Gerhard Scheit – Verborgener Staat, lebendiges Geld

Gerhard Scheit

Vorwort aus Verborgener Staat, lebendiges Geld

Die folgenden Überlegungen handeln von einer Tradition, die vom mittelalterlichen Passionsspiel bis zum nationalsozialistischen Film reicht: sie besteht darin, den Haß auf die Juden ‘spielbar’ zu machen, ihn in Szene und sogar in Musik zu setzen. Dieses merkwürdige obsessive Bedürfnis, jene, die man verfolgt, vertreibt und ermordet, gleichzeitig mit verteilten Rollen zu spielen, kann in der Tat besonderes Interesse beanspruchen. Die Juden ‘nachzumachen’, ihre vermeintliche Ausdrucksweise im Sprachlichen und Gestischen zu imitieren, scheint für den Antisemitismus geradezu essentiell zu sein; es ist dies offenbar die Art und Weise, wie er im Alltag gelebt und weitergegeben wird – als Tonfall und als Handbewegung, als Jargonwort, Witz oder Anspielung; und zeugt jedenfalls vom Genuß, den der Antisemit empfindet: er bannt darin seine Ängste und lebt sich gleichzeitig aus; er artikuliert das Verbotene, und bekundet zugleich seine Verachtung dafür (- all dies im genauen Gegensatz zum ‘jüdischen Witz’, soweit er das Judentum seines Erzählers demonstrativ schmunzelnd bestätigt). In der Dialektik der Aufklärung sprechen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer davon, daß der Antisemit “ohne offenkundige Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen Verlockung nachgeben” könne: “Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut […] Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blut läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt.” [ 1 ] Solche Verkörperung ist der physische Modus der Projektion und erlaubt es wie kein anderer, sich abzugrenzen und zugleich einzufühlen – in der Einfühlung sich abzugrenzen. Auf der Bühne, in den Texten und vor der Kamera wird dieser alltägliche Imitationswahn schließlich verdichtet und verallgemeinert, das Nachmachen zur Schauspielkunst, die Grimasse zur Maske, der Witz zur Komödie. Und vielleicht verrät er in diesen Formen über seine heimlichen und unheimlichen Motive mehr, als ihm lieb ist.

Diesem erfundenen Judentum läßt sich allein mit dem Hinweis auf das wirkliche jedenfalls nicht beikommen. Der wohlmeinende Versuch, die Darstellung in einem Werk zu kritisieren, indem man nachweist, wie die Juden dazumal ‘in Wirklichkeit’ waren und lebten, endet meist in Verharmlosung – abgesehen davon, daß er sich angesichts der Möglichkeit eines Antisemitismus ohne Juden ad absurdum führt. Es geht nicht darum, eine ‘fehlerhafte’ oder ‘fehlgeleitete’ Widerspiegelung zu korrigieren und ‘Vorurteile’ zu widerlegen, sondern die Wünsche und Interessen auszumachen, die der negativen Mythisierung des Judentums zu Grunde liegen. Die Methode hat sich demnach eher an der Psychoanalyse zu orientieren: Sigmund Freud begriff Religion als “universelle Zwangsneurose” [ 2 ], und insofern – also nicht nur historisch – ist der Antisemitismus religiösen Ursprungs. Ob die geschichtlich argumentierende Differenzierung zwischen religiösem und rassistischem Judenhaß dennoch sinnvoll ist, wird im einzelnen zu fragen sein.

Die besondere Lust an der Imitation der Geächteten unterscheidet den Antisemitismus auch von anderen rassistischen Einstellungen, selbst von den naheliegenden Projektionen, die in ‘Zigeunern’ und ‘Hexen’ ihr Ziel finden. Nicht von Vorurteilen (einem formalisierten und nicht spezifizierbaren Begriff), sondern von Beschwörungen wäre auszugehen – und beschworen wird mit dem Feindbild des ‘Juden’, des ‘Zigeuners’ oder der ‘Hexe’ etwas jeweils Verschiedenes und auf verschiedene Weise. Für den Antisemitismus ist das Moment der Verkörperung eine Schlüsselfrage: Mögen seiner Phantasie nun Gottesmörder oder Wucherer, schöne Jüdinnen oder ewige Juden, Ritualmörder oder raffende Kapitalisten entspringen – sie ist stets vom selben Wunsch besessen: das Unheimliche des abstrakt gewordenen Reichtums, das ‘sich selbst vermehrende’ Geld zu personifizieren. (Der Vorwurf, den Antisemitismus damit monokausal zu erklären, verkennt das eigentliche Problem, das in der Mimikry an ein real Monokausales besteht.) Diese Rolle wird dem Judentum zugedacht – doch gespielt wird sie vom Antisemiten. Nur wenn dieser sich in ‘den Juden’ – also in sein eigenes Hirngespinst – ‘hineindenkt’ und ‘einfühlt’, erscheint die Verkörperung des Geldes durch ‘den Juden’ überzeugend. Autor, Darsteller und Publikum glauben damit wie in einem Sündenbock-Ritual, des Abstrakten und Unheimlichen endlich habhaft zu werden – und fördern doch nichts anderes zutage als ihr eigenes verborgenes Wesen.

