Gerhard Stapelfeldt – Platon: Politeia * Leseprobe aus: ders. Der Geist des Widerspruchs. Zweiter Band

Platon: Politeia

Gerhard Stapelfeldt

Die eleatische Lehre vom Identisch-Seienden ebenso wie die Lehre der Atomisten ist in Athen, durch Sokrates (469–399) und dann durch Platon (427–347), vermittelt durch Heraklit (550–480), aufgenommen worden. Heraklit hatte erkannt, daß ein Identisch-Seiendes nur zu bestimmen ist durch seine »bestimmte Negation«: von Gesundheit könne man nur wissen durch Krankheit, vom Frieden nur durch Krieg, von der Sättigung nur durch Hunger. So wurde Heraklit zum Entdecker des Logos als eines Widerspruchs: zum Begründer des Geistes des Widerspruchs gegen widerspruchsvolle Verhältnisse, zum Vordenker der Dialektik (Hegel Bd. 18, 320).

Der große Fortschritt des Sokrates bestand darin, daß er nicht länger der physis und dem kosmos nachforschte, sondern dem sittlichen, dem guten Leben: der Weisheit selbst. Insofern muß er – im emphatischen Sinn – als erster Philosoph gelten. Weil die Erforschung der Weisheit als Annäherung an das gute Leben gilt, ist die Philosophie wesentlich: Praxis. So begründete Sokrates die Philosophie als Sozial- und Moralphilosophie in einer Zeit der allgemeinen Krise, der Erschütterung der moralischen Identität Athens. Er unterschied zwischen dem Sophisten, dem Philosophen und dem Weisen (sophós). Danach ist der Sophist ein Weisheitslehrer, der vorgibt, die Weisheit zu besitzen und sie deshalb gegen Geld verkaufen – monologisch lehren – zu können. Dagegen differenziert Sokrates zwischen der bloß menschlichen und der göttlichen, der wahrhaften Weisheit. Der Philosoph weiß, daß er nicht weise ist und versichert sich dessen durch Kritik der Sophisten: durch den Nachweis, daß die Sophisten sich selbst widersprechen, indem sie sich und andere täuschen – sie scheinen weise zu sein, sind es aber nicht. Weise ist, nach Sokrates, allein der Gott. Der Philosoph vermag sich der Weisheit allein durch eine Kritik anzunähern, die hinter die von den Sophisten vorausgesetzte Weisheit zurückgeht, indem er jenen immanent ihren Widerspruch von Sein und Schein demonstriert. Philosophie ist demnach: Kritik von Voraussetzungen, also Dogmen; Unterscheidung von Sein und Schein; Kritik des Geldes als der Inkarnation des Dogmatismus – des privaten Habens. So wird die Sophistik als Täuschung – als Schein – aufgeklärt und die Idee der Weisheit bewahrt, ohne daß diese positiv gesetzt und der Sophistik entgegengesetzt wird. Das ist das Verfahren der Dialektik (vgl. Platon: Politeia 511a–e; 532a–535a), der als Kritik der Sophistik nicht die Form des Monologs, sondern die des Dialogs angemessen ist. Darum, weil die Erforschung der Weisheit wesentlich praktisch ist, weil die Weisheit nur um den Preis des Dogmatismus zu verselbständigen ist, hat Sokrates keine Schriften hinterlassen. Seine Philosophie ist in den Dialogen Platons und Xenophons überliefert. Sie ist vorzüglich skizziert in der von Platon mitgeteilten Apologie: Sokrates wurde wegen des unmittelbar gegen die Sophisten, dann aber gegen die herrschende widerspruchsvolle Lebenspraxis der Athener gerichteten Widerspruchsgeistes angeklagt.

Platon hat die sokratische Argumentationsweise zu einer dialektischen Ontologie erweitert. Durch den Nachweis von dialogisch entfalteten Widersprüchen gegebener Philosopheme sucht er auf die Welt der identischen, übersinnlichen Ideen – vorab des Guten – vorzustoßen. So werden die Traditionen des Parmenides und des Heraklit aufgenommen und moralphilosophisch weiterentwickelt.

Diese Ontologie des Platon ist eine praktisch und utopisch gerichtete philosophische Aufklärung. Schon das Philosophieren des Sokrates ist wesentlich eine Theorie-Praxis. Sokrates nennt seine Philosophie, in Erinnerung an seine Mutter, eine »Hebammenkunst«: denn die Aufklärung, die er betreibt, richtet sich an das Bewußtsein eines Menschen, der sich seiner selbst nicht bewußt ist. Dieser Bewußtlosigkeit, weiß Sokrates, ist nicht mit einer monologischen Mitteilung abzuhelfen, weil sie kein bloß intellektuelles Problem darstellt, sondern die gesamte Identität des Subjekts prägt. Es bedürfe mithin einer Frage, eines Leidens, das durch den Philosophen zu Bewußtsein zu bringen sei (Platon: Theaitetos 148d bis 151d). Das Bewußtwerden ist analog als ein theoretisch-praktischer Bildungsprozeß zu denken, in dem das Subjekt seine Identität verändert. Und nicht nur das Subjekt.

Weil in der mythologischen Welt das Subjekt nicht gegen die Gemeinschaft verselbständigt ist, ist der subjektive Bildungsprozeß als Bildungsprozeß der Polis gedacht. Darum nennt Sokrates seine Philosophie, in Anlehnung an die Praxis seines Vaters, einen Bildhauer, die Kunst der Bildung von Menschen. Weil die Aufklärung ein Interesse voraussetzt, vollendet sie sich in einer aufgeklärten Lebens-Praxis. So zielt die Philosophie nicht nur auf eine wahre Einsicht, sondern allererst auf ein wahres, gutes Leben. Dieses Leben ist nicht als privatistisches zu verstehen, sondern als Leben der Polis: denn die Aufklärung ist ein dialektischer, dialogischer Prozeß. Das ist die Utopie – bei Sokrates und bei Platon: Durch Kritik, durch theoretische Aufklärung und praktische Bildung ineins, ist ein Leben in höchster Einsicht zu verwirklichen – als Herrschaft der Vernunft in einem Vernunft-Staat.

