selber, es gehöre eine Portion Dummheit dazu, einen anständigen Gedanken zu denken. Hinter der Dummheit jedoch lauert immer auch das Kollektiv, um das Individuum, seiner Erfahrungen beraubt, sich einzuverleiben; das Lesebuch für Städtebewohner wie die ›Lehrstücke‹ führten es systematisch vor, und Benjamin, der »Kollektivbrötler« (Joseph Roth) [ 1 ] , zeigte sich fasziniert. Kurz vor seinem Tod sollte er in Brechts Gedichtband die dichterische Verklärung der GPU-Praxis erkennen (BGS VI: 540).

So erschien also jener Zeigefinger dem Dritten im Bunde, zu dem dieser Dritte nicht gehören wollte, mit einigem Recht als Direktive der Partei: Adorno kritisierte scharf jede Stelle bei Benjamin (sei‘s in dessen Passagen-Exposé oder im Aufsatz über Baudelaire), wo in der Wendung zum Materialismus die »Vermittlung durch den gesellschaftlichen Gesamtprozeß ausfällt« (Adorno/Benjamin 1994: 369) und dagegen ein »Kollektivbewußtsein« und »die Unmittelbarkeit des Urzustandes« beschworen wird (ebd.: 142). »An den Waren« und »nicht unmittelbar für die Menschen« hätten wir stattdessen »das Versprechen der Unsterblichkeit«, und so genüge der Begriff des Gebrauchswerts keinesfalls, den Warencharakter zu kritisieren, er lenke vielmehr, wird er zur alleinigen Instanz der Kritik, nur »aufs vorarbeitsteilige Stadium« zurück, also auf die Barbarei. Eben darin formulierte Adorno explizit seinen Vorbehalt gegen Brecht, dessen »Kollektiv« und »unmittelbarer Funktionsbegriff« ihm suspekt sei – als »Regression« (ebd.: 143).

Aber auch schon wenn er bei Benjamin von der »vergessensten Fremde« las (in dessen Aufsatz über den Erzähler), wurde es ihm unbehaglich, und er erhob Einspruch, argwöhnte »eine undialektische Ontologie des Leibes«: »Es ist, als sei für Sie das Maß der Konkretion der Leib des Menschen. Das ist aber eine ›Invariante‹ von der Art, daß ich glaube, daß sie das entscheidend Konkrete (das dialektische eben und nicht das archaische Bild) verstellt. Daher ist mir beim Gebrauch von Worten wie Geste und ähnlichen bei Ihnen (ohne daß ich das Wort selber vermeiden möchte: es kommt allein auf seinen konstitutiven Akzent an) stets unbehaglich.« (ebd.: 193) Tatsächlich kommt es nicht auf die Geste an, sondern auf die bloße Möglichkeit, sie zu machen, [ 2 ] und soweit Adorno über diese Bedingung der Möglichkeit hinweggeht, verfällt er selber in den »Jargon der Dialektik« (Jean Améry): die Vermittlung durch den gesellschaftlichen Gesamtprozeß läßt den Leib verschwinden und so besteht eigentlich kein Hindernis mehr, Partei für diesen Gesamtprozeß zu ergreifen. Adorno war hier jedenfalls an die Grenzen dialektischer Darstellung gestoßen, und erst später, nach Benjamins Tod, in den Minima Moralia, wurde ihm das bewußt: Er sprach, gerade Benjamins Erbe betreffend, von der »Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken« (AGS 4: 173).

Der Leib markiert nun wirklich das Maß der Konkretion in dem Sinn, als er die Probe darauf ist, daß jenes Individuum genannte, also unteilbare, gesellschaftliche Wesen, sich als abstraktes teilen läßt per Vertrag und seine Arbeitskraft verkaufen kann und verkaufen muß, um nämlich ein konkretes Unteilbares zu bleiben und nicht zugrunde zu gehen. Das ist die Dialektik, die vom Leib des Menschen zu lernen wäre, wenn die Gesellschaft so weit ist, daß er als Arbeitskraft ins Kapitalverhältnis einrückt; das ist der Erkenntnisgewinn, den die Arbeiterklasse wirklich verkörpert und verkörpern muß, so wie jeder sich genötigt sehen kann, zu dieser Klasse zu zählen.