In psychoanalytischer Perspektive kann das Unheimliche als jenes ursprünglich Vertraute, eigentlich Heimliche, gelten, das erst durch den Prozeß des Verdrängens fremd geworden ist. Nur hat man es beim Geld mit einer Verdrängung zu tun, die zugleich reale Abstraktion ist: denn im Vollzug des Tausches wird gewissermaßen objektiv verdrängt – wird abgesehen von der Eigenart der Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion und der Herkunft der Bedürfnisse – zugunsten eines einzigen, der Reflexion entzogenen Maßstabs (der selber übrigens keineswegs materieller Natur ist, sondern bloß in einem Materiellen – Gold, Münze, Schein, Bit! – dargestellt wird). Ist also die antisemitische Phantasmagorie die Wiederkehr dieses Verdrängten? Es entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Logik, daß sich die Personifikation des Geldes in Gestalt ‘des Juden’ mit all jenem ‘Heimlichen’ anzureichern vermag, das in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit aus dem Bewußtsein verbannt wird: gerade dies verleiht der Personifikation Lebendigkeit – Darstellbarkeit. Das heimliche Eigene kehrt in Gestalt des unheimlichen Jüdischen wieder: von der Lust, das Allerheiligste zu schänden bis zum Kitzel, die vom Nationalstaat oktroyierte Hochsprache ins Lächerliche zu ziehen; von der Sehnsucht nach einem Leben ohne Arbeit bis zu den verborgensten Wünschen im Sexuellen. Indem der Antisemit das eigene unehrenhafte Verlangen dem Judentum unterschiebt und dieses zugleich als Inkarnation der abstrakten Tauschverhältnisse beschwört, leistet er der verinnerlichten Obrigkeit seinen Tribut. Antisemitismus bedeutet immer ein heimliches Einverständnis mit dem Staat als dem Schutzherrn der Tauschabstraktion – bei gleichzeitiger Verdammung dieser Abstraktion; ja er ist darum vielleicht das tiefste mögliche Einverständnis: seine Gefährlichkeit besteht darin, daß es nicht bewußt wird.

Es versteht sich von selbst, daß bei solcher Fragestellung Werke, die man der Trivialliteratur zurechnet, nicht ausgeschlossen werden; so finden sich die bekannten Figuren aus der noch immer gepflegten ‘Hochkultur’ – von Shakespeares Shylock über Wagners Kundry bis zu Fassbinders Reichem Juden – neben wenig bekannten oder bereits völlig vergessenen von ganz unterschiedlichem kulturellen Stellenwert. Der Versuch der Aufklärung, die Darstellung der Juden gleichsam umzupolen, wird – in seinen verschiedenen Ausprägungen von ‘philosemitischer’ Jovialität bis zu konsequenter Selbstkritik – in einem eigenen Kapitel behandelt; desgleichen die Kritik, die auf der Seite der vom Antisemitismus Betroffenen – von Heinrich Heine bis Arnold Schönberg – in eigener künstlerischer Praxis geübt wurde.

Bei all dem ist nicht daran gedacht, eine Sozialgeschichte des Antisemitismus mit effektvollen Bühnenszenen zu illustrieren, das Ästhetische – die dramatische wie die musikalische Form – wäre vielmehr als Möglichkeit der Reflexion sichtbar zu machen und als solche im Interpretieren auch selbst zu nutzen. Am Anfang und am Ende dieser Dramaturgie stehen allerdings Phänomene, bei denen ästhetische Kategorien in gewisser Weise leerlaufen: Die Feier eines Passionsspiels in irgendeiner europäischen Stadt des Mittelalters hat wenig, die Nazi-Propaganda des 20. Jahrhunderts hat überhaupt nicht teil an jener bewußt gesetzten, ästhetischen Distanz, die mit dem Antisemitismus zugleich die Möglichkeit schafft, ihn zu reflektieren und ihm – in welcher Form auch immer – zu widersprechen. Daß Shakespeares Kaufmann von Venedig es darum verdient hätte, möglichst oft aufgeführt und gelesen zu werden – weil er diese Möglichkeit kennt und in Shylocks Gegenrede sogar realisiert -, ist damit noch nicht gesagt. Doch nicht zuletzt für solche und ähnliche Diskussionen hofft diese Kulturgeschichte der Barbarei einige Grundlagen zu schaffen. Wer über Antisemitismus nachdenkt und schreibt, um ihn zu bekämpfen, gerät in ein besonderes Dilemma (in dem sich allerdings das allgemeine der Erkenntnis nur zuspitzt): er versucht im selben Maß zu erklären, was er zugleich verurteilt und verabscheut; das Interesse, die Ursachen zu finden, und der Wille, nichts zu entschuldigen, bilden ein unaufhebbares Spannungsverhältnis. (Der Moralist, dem die Ursachen außerhalb des Bewußtseins der Täter gleichgültig sind, weiß davon sowenig wie der Zyniker, der die Frage der Schuld nur als eine der Kausalität kennt.) Staunen und Entsetzen darüber, was geschehen ist, dürfen durch die ‘Erklärung’ keinesfalls gemindert werden. Im Gegenteil – und darin wäre so etwas wie ein kategorischer Imperativ zu sehen: Das Ungeheuerliche sollte, wenn irgend möglich, noch ungeheuerlicher werden, als es auf den ersten Blick erscheint. Es soll zu Bewußtsein kommen, ohne rationalisiert zu werden. “Das Denken”, sagt Jean Améry, “ist fast nichts als ein großes Erstaunen.” [ 3 ]

[ 1 ] Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1978. S.163-165
[ 2 ] Sigmund Freud: Zwangshandlungen und Religionsübungen. Studienausgabe. Frankfurt am Main 1982. Bd. VII. S.21
[ 3 ] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977. S.71

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