Platon hat diese Utopie der – dialektisch begründeten und entfalteten – Philosophie vor allem in seinem großen Dialog Politeia (in: Werke III, S. 67–310) ausgeführt: als Utopie eines Philosophen-Staates, in dem die Herrschaft der Vernunft verwirklicht ist. Von der Vernunft-Utopie scheint das Licht der Kritik auf den bestehenden Staat der Unvernunft. Die Kritik erfolgt nicht in Form der immanenten Aufklärung der Unvernunft, sondern in der Form des Gegensatzes von Vernunft und Unvernunft. Die dem Bestehenden entgegengesetzte Utopie ist sinnlich-anschaulich vorgestellt, der mythologischen Theorie und Praxis entsprechend.

Der Dialog Politeia umfaßt zehn Bücher (I–X), die jeweils in Kapitel unterteilt sind; zitiert wird nach Büchern und Kapiteln (etwa: I/1). Das zentrale Thema ist das der sokratischen Philosophie: ein gutes Leben, eine Praxis der Weisheit. Diese ist Kritik des Dogmatismus, des Geldes – aber keine abstrakte, das Kritisierte vollständig verwerfende Kritik. Der Philosophen-Staat schließt den Geld-Dogmatismus nicht aus seinem Bereich aus, sondern stellt ihn unter die Herrschaft der Weisheit: der Vernunft.

Platons Untersuchung gilt in der Politeia also dem Thema seines Gesamtwerks: es geht darum, »auf welche Weise man leben soll«; es geht um die »Tugend« (I/9); es geht »um die Einrichtung des ganzen Betragens, wie es jeder von uns einrichten muß, um das zweckmäßigste Leben zu leben« (I/17); es geht darum, »gut [zu] leben« (I/24). Diese Frage wird in Rücksicht auf die »eigentümliche Tugend der Seele« diskutiert: die »Gerechtigkeit«. Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, die festlegt, was das »Geschäft« der »Seele« und ihrer »Kräfte« ist und wie dieses »gut« zu verrichten sei (I/24; IV/17). Da das »Geschäft« der Seele das Leben ist, impliziert die Frage, »was das Gerechte ist« (I/24), die Frage nach dem guten Leben. Die Entfaltung dieser Frage wird zunächst (II/1–9; vgl. IV/11–19) am »einzelnen Mann« dargelegt und führt dann auf die politische Gesellschaft des Staates, der erst als Verstandes-, dann als Vernunft-Staat expliziert wird: als Utopie eines Philosophen-Staates. Das gute Leben wird moralisch-politisch bestimmt: die Seele des »Einzelnen« enthält in sich – der mythologischen Welteinheit gemäß – den Logos des Kosmos.

Die Form, in der dieser Inhalt vorgeführt wird, ist unterschiedlich im ersten Buch einerseits, den folgenden Büchern andererseits. Durchgehend wird der Inhalt in Gesprächsform entwickelt. Als Hauptredner tritt Sokrates auf, dem Platon seine eigenen Gedanken in den Mund legt. Dialog und Dialektik, die für Platons Philosophie kennzeichnende Argumen­tationsform, prägen weitgehend nur das erste Buch. Die folgenden liefern eher einen Monolog des Sokrates, dem die Dialogpartner oft nur die Stichworte geben oder dem sie bloß zustimmen; stellenweise aber (siehe: V/4) übernimmt Glaukon, der Sokrates stets folgt, nur die Rolle des Widersprechenden, der die herrschende »Meinung« vertritt, so daß das Verhältnis von Rede und Gegenrede bloß konstruiert ist. Platon hat sein dialektisches Verfahren selbst reflektiert und expliziert (VI/18–21; VII/1–3, 13–14). Die Explikation enthält zwei Seiten: die Kritik der Meinung als dialogische, dialektisch-vernünftige Kritik des voraussetzungsvollen Verstands einerseits, den Dogmatismus des Monologs, der für sich Voraussetzungslosigkeit in Anspruch nimmt, andererseits.

Im ersten Buch der Politeia wird die Form der Untersuchung explizit dargelegt, vor allem durch Sokrates’ Gegenspieler Thrasymachos. Platon schreibt diesem die an Sokrates gerichtete Rede zu:

»Sondern wenn du in der Tat wissen willst, was das Gerechte ist: so frage nicht nur und setze etwas darein zu widerlegen, wenn einer etwas geantwortet hat, weil du wohl weißt, daß fragen leichter ist als antworten; sondern antworte auch selbst und sage, was du behauptest, daß das Gerechte sei.« (Politeia, I/10; vgl. I/11, I/12)