Darauf beruht die Unterscheidung von Körper und Leib, die Adorno und Horkheimer zunächst machten: der Körper ist das, was die Verdingung als Arbeitskraft vom Leib übrigläßt: »Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich als das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Din g, ›corpus‹, unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat. Der Zwang zu Grausamkeit und Destruktion entspringt aus organischer Verdrängung der Nähe zum Körper.« (AGS 3: 267) Diese einstige Nähe »hat sich im Begriff des Leibs sedimentiert. Der Körper aber sei »nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird« (ebd.: 268).

Aber Kafkas Prosa zeigt nicht nur, wie der Körper als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen wird, sie demonstriert, daß eben darin Schuldbewußtsein und Strafbedürfnis alle von Religion und Staat gesetzten Grenzen überschreiten und der diesen Gefühlen eigene Angstcharakter, der eben aus der Verdrängung von Triebregungen, also der Nähe zum Leib, resultiert, auch alles durchherrscht, was noch Erfahrung sein könnte. Wenn Freud betont, daß »beim Schuldbewußtsein etwas unbekannt und unbewußt ist, nämlich die Motivierung der Verwerfung« und daß diesem Unbekannten eben der Angstcharakter des Schuldbewußtseins entspreche (FGW 9: 86), dann gewinnt in dieser Prosa die Unbekanntheit und Unbewußtheit, die jener Motivierung eignet, monströse Ausmaße, die selbst dem Staat den Rang ablaufen. Im Subjektivsten registriert sie so die Schwächung dessen, was Max Horkheimer einmal die »Resistenzkraft« des Rechts (HGS 12: 289) genannt hat. »K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?« (Der Prozeß KST: 11). Das Prophetische im Hinblick auf kommende totalitäre Herrschaftsformen, das so viele bei Kafka erkennen wollen, besteht lediglich in einer bestimmten psychischen Disposition, die er aufgedeckt hat wie niemand sonst; ist gleichsam nur der Widerschein seiner Untersuchung am lebenden Objekt der Familie, die triftig ergibt, wie wenig das Individuum noch Halt in einer Rechtsordnung findet, in deren Anerkennung dem bürgerlichen Verständnis nach das blinde Schuldgefühl aus dem Ödipus-Komplex einen Sinn erhalten soll; wie wenig die unbewußte und unbekannte Motivierung der Verwerfung durch bewußte und öffentliche Anerkennung des Gewaltmonopols aufgewogen werden kann und das Über-Ich, das auf jener Schuld-Angst gründet, noch vermittelt ist mit dem im Staat etablierten Gesetz. [ 3 ] Darin lag die innerste Bedingung der Möglichkeit, daß der Antisemitismus sich im »Unstaat« des Nationalsozialismus verwirklichen konnte, die Juden als ungeheures Ungeziefer behandelt wurden.

Gehen hier die Klassen in der Volksgemeinschaft und die Produktionsverhältnisse in der Vernichtungspolitik auf, wird zugleich die Phantasmagorie des erhabenen Körpers erzeugt – erhaben über die Triebbefriedigung und den Schmerz: die zur Perfektion ertüchtigte Leiche – Ergebnis davon, daß die Individuen, in ihrem Bewußtsein den Rechts- und Vertragsbeziehungen entbunden, vollständig zur Masse geworden sind, mit Freud gesprochen: »ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (FGW 13: 128). Der libidinös besetzte Leib, der dem einzelnen Verliebten als erhaben erscheint, nur um die geschlechtliche Lust noch zu steigern, verschwindet in der »Ästhetisierung der Politik« (Benjamin), und die Erhabenheit wird zum gepanzerten, gestählten Körper, in dem die Masse sich spiegelt: der Körper der Volksgemeinschaft, der in den Massenorganisationen ertüchtigt wird und den faschistische und nationalsozialistische Kunst- und Filmproduktion ausgeklügelt zur Schau stellen. Er ist nur die Hülle der Opferbereitschaft und kennt deshalb keinen Schmerz, wie der tote Körper. Er ist das Ideal. Indem die Massenindividuen sich miteinander identifizieren, stellen sich Selbstschädigung und Selbstaufopferung, die doch in der individuellen Liebe noch bei größtem Zurücktreten der sinnlichen Ansprüche darauf zielen, den Trieb durch die sexuelle Vereinigung mit dem anderen zu befriedigen, als Selbstzweck heraus, worin alle Befriedigung des Triebs, soweit sie weiterhin möglich ist, den Ansprüchen auf Identifikation mit dem Kollektiv unterworfen wird. Darum wird in jeder nationalsozialistischen Darstellung des Leibs die Haut zum Panzer.