Sokrates fragt aber nicht deshalb, weil dies »leichter« sei, sondern weil er aufklären, weil er unbewußte Selbsttäuschungen klären will – darum muß er bewußtlos Vorausgesetztes zum Ausgang nehmen, um dahinter zurückzufragen und so die Differenz zwischen Sein und Schein zu explizieren (vgl. I/8). Würde Sokrates den aufzuklärenden Selbsttäuschungen eine Lehr-Meinung entgegensetzen, würde er selbst ebenso voraussetzungsvoll verfahren wie der Gegenspieler. Das bewußtlose Selbstverständnis der Befragten impliziert nun, daß sie das, was sie voraussetzen, auf Menschen und Dinge projizieren, so daß sie das Erscheinende mit dem Wesen – was die »Sache selbst« ist – identifizieren und dadurch in einen »Widerspruch« geraten. Genauer besteht der Widerspruch darin, daß die Befragten zunächst das nicht begreifen, was sie bewußtlos voraussetzen – etwa: was Schönheit sei (vgl. V/20–22); deshalb projizieren sie unbewußt das Vorausgesetzte auf Menschen und Dinge, die sie für schön halten – so daß sie auch diese Menschen und Dinge nicht begreifen, weil sie ihnen zu bloßen Projektionsflächen des unbegriffenen Schönen geraten; endlich verfehlen sie jede Verständigung über die Schönheit, weil sie das Vorausgesetzte als Schönheit voraus- und darum anderen Vorstellungen von Schönheit entgegen-setzen, so daß sie diese ihnen fremden Auffassungen ebenfalls nicht begreifen und nur verwerfen können. Die Aufklärung des Sokrates besteht dann darin, diesen Widerspruch zu explizieren, nicht indem er selbst widersprüchlich-voraussetzungsvoll argumentiert, sondern indem er die Genese des Widerspruchs vorführt: indem er Einheit und Differenz von Sein und Schein expliziert (vgl. V/4) – mit Platon gesprochen: indem er das Verhältnis etwa des »Schönen selbst« zu den »schönen Tönen und Farben und Gestalten« als ein Verhältnis der »Teilhabe« (methexis) des Vielen an dem einen der Schönheit vorführt (V/20–22). So gilt des Sokrates’ Untersuchung dem Selbstverständnis der Befragten, was etwas an sich selbst sei: was »das Gerechte« sei. Sokrates zwingt dann seine Gesprächspartner, statt der »gewöhnlichen« die »allergenaueste Rede« zu formulieren (I/14, 15), um nicht nur die verhandelten Begriffe zu explizieren, sondern die Dinge, wie sie ihrem Begriff entsprechen; nach dieser Form ist der Arzt als Arzt Thema, der sich also »in Absicht der Kranken« nicht irrt (I/14). Während dieser Untersuchung ergibt sich, daß der Befragte zugeben muß: »Aber ich weiß selbst nicht mehr, was ich sagte.« (I/8) Er wird sich, indem Sokrates ihn zur logischen Argumentation zwingt (vgl. I/22), seiner Widersprüche, also seiner Selbsttäuschung bewußt – freilich nur widerwillig, weil seine Identität schwankend wird (vgl. I/11; I/16). Durch diese Kritik, durch diese Aufklärung der Einheit und Differenz von Schein und Sein, nähert sich die Untersuchung der verhandelten Frage (vgl. I/8): die Aufklärung zielt auf die Selbst-Erkenntnis, auf das Erkennen des Vorausgesetzten, dann auf die Erkenntnis der »Sache selbst« und endlich auf das Verstehen des Fremden – auf Verständigung. Die Argumentationsweise supponiert zum einen, daß die Selbsttäuschung nicht einfach falsch, nicht einfach Unkenntnis ist, sondern daß ihr ein Wahrheitsgehalt zukommt – daß sie zwischen »Kenntnis« und »Unkenntnis« liegt (vgl. V/21). Die Argumentationsweise supponiert sodann, daß logisches, rein begriffliches Argumentieren zwingen kann. Die Argumentationsweise supponiert endlich, daß das Bewußtwerden der Bedeutung eines Begriffs nicht nur mit dem Bewußtwerden der begriffenen Sache koinzidiert, sondern auch mit einer bewußten Lebens-Praxis: einem tugendhaften, guten Leben. Die Argumentationsweise enthält das Bewußtsein, daß ein Wissen der »Sache selbst« sowenig unmittelbar zu erlangen ist wie ein »gutes Leben«, sondern daß beides der Aufklärung bedarf – modern gesprochen: der Unbewußtes aufklärenden, utopisch gerichteten Ideologiekritik.

Der Dialog Politeia gliedert sich in fünf Teile. Buch I liefert eine Einleitung in das Thema: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Die Reflexionen über die Gerechtigkeit führen vom Einzelnen und seiner Seele auf das Thema der Politik, des Staates. Die Bücher II bis IV und weiter bis V/1–16 behandeln erst den »gesunden Staat«, dann weitgehend den Verstandes-Staat: den Wächter-Staat, der aus dem »gesunden« hervorgeht und die Beherrschung der Triebe erzwingt. Die Bücher V/17 bis VII gelten dem Vernunft-Staat: dem Philosophen-Staat, in dem die Gerechtigkeit als reflektierte Vernunft-Herrschaft über die Triebe verwirklicht ist. Die Bücher VIII und IX bestimmen die Ungerechtigkeit als Herrschaft der Triebe über die Vernunft; sie formulieren eine Kritik der bestehenden ungerechten Staatsformen aus der Perspektive des Vernunft-Staates. Das abschließende Buch X behandelt die Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der Unsterblichkeit der Seele. Der Fortgang der Darstellung ist, bis zum Vernunft-Staat, ein aufklärender Rückgang, der dann die Kritik existierender Ungerechtigkeits-Staaten leitet.

Die Einleitung (Buch I) führt das Thema – Gerechtigkeit – in Form einer Erzählung ein. Sokrates trifft nach einem Besuch im Peiraieus den Polemarchos, der ihn in sein Haus einlädt, wo sich auch Kephalos – der Vater des Polemarchos – aufhält. Sokrates fragt den alten Mann, ob seines Alters: »ob es schwer zu leben ist« (I/2). So wird die Frage eröffnet: wie zu leben sei. Diese Frage verknüpft Kephalos mit jener nach einem gerechten Leben: wer »unrecht getan hat«, fürchtet den Tod, die Strafen, die er in der Unterwelt leidet (I/5). Gut zu leben heißt also: sein Leben nach der »Tugend« (I/9) der Gerechtigkeit einrichten und darum: den Tod nicht fürchten (vgl. X). So untersucht Sokrates die Gerechtigkeit an den Begriffsbestimmungen, die Polemarchos, vor allem Thrasymachos vortragen.