In diesem Sinn hat Ernst Jünger die »Verwandlung des Individuums in den Typus oder den Arbeiter« gefeiert und auf seine Art Kafka rezipiert: »Am Maßstab des Schmerzes betrachtet, stellt sich diese Verwandlung als eine Operation dar, durch welche die Zone der Empfindsamkeit aus dem Leben herausgeschnitten wird.« (1980: 162) Und das Verhältnis zum Schmerz sei »der beste Prüfstein, an dem man eine Rasse erkennt« (ebd.: 146). Dabei ist Jünger eben gar kein Rassist im unmittelbaren Sinn: denn für ihn ist vor allem dieser Typus, der Arbeiter, die neue, »sich in ihren Lebensäußerungen eben erst abhebende Rasse« (ebd.). Wer jedoch zu den wahren Arbeitern zählt, und wer mit dieser Rasse sich nicht identifizieren darf, das wird nun durch das Verhältnis zum Schmerz geklärt, und zwar geht es um den Leib, nicht um die Seele. Der Seelenschmerz gilt Jünger nur als Indikator dafür, daß der Leib für den Menschen viel zu wichtig geworden sei – zu wichtig, um ihn zu opfern, darauf läuft die ganze Konstruktion seines Typus hinaus: Abschaffung des Individuums heißt Bereitschaft zum Selbstopfer. Diese Bereitschaft nicht aufzubringen, deutet er als Zeichen einer gerade vergehenden Epoche, als Merkmal des Liberalismus: Denn wer Seelenschmerz empfindet, ist für den Tod nicht bereit. Der Seelenschmerz »gehört zu den Krankheiten, die die Unterlassung des Opfers erzeugt« (ebd.: 156). Das Geheimnis der modernen Empfindsamkeit beruhe darin, »daß sie einer Welt entspricht, in der der Leib mit dem Werte selbst identisch ist«, und heute, so Jünger weiter, »dürfen wir wohl sagen, daß die Welt des sich selbst genießenden und sich selbst beklagenden Einzelnen hinter uns liegt« (ebd.: 159). Die Tatsache, daß wir heute bereits wieder imstande seien, »den Anblick des Todes mit größter Kälte zu ertragen«, erkläre sich »nicht zum wenigsten dadurch, daß wir in unserem Körper nicht mehr in der alten Weise zu Hause sind« (ebd.: 187). Jünger behauptet eigentlich, daß der Geist überhaupt nicht mehr im Körper zu Hause wäre, denn seine Argumentation hat es auf den Körper selber abgesehen. »Wir sehen auch den Einzelnen immer deutlicher in einen Zustand geraten, in dem er ohne Bedenken geopfert werden kann. Bei diesem Anblick erhebt sich die Frage, ob wir hier der Eröffnung jenes Schauspiels beiwohnen, in dem das Leben als Wille zur Macht auftritt, und als nichts außerdem?« (ebd.: 189) Die Ästhetisierung der Gewalt, die dem Körper angetan wird, ist Reanimierung religiöser Bewußtseinsformen – allerdings in völlig entleerter Gestalt: »man ahnt, daß das Spiel zu fein und zu folgerichtig ist, um von Menschen erdacht worden zu sein.« (Ebd.)