Er verwirft zunächst das Dogma des Polemarchos, Gerechtigkeit bestehe im Ausgleich: den Freunden Gutes, den Feinden Übles antun (I/6, 7). Sokrates’ Gegenargument lautet: Wenn der Gerechte den Feinden schade, mache er die Ungerechten nur noch ungere chter. Also werde der Gerechte niemandem schaden (I/8, 9). Thrasymachos hingegen sagt aus: »das Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche«; er wendet diese Bestimmung näher: der »Stärkere« sei die »Regierung«, die in »jedem Staat« die »Gewalt« innehabe. So sei es gerecht, die von der Regierung gegebenen Gesetze nicht zu übertreten (I/12, 14). Sokrates argumentiert dagegen (I/15–24): Bedürfte der Regent eines ihm Zuträglichen, wäre er kein vollkommener Regent; also »bedenkt« oder »befiehlt« ein »Regierender« nicht »das ihm selbst . . . , sondern das dem Regierten« Zuträgliche – dieser ist unvollkommen (I/15, 17). Die Vollkommensten als die »Kundigen«, »Weisen« (I/21) und »Stärkeren« gelangen aber an die Regierung, nicht um des Geldes oder der Ehre, nicht um des »eigenen Besten« willen, sondern weil ihnen sonst eine Strafe droht: »von Schlechteren regiert zu werden« (I/18). So zeigt sich auch hier: Das Gerechte ist eine Weisheit und Tugend, nach der der Gerechte gut lebt, weil er das allgemeine Gute will, weil er nicht intendiert, »vor dem Ähnlichen« etwa »voraushaben« zu wollen, sondern allein »vor dem Unähnlichen und Entgegengesetzten« (I/21) – daher ist der Gerechte ein »besserer Genosse« in einer »Genossenschaft« (I/7) und ein vorzüglicher Regent in einem Staat (I/12–19). Das gute Leben setzt mithin Gerechtigkeit voraus, die eine durch die »Rechtschaffendsten« im Interesse eines allgemeinen Guten regierte Polis impliziert. So führen die Fragen nach dem guten Leben und der Gerechtigkeit zur Politik. Ungerechtigkeit hingegen führt zu »Zwietracht und Haß und Streit« der Ungerechten gegeneinander und gegen die Gerechten – zur Auflösung jeder Gemeinschaft (I/21–23). Die politische Form der Ungerechtigkeit ist die Tyrannei (vgl. I/12, 16).

Nach diesen Ausführungen über die Gerechtigkeit und das gute Leben wird die Frage, »was das Gerechte ist« (I/24), »wozu« sie »den, der sie hat, macht«, zuerst am »einzelnen Mann« eingeführt (II/1–9), dann – weil das Gerechte am »Größeren« leichter erkennbar ist als am »Kleineren« und weil »das Gerechte« als eine auch politisch-allgemeine Kategorie eingeführt wurde – am Stadt-Staat (II/10–IV/11), und kehrt endlich zurück zum Einzelnen, der nun in seinem Verhältnis zum Stadt-Staat zu bestimmen ist (IV/11–19). Dieser Argumentationsgang indiziert, daß der Einzelne nicht als bürgerliches Individuum verstanden ist, das seine Besonderheit nicht nur im Allgemeinen besitzt, sondern auch gegen das Allgemeine; das antike Individuum ist vielmehr die Personifikation des Allgemeinen, indem es am Allgemeinen – wie Platon es ausdrückt – teilhat (méthexis): der Einzelne verhält sich zum Allgemeinen wie das Abbild zum Urbild der Ideen. – Die Erörterung am »einzelnen Mann«, die am Anfang und am Ende der Untersuchung steht, ergibt sich aus der einführenden Bestimmung, die Gerechtigkeit sei eine »eigentümliche Tugend« der »Seele«, die somit ihr »Geschäft« – »leben« – »gut verrichten« kann, sich also in einem guten Leben zu verwirklichen vermag (I/24). Insofern sind die Untersuchungen über die Seele systematisch vorrangig, werden bei Platon aber nachgeordnet, um die »Gerechtigkeit« am Stadt-Staat überhaupt erst zu erkennen. – Die Erörterung der Gerechtigkeit am Stadt-Staat wird jedoch nicht bloß aus erkenntnis-technischen Gründen durchgeführt, sondern weil das gute, der Gerechtigkeit folgende Leben über den Einzelnen hinausführt zur Polis: die Ordnung der Seele ist die Ordnung des Staates.

Sokrates bestimmt am Ende des ersten Argumentationsganges über den Wächter-Staat die Gerechtigkeit in Rücksicht auf den Einzelnen, auf die »Seele« (IV/11–19). Die »Seele« hat, nach dieser Lehre, drei Seelenteile:

»Das ist aber wohl schwer, ob wir mit demselben alles verrichten, oder von dreien mit jeglichem ein anderes: mit einem von dem, was in uns ist, lernen, mit einem andern uns mutig erweisen, und mit einem dritten wiederum die mit der Ernährung und Erzeugung verbundene Lust begehren, und was dem verwandt ist, . . .« (Buch IV/Kap. 12)