Jünger definiert seine Haltung als »heroisches Pathos der Distanz«. Dieses Pathos ist jedoch in allem die Kehrseite antisemitischer Phantasie, die sich die Juden als Urbild der Distanzlosigkeit ausmalt. Der Typus des Arbeiters wurde aus dem Haß auf die Juden geschaffen: Der Jude, so Jünger 1930, »bedarf für seine Rhetorik, die schon deshalb immer ethische Struktur besitzt, weil sie keine heroische besitzen kann, einer Grundstimmung, die als das umgekehrte Pathos der Distanz bezeichnet werden kann. Daher ist er auf Verfolgung, auf Antisemitismus angewiesen, ebenso, wie nach einer richtigen Bemerkung das Ghetto eine jüdische Erfindung ist.« Um »gefährlich, ansteckend, zerstörend« werden zu können, sei »für ihn zunächst ein Zustand nötig, der ihn in seiner neuen Gestalt, in der Gestalt des Zivilisationsjuden überhaupt möglich machte. Dieser Zustand wurde durch den Liberalismus, durch die große Unabhängigkeitserklärung des Geistes geschaffen, und er wird auch durch kein anderes Ereignis als durch den völligen Bankerott des Liberalismus wieder zu beenden sein. Jeder Angriff auf den Zivilisationsjuden aber aus dem liberalistischen Raume heraus ist verfehlt, denn selbst dort, wo er Erfolg haben würde, gliche seine Bedeutung lediglich einer äußerlichen Desinfektion.« Für Deutschland sei deshalb »der Faschismus ebensowenig wie der Bolschewismus gemacht, sie reizen an, ohne daß sie befriedigen werden, und man darf von diesem Lande schon hoffen, daß es einer eigenen und strengeren Lösung fähig ist.« (1930: 844 f.)

Der Jude wird als derjenige definiert, der zum Opfer nicht bereit ist. Darum sind die Juden das Gegenvolk, die Gegenrasse, darum verkörpern sie das jeder staatlichen Herrschaft spottende internationale Kapital. Der Zwang, das Politische zu ästhetisieren, der die totale Mobilmachung des Nationalsozialismus kennzeichnet, entspringt aber, so kann man es aus Jünger herauslesen, der unfreiwilligen Nähe zu den Gehaßten: schließlich waren diejenigen, die eine Weltverschwörung bildeten, Bürger desselben Staats wie man selber; sie besuchten dieselben Schulen, kauften in den selben Läden, dienten im selben Heer. Um die Protokolle der Weisen von Zion in die Tat umzusetzen und die Juden zu vernichten, war es also nötig, daß die gesamte nationalsozialistische Bewegung ihnen gegenüber sich abgrenzte und jenes heroische Pathos der Distanz annahm.

Das aber ist der Inhalt der Massenornamente des Nationalsozialismus und solcher Körper, wie sie bis ins barbarische Detail vollendet Arno Breker dargestellt hat; das ist der Grund, warum der Nationalsozialismus, anders als der italienische Faschismus, die moderne Kunst schließlich doch als ›entartet‹ abwehren muß, auch wenn die Künstler selber überzeugte Nazis sind, wie zum Beispiel Emil Nolde. Er muß sie instinktiv abwehren, soweit diese moderne Kunst nicht dazu taugt, den Leib selbst als über den Trieb erhabenen Körper darzustellen und damit als Medium des Kollektivs zuzurichten. Je verletzlicher sie ihn zeigt – und eben darin die Distanz ganz bewußt aufgibt, um ihn zusammen mit seiner Verletzbarkeit auch als Subjekt und Objekt des Triebs zu exponieren –, desto entschiedener wird sie vom gesunden Volksempfinden ins Pantheon des Zivilisationsjuden verbannt.