Die drei Seelenteile sind also: Verstand (logistikón), Mut oder Wille (thymós) und Begierde (epithymia). Den drei Seelenteilen entsprechen drei der vier Kardinaltugenden: Weisheit (sophia), Tapferkeit (andreia) und Besonnenheit (sophrosyne). Die Gerechtigkeit (dikaiosyne) ist kein vierter Seelenteil, sondern die – vierte – Tugend, die die anderen Seelenteile in das rechte Verhältnis setzt und dadurch in »Zusammenstimmung bringt« (IV/17): jedes verrichtet, in einer inner-seelischen Arbeitsteilung, »das Seinige« (IV/16). Diese Arbeitsteilung bildet sich nicht wie selbstverständlich aus, weil jedes der drei Seelenteile keineswegs nur, unbekümmert um die anderen, seiner Aufgabe nachgeht, sondern seinen Imperativ auch gegen die anderen durchzusetzen versucht; diese drei Seelenteile befinden sich in einem Zustand des Zwiespalts und Unfriedens. Daher bedarf es der Gerechtigkeit. Die von der Gerechtigkeit konstituierte Ordnung setzt »das Denkende und Vernünftige der Seele« (IV/14) als das Herrschende (IV/16, 17). Die Herrschaft wird allererst gegenüber dem »Begehrlichen« ausgeübt, »welches wohl das meiste ist in der Seele eines jeden und seiner Natur nach das Unersättlichste« (IV /16). Unterstützt wird das »Vernünftige« bei dieser Herrschaft durch »das Eifrige« oder die »Tapferkeit«, die selbst gedankenlos (IV/15), aber dem Vernünftigen »folgsam . . . und verbündet« ist (IV/16). Die von der Gerechtigkeit konstituierte Ordnung gilt dem »Herrschen und Beherrschtwerden«, allererst der Herrschaft der Vernunft über die Begierden, so daß die Tugend der Besonnenheit resultiert. Die Seelenteile und ihre Tugenden sind ein Allgemeines: wie das »Dursten selbst« auf das »Getränk selbst«, aber kein bestimmtes Getränk, gerichtet ist, so gilt die »Erkenntnis selbst« dem »Erkennbaren selbst«; die »gewisse und irgendwie beschaffene Erkenntnis« aber gilt einem »gewissen und irgendwie beschaffenen Erkennbaren«. Insofern gelten die Ausführungen über die Seele einem »einzelnen Mann« nur, soweit dieser am Allgemeinen teilhat und dessen Personifikation ist.

Die »Ungerechtigkeit«, als Gegensatz zur Gerechtigkeit, ist analog zu bestimmen: Jedes verrichtet nicht das Seine, sondern anderes oder Vielerlei. Dadurch befindet sich die Seele nicht in einem Zustand des Zusammenstimmens, sondern des »Zwiespalts« der Seelenteile. Vor allem heißt Ungerechtigkeit: Herrschaft der Begierden über die Vernunft (IV/18).

Weil die Gerechtigkeit als eine politische Kategorie eingeführt wurde: als Verwirklichung des guten Lebens, als eine durch die »Rechtschaffendsten« im Interesse des allgemeinen Guten regierte Polis, ergibt sich unmittelbar der Fortgang von der Betrachtung des Einzelnen zum Allgemeinen, von der Seele zum Stadt-Staat, vom Inneren zum Äußeren (vgl. IV/11 und 17). Sokrates untersucht die Gerechtigkeit an der Polis, indem »wir in Gedanken eine Stadt entstehen sehen« und mit ihr »auch ihre Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit« (II/10). In Gedanken wird ein Staat konstruiert, dessen Ordnung dem entspricht, »was das Gerechte« (I/24) ist, »was die »Gerechtigkeit an sich« und was ein »vollkommen gerechter Mann« (V/17). Als Gedankenkonstruktion ist der entwickelte Staat kein empirisch vorfindlicher, sondern ein idealer Staat, dessen »Staatsverfassung« – differenziert in eine Fülle einzelner »Gesetze« – entfaltet wird (vgl. IV/19, V/1, 6, 7, 10, 17); die Gesetze sind, weil sie Ausdruck der »Gerechtigkeit an sich« sind, »der Natur gemäß« (V/6). Die Konstruktion dieses Idealstaates beginnt also keineswegs erst im Buch V/17 mit der Darstellung des Philos ophen-Staates, sondern gleich im Buch II. Wiederholt wird betont: Die Untersuchung gilt einem Staat, der »so trefflich als möglich eingerichtet«, der »vollkommen gut« ist (IV/6 und 11): weil er bestimmt ist durch jene vier Kardinaltugenden, die sich in der Seele des Einzelnen finden. Sie sind »aus den Einzelnen in die Staaten hineingekommen« (IV/11). Den Seelenteilen im Einzelnen entsprechen die »Klassen« im Staat, die ein System der Arbeitsteilung bilden (IV/11): die »beratende« (logistikon), die »beschützende« (thymos) und die »erwerbende« (epithymia) Klasse. Die Gerechtigkeit konstituiert wiederum die Ordnung im Staat, nach der jeder Klasse zukommt, »das Seine« zu tun – ihr »Geschäft« zu betreiben (V/4). Die Ordnung besteht somit in der Herrschaft der Vernunft über die Begierden auch im Staat – das entspricht der Gerechtigkeit. Ungerechtigkeit wäre, im Gegensatz: Herrschaft der »erwerbenden« Klasse über die »beratende« und »beschützende«; Auflösung der Arbeitsteilung.

Durch die Ordnung verbürgende Gerechtigkeit wird – dem Sokrates des Platon zufolge – das »größte Gut . . . für das Bestehen eines Staates« verwirklicht: die Einheit – das, was ihn »zu einem macht« (V/11), so daß er »einem Leibe« vergleichbar ist (V/12). Diese sinnliche kollektive Identität wird zurückgeführt auf die »Ursache« einer gemeinsamen Abstammung (V/11, 12). Platons Konstruktion entspricht darin der mythologischen Welt, daß sinnliche und übersinnlich-abstrakte Welt, Objekt und Subjekt, kaum differenziert sind, so daß das Allgemeine – das Verhältnis der Subjekte zueinander – wesentlich sinnlich vorgestellt wird. Daher gibt es in diesem Idealstaat keine Gleichheit der Bürger unter einem transzendentalen, abstrakt-allgemeinen Gesetz, daher gibt es keine individuelle Ich-Abgrenzung gegen die Gesellschaft und gegen andere Individuen, daher ist die Utopie die einer Gemeinschaft, in der »alle dasselbe ›mein‹ nennen«, in der »keiner etwas Eigenes außer seinem Leibe« besitzt. Weil es also nichts gibt, was einem Einzelnen »ausschließend vor den anderen« gehört, weil weder Individualität noch Privateigentum bekannt und anerkannt sind, herrscht innerhalb der Polis: »Frieden« – keine »Zwietracht«, keine »Gewalttätigkeit und Beschimpfungen«, keine »Klagen«, kein »Rechtsstreit« (V/12). So ist Platons Staats-Utopie eine Friedens-Utopie. In diesem idealen Staat ist jeder dem anderen ein »Bruder oder eine Schwester oder ein Vater oder eine Mutter« (V/11) – freilich als Abstammungsgemeinschaft, nicht als weltbürgerliche Gesellschaft. Das gilt nicht nur innerhalb einer Polis, sondern auch gegenüber anderen hellenischen Staaten: die Hellenen sind einander »Befreundete und Verwandte«, »Genossen derselben Heiligtümer« (V/15, 16). Darum ist eine Zwietracht zwischen hellenischen Staaten ein »Zwist«, kein »Krieg«; darum dürfen Hellenen nicht andere Hellenen zu »Knechten« machen und weder ihr »Land verwüsten noch Wohnungen verbrennen« (ebd.). Ein Zustand des Friedens existiert freilich nicht im Außenverhältnis des Ideal-Staates: Menschen, die nicht zur sinnlichen Abstammungs-Gemeinschaft gehören, sind: »Barbaren«, »Fremde und Ausländer«, Feinde. Nach außen also herrscht: »Krieg« (V/16). Umgekehrt gilt für einen Staat der Ungerechtigkeit: Es herrscht »Zwietracht« – Krieg – nicht nur nach außen, sondern auch nach innen.

Sokrates entwickelt den Staat und die Stadt (Polis) zunächst – im Buch II/10–12 – als Subsistenz-Ökonomie. Sodann – in den Büchern II/13 bis IV/19, mit einem Nachtrag im Buch V/1–16 – schreitet er fort zur Konstruktion des Ideal-Staates der Gerechtigkeit erst in der, dem Verstand entsprechenden, Gestalt des »üppigen Staates« und Wächter-Staates (II/10 bis IV/19 und weiter bis V/16); »Wächter« oder »Wehrmänner« sind Soldaten eines Heeres. Bis zu dieser Stufe der Darstellung habe er, betont der Sokrates des Platon, gesucht, was die »Gerechtigkeit an sich« und was der »vollkommen gerechte Mann« ist; er habe das »wahre Wesen« beider gesucht. Das Gesuchte ist ein »Urbild«, ein »Musterbild eines guten Staates« (V/17). Im nächsten Schritt wird nach der Möglichkeit einer entsprechenden realen Staatsverfassung gefragt, die sich wie ein Abbild zum »Urbild« verhalte: die am »Urbild« nur »Anteil« habe und dieses nicht vollkommen verwirkliche, sondern ihm nur »so nahe als möglich kommt«. So werde gezeigt, daß der gedanklich konstruierte Staat nicht bloß »ein frommer Wunsch« sei, sondern eine Möglichkeit (V/17). Diese Möglichkeit des Staates der Gerechtigkeit ist der, der Vernunft gemäße, Philosophen-Staat (V/17 bis VII). Die Form des gerechten Staates ist entweder das Königtum (basileia) (V/18, VI/1, VI/14), so daß einer herrscht, oder die Aristokratie (›Herrschaft der Besten‹), so daß mehrere herrschen (IV/19). Der Staat der Ungerechtigkeit – also die Formen der empirisch vorhandenen Staaten – entsteht logisch aus dem Verfall des Staates der Gerechtigkeit und entwickelt sich von der Timokratie (time: Schätzung; krátos: Herrschaft: Herrschaft des Geldes als der Inkarnation des unbegrenzten Bedürfnisses) zur Oligarchie (olígos: wenig; árchein: führen), Demokratie (demos: Volk) und endlich zur Tyrannis, der gesetzlosen Form des Königtums (VIII bis X). So existiert nur eine Form des gerechten Staates, der einen Idee des Guten und Gerechten – dem eleatischen Identitätsprinzip – entsprechend, aber vier Formen des ungerechten (IV/19).

Am Beginn steht der Staat in Form einer Subsistenzökonomie (II/10–12). Die Subsistenzökonomie enthält bereits die Struktur der Gerechtigkeit, weil sie das Stadium einer Autarkie Vereinzelter hinter sich gelassen und eine Arbeitsteilung ausgebildet hat (II/11). Gleichwohl stellt sich in diesem Stadt-Staat das dargestellte Problem der Gerechtigkeit nicht: Denn eine solche Ökonomie ist zwar nicht autark (vgl. II/11), begnügt sich aber mit dem »Notwendigen« (II/14). Daher ist keine Begierde vorhanden, die einer Herrschaft der Vernunft bedürfte; daher ist keine Gerechtigkeit vonnöten, die die Vernunft, die Tapferkeit und die Begierde in ein rechtes Verhältnis zu setzen hätte, um die Tugend der Besonnenheit zu konstituieren. Platon nennt diese ursprüngliche eine »rechte« oder »gesunde Stadt« (II/13). Erst mit dem Übergang zur »üppigen Stadt« (II/13–14) entsteht das Problem der Gerechtigkeit, erst durch diesen Übergang ist die Notwendigkeit eines Wächterstaates gesetzt: der Beherrschung der Triebe durch eine innere und äußere Gewalt.