Darin liegt nun zugleich das Historische der nationalsozialistischen Ästhetik. Sie teilt mit dem italienischen Faschismus oder mit dem Stalinismus die Zuspitzung der massenpsychologischen Identifikation – wenngleich weder Stalinismus noch Faschismus so weit gehen konnten wie die nationalsozialistische Bewegung, wieviel sie auch von Hitler lernen wollten: es fehlte ihnen jenes voll ausgebildete heroische Pathos der Distanz, das die libidinösen Bindungen der Masse unzerreißbar werden ließ, und die Bereitschaft zum Opfer, womit die Masse die Einheit herstellt, die fürs Individuum in die vielfältigsten Formen des Triebschicksals auseinanderfällt. Mit der Niederschlagung des Nationalsozialismus ist jedoch die Ästhetisierung des Politischen entwertet. Was davon übrigbleibt, wird von Warenästhetik absorbiert. Die angestrengten Versuche von linken Journalisten, Psychologen, Kommunikations- und Politikwissenschaftlern, überall dort, wo Massenornamente und Führerfiguren dargeboten werden, die faschistische Gefahr heraufzubeschwören, sind blind für die neuen postnazistischen Gegebenheiten. Das heroische Pathos der Distanz existiert in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus nur noch rückwärtsgewandt: die Neonazis sind eine gewalttätige Reminiszenz, eine in bestimmten Zonen arretierte und eingehegte, für den Einzelnen dort allerdings äußerst bedrohliche, rezente Gewaltform. Und die neue Theorie des Schmerzes liefert Michel Foucault, der die vormodernen Marter- und Hinrichtungsmethoden fasziniert wiedergibt und mit einigermaßen saurer Miene feststellt, daß es mit Aufklärung und moderner Justiz der »strafenden Tätigkeit« letztlich nicht mehr »um den Körper und den Schmerz« gehe (1977: 19). [ 4 ] An die Stelle jenes Pathos ist im Übrigen das Ethos des Fernsehzuschauers getreten, das auf seine Weise Jüngers Prinzip treu bleibt: Jede Grausamkeit ist gerechtfertigt, an der ich mich erbaue, vor allem aber die Grausamkeiten, die im Namen der Volksgemeinschaft begangen wurden, als deren Erbe ich mich fühle. Es bedarf des heroischen Volksgenossen nicht mehr, die ›Zivilisationsjuden‹ werden nun im Inneren der Gesellschaft geduldet oder sogar hofiert, als Erinnerung an die einstigen politischen Verbrechen, um durch sie etwas vom heimlichen Stolz auf diese Verbrechen zum Ausdruck bringen zu können.

Es gibt jedoch noch eine andere, eine staatgewordene Erinnerung an Auschwitz – und auf sie konzentriert sich der Haß, der einmal den ›Zivilisationsjuden‹ galt: Israel ist der Zivilisationsjude unter den Staaten und die Bereitschaft zum Opfer wird dem Islam überlassen, den Selbstmordattentätern und den Selbstmordkollektiven des Nahen und Mittleren Ostens. Sie bilden die heutige Gestalt von Jüngers »Typus«. So wie die Juden nach außen hin als Staat verfolgt werden, sind im Inneren dieser Gestalt die religiösen Formen aktiviert, die auf neue Weise die libidinösen Bindungen der Masse garantieren. Der Panzer wird zum Schwert des Propheten, mit dem man sich identifiziert und den darum niemand karikieren darf, weil er dadurch verletzlich erscheint.

Die Wut auf die Mohammed-Karikaturen entspricht dem Haß auf die Juden, und die umma wird zur Fortsetzung der Volksgemeinschaft mit anderen Mitteln. Der Wahn, für sie, das heißt: für die Vernichtung der Juden, den eigenen Leib zu opfern, bleibt sich immer gleich. So hat Adorno nach der Shoah der Gedanke, der in Brechts Zeile steckt, nicht mehr losgelassen: Am kategorischen Imperativ nach Auschwitz »läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, dem die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt.« (AGS 6: 358)

So tritt auch Jean Améry an, jene Welt zu verteidigen, die Jünger mit deutlicher Genugtuung dem Verfall preisgegeben sieht, wo die »Unterlassung des Opfers« als Wert gelten kann, »die Welt des sich selbst genießenden und sich selbst beklagenden Einzelnen«. Améry restituiert den Leib aber nicht als ›Wert‹, er weiß ihn nur negativ zu bestimmen, und das heißt, in der Abschaffung des Schmerzes die vornehmste Aufgabe der Gesellschaft, in der Herbeiführung leiblicher Qualen die schlimmsten Verbrechen der Politik zu erkennen. Améry vermag es nur, indem er offen und hemmungslos als Einzelner seinen »Seelenschmerz« kundtut, der aus den körperlichen Qualen resultiert, die er in den Lagern, die er nur zufällig überlebte, erlitten hat, und also seine »Ressentiments« gegen die Deutschen und die Österreicher expliziert, seine Angst vor den Antisemiten und den Antizionisten darlegt. [ 5 ] Es ist die Kritik der Metaphysik nach Auschwitz: »nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft« (ebd.: 177).