Sokrates beschreibt die Entstehung einer Stadt und dadurch deren ökonomische und soziale Struktur (II/11–12). Die Stadtgründung erfolgt durch »unser Bedürfnis«, weil »jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf«. Die Stadt ist somit intern ein System arbeitsteilig Produzierender, in dem jeder etwas für sich, das meiste aber für andere herstellt, um von diesen zu empfangen, wessen er bedarf. Am Anfang werden die Grundbedürfnisse befriedigt: Nahrung, Wohnung, Bekleidung. So sind die ersten Produzenten: Ackersmann, Baumeister und Weber. Dann bedürfen diese unmittelbaren Produzenten weiterer, die ihnen ihre Produktionsmittel erzeugen: Schmiede, Holzarbeiter, Rinderhirten, Schäfer. Die Stadt ist aber, als Ganze, in ein über-staatliches System der Arbeitsteilung integriert: sie muß von anderen Städten einführen, was sie benötigt, und diese Städte mit Waren beliefern, die diese benötigen. Die interne Arbeitsteilung wird durch einen Markt, Münzen und »Krämer« vermittelt, die äußere Arbeitsteilung ebenfalls durch einen Markt und »Handelsleute«. Darüber hinaus gibt es in der Stadt »Tagelöhner«, die über eine »hinreichende körperliche Stärke« verfügen, so daß sie »zu allerlei schweren Arbeiten« geeignet sind; aufgrund ihres geringen Verstandes werden sie »nicht sehr in die Gemeinschaft gezogen« (II/11–12). So ist eine Stadt entstanden, die die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt: die Stadtökonomie ist eine Subsistenz-Ökonomie.

Mit dem Fortgang zu einer »üppigen Stadt« (II/13–14) entsteht allererst das Problem der Gerechtigkeit: des Verhältnisses von Vernunft, Tapferkeit und Begierde. Denn einmal bildet auch diese Stadt ökonomisch ein System der Arbeitsteilung, andererseits ist sie durch das Seelenteil der Begierde geprägt und bedarf daher der Herrschaft von Vernunft und Tapferkeit über jene Begierden, um die Seelenteile in ein Verhältnis der »Zusammenstimmung« zu bringen: um die Tugend der sophrosyne auszubilden. So sind, gleichursprünglich, Begierden, Tapferkeit und Vernunft gesetzt – und die Gerechtigkeit, die diese Teile ordnet, indem sie jedem das Seine zuweist. Auf der ersten Stufe der Darstellung des gerechten, idealen Staates steht die Herrschaft der Tapferkeit; die Vernunft herrscht erst in der Form des unreflektierten, voraussetzungsvollen Verstands.

Sokrates legt dar, daß in der »üppigen Stadt« der »Ursprung des Krieges« und der Notwendigkeit von tapferen »Wächtern« oder »Wehrmännern« zu finden ist. An die Stelle der »rechten« oder »gesunden Stadt« (II/13) tritt die »aufgeschwemmte Stadt« (II/13), an die Stelle der Befriedigung von Grundbedürfnissen tritt die Begierde: ein allgemeines »Mehrhabenwollen« (II/3). In dieser Stadt gibt es: »Jäger und Schaukünstler«, »Tonkunst, Dichter und deren Diener, Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Unternehmer und Handwerker zu allerlei Gerätschaften«. Weil in dieser Stadt die »Grenzen des Notwendigen« überschritten werden, reicht der vorhandene »Grund und Boden« nicht aus, so daß »von den Nachbarn Land« abgeschnitten werden muß: durch »Krieg«, geführt von »Wehrmännern«, von einem »Heer«. Aber auch im Inneren impliziert das »Mehrhabenwollen« die Tendenz zur Gesetzesübertretung. Die Wehrmänner haben deshalb die »Freiheit der Stadt« (III/8) gegen Gewalt von innen und außen zu verteidigen (III/22). Der Beste – oder die Besten (Aristokratie) – unter den Wehrmännern wird zum »Herrscher und Hüter der Stadt« (III/20), die so einen Wächterstaat bildet: einen Staat, der sich wegen seiner Unmäßigkeit im beständigen latenten oder offenen Kriegszustand befindet und allein durch die Wächter integriert wird.

Die Wehrmänner, allererst der Herrscher, müssen von der allgemeinen Grenzenlosigkeit ausgenommen sein – sonst könnten sie die Gewalt im Inneren und nach außen nicht abwehren, sonst wären sie selbst gewalttätig. Sie verkörpern mithin die Tugend der »Besonnenheit« (sophrosyne) (III/3, 12), sie herrschen, weil sie »Selbstbeherrschung« (III/4) üben. So sind die Wehrmänner die Personifikationen der Herrschaft von Vernunft und Tapferkeit über die Begierden. Weil diese Besonnenen herrschen, ist die »üppige Stadt« gleichwohl eine besonnene: tugendhafte Stadt. – Die Tugend der Besonnenheit bedeutet, daß die Wehrmänner nicht nur vom »Mehrhabenwollen« ausgenommen sind, sondern auch von dessen Voraussetzung: dem Haben – sie dürfen über keinerlei Privatbesitz, über keinerlei Geld verfügen (III/22, IV/1, V/13). Das »Mehrhabenwollen« ist institutionalisiert im Gelde: Handel und Geld vermitteln die auf die Befriedigung von Bedürfnissen gerichtete arbeitsteilige Produktion, so daß das Geld als Inkarnation eines abstrakt-grenzenlosen Bedürfnisses gelten muß. Besonnenheit einerseits, Geld und Privateigentum andererseits schließen einander aus. – Sokrates legt deshalb als Tugend und Lebenspraxis für die Wächter, insbesondere für die Herrscher fest: Sie sollen »kein eigenes Vermögen« (Privateigentum) besitzen und auch kein Gold und Silber (Geld). Sie sollen nicht unter der Herrschaft der Begierden stehen, sie sollen vom »Mehrhabenwollen« – vom Imperativ der »üppigen Stadt« – frei sein (III/22; IV/1); sie sollen die Tugend der Besonnenheit verkörpern (III/12); sie sollen »Wohnung oder Vorratskammer« gemeinschaftlich nutzen (III/22). Gemeinschaftseigentum soll das Leben der Wächter und der Herrschenden prägen – während die Beherrschten über Privateigentum und Geld verfügen, von den Begierden fortgerissen werden und sich nicht selbst zu beherrschen vermögen. Durch die Wächter wird, weil sie die Stadt ebenso wie sich selbst beherrschen, die Stadt als Ganze eine Stadt nicht der grenzenlose Begierde: des »Mehrhabenwollens«, sondern der Besonnenheit (IV/3). Eine Stadt unter der Herrschaft der Begierden wäre, im Gegensatz zur besonnenen Stadt, eine Stadt, die in »Reichtum und Armut« gespalten wäre und durch den Reichtum verkümmerte (IV/2).