Anmerkungen:

[ 1 ] »Im Pariser Café Les Deux Magots saßen wir oft zusammen in einer Ecke neben dem Fenster, schauten uns die Leute an und übten uns in Beobachtungsgabe. Eines Tages kam Walter Benjamin herein, sah uns an, grüßte uns aber nicht. Einer, der mit uns am Tisch saß, meinte: ›Der muß ein Eigenbrötler sein‹. Geschwind schaltete sich Roth mit einer Anspielung auf Benjamins kommunistische Sympathien ein: ›Im Gegenteil, der ist ein Kollektivbrötler.‹« (Manga Bell, zit. n. Bronsen 1974: 371)

[ 2 ] Die undialektische Ontologie des Leibes, die Adorno bei Benjamin wohl zu Unrecht befürchtet hatte, wurde schließlich von Maurice Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung von 1945 ausgeführt. Dabei scheint auch hier zunächst die Nötigung, dialektisch zu denken, die Benjamin noch gegenwärtig war und die Adorno bei ihm verstärken wollte, durchaus zur phänomenologischen Sprache zu kommen, insbesondere in den Passagen, die Descartes‘ Bewußtseinsbegriff kritisieren: »Der Leib ist also kein Gegenstand… Seine Einheit ist eine beständig nur implizite und konfuse. Immer ist er etwas anderes als was er ist, die Geschlechtlichkeit etwa ist immer zugleich auch Freiheit; er bleibt verwurzelt in der Natur, wie immer er sich durch Kultur verwandelt… So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Leibes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in Wirklichkeit gibt.« (Merleau-Ponty 1966: 234) Das Inkommensurable wird jedoch nur aufgedeckt, um zuletzt eine, aller Dialektik vorgelagerte Einheit von Subjekt und Objekt zu restituieren. Darin liegt das Ontologische dieser Philosophie des Leibes, siehe Anm. 23.

[ 3 ] Selbst die Hinrichtungsmaschine in der Strafkolonie, die den Delinquenten foltert, indem sie ihm das Gesetz mit Nadeln auf den Leib schreibt, gegen das er verstoßen habe, ist nur der aussichtslose Versuch, jenen archaisch anmutenden Strafphantasien des Ich, die keinen Halt mehr finden in der modernen Rechtspraxis, mit modernsten Mitteln, Maschine und Schrift, doch noch gerecht zu werden.

[ 4 ] Das »Tableau« der »vernünftigen« Oppression erscheine bei Foucault, so Jean Améry, »sinistrer als die Greuel-Dramaturgie der voraufklärerischen Epochen… Er sagt es nicht expressis verbis, aber der Leser seines Elaborats muß unweigerlich, sofern er dem Autor folgt und nicht alsogleich die Abstrusität seiner Argumentation erkennt, zur Ansicht kommen, daß die Gefängnisse, wie human man sie auch gestalte, die Schulen, wie fortschrittlich sie sich auch geben, die Kasernen, wie flexibel ihre Verwaltung sei, am Ende schlimmer sein müssen als Folter und unverschleierte Bestialität.« (AW 6: 228 f.)

[ 5 ] Dabei vermag Améry ganz allgemein über das Phänomen des Schmerzes zu reflektieren und im Unterschied zu Jünger bezieht er wirkliche wissenschaftliche Ergebnisse ein, ohne freilich zu einem abschließenden Urteil zu kommen: »Worin liegt die Kraft, worin die Schwäche? Ich weiß es nicht. Man weiß es nicht. Noch keiner hat übersichtliche Grenzen ziehen können zwischen der sogenannten ›moralischen‹ und der gleichfalls unter Anführungszeichen zu setzenden ›körperlichen‹ Widerstandskraft gegen den physischen Schmerz.« (AW 2: 82)

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