Sokrates widmet sich ausführlich den »Wehrmännern«: zunächst deren »Natur« (II/15–16), dann deren »Erziehung« (II/17–III/18), endlich der Auswahl der Besten unter diesen Wehrmännern (III/19–21), schließlich – in einem Nachtrag (vgl. V/2) – der Zeugung und »Pflege« dieser Besten »in ihrer ersten Kindheit« (V/2; dazu: V/7–16). In einem Zusatz (V/1–6) betont Sokrates nachdrücklich: Die Gesetze, die für den »einzelnen Mann« (II/10) aufgestellt wurden, gelten ebenso für das »Weib«: denn in Rücksicht auf die »Staatshut« haben »Mann und Weib dieselbe Natur« – die Frauen sollten keineswegs »nur drinnen das Haus hüten«, sondern auch in den Krieg ziehen (V /3, 5, 6, 7, 13, 14).

Die »Natur« der Wehrmänner ist: Schnelligkeit, Stärke, Tapferkeit, Eifer. Sie müssen »gegen die Befreundeten sanft« sein »und nur den Feinden hart« gegenübertreten. Indem die Wehrmänner klar zwischen »Verstehen und Nichtverstehen«, Wissen und Nichtwissen, »Verwandten und Fremdartigen«, Freunden und Feinden unterscheiden können, ist ihre Natur auch »philosophisch«: denn wer diese Unterscheidungen trifft, ist »lernbegierig«, also »philosophisch«. Durch diese philosophische Natur erst sind die Wehrmänner besonnen, durch diese Natur erst herrschen in ihnen Vernunft und Tapferkeit über die Begierden. So fallen in den Wehrmännern die Seelenteile des Verstandes (logistikón) sowie des Mutes (thymos), analog die Tugenden der Weisheit (sophia) und der Tapferkeit (andreia) zusammen.

Die »Erziehung« erfolgt zunächst als Erziehung der Seele: auf dem Gebiet der »Musik«, zu der auch das Reden und die Erzählungen gehören (II/ 17–III/12). In diesem Kontext kritisiert Sokrates bisweilen die Theogonie des Hesiod, vor allem aber Homers Ilias und Odyssee. Sokrates stellt zunächst inhaltliche Anforderungen an Erzählungen auf. Er fordert allererst, Kinder sollten nur »Märchen« hören, in denen die Götter allein als des »Guten Ursache« dargestellt werden, nicht aber – wie bei Homer und Hesiod – auch als Ursache des »Bösen« und der Zwietracht unter »Verwandten und Angehörigen« (II/17). Die Mythen sollten die Tugenden der Tapferkeit (III/1) und Besonnenheit (III/3, 4) preisen, also die Geldgier als Ausdruck grenzenloser Begierde verächtlich machen. Der Form nach plädiert Sokrates sodann für Erzählungen, die sich in möglichst geringem Umfang der »Darstellung« bedienen. Denn in der Darstellung (Tragödie, Komödie) legt der Dichter seine Worte anderen Personen in den Mund, schlüpft gleichsam in eine andere Person – das entspricht nicht dem System der Arbeitsteilung in der Idealstadt. So soll die geforderte Erzählung der Form nach weitgehend die Lyrik, der »Bericht des Dichters«, sein, allenfalls das Epos, das Tragödie oder Komödie mit der Lyrik mischt (III/5–9). Sokrates reflektiert auch über angemessene Formen der »Gesänge« und deren »Begleitung« durch Musikinstrumente (III/10–12). – Die »Erziehung« erfolgt sodann als Erziehung des »Lei bes« durch »Gymnastik« (II/17; dazu: III/13–18). Sokrates bemerkt: Weil die »Seele, die wir gehörig gebildet haben«, durch »ihre Tugend den Leib aufs bestmögliche ausbildet«, bleibe ihm einzig, »die Grundzüge« der gymnastischen Erziehung darzulegen. Angemessen sei vor allem eine »einfache und schlichte . . . Behandlung des Leibes«; alles andere erzeuge nur Krankheiten (III/13). Entsprechend bedürfe es einer »Heilkunst«, die eine »übermäßige Sorgfalt für den Körper« vermeide (III/14, 15); im Zweifelsfall solle man Bürger eher »sterben lassen« (III/17). So steht auch die Gymnastik unter der Tugend der Besonnenheit. – Beide Formen der Erziehung: die der Seele und die des Leibes, gelten wohl der Besonnenheit und der Tapferkeit, aber nicht unmittelbar der Vernunft, der Weisheit, durch die erst die Imperative der Begierden beherrscht werden, so daß Besonnenheit resultiert. Die Wehrmänner werden nicht zu Philosophen erzogen, sondern erlernen jene Tugenden erst in der Form mythologischer Erzählungen und Reden.

Unter den so erzogenen und gebildeten Wehrmännern sind nun, nach Sokrates (III/19–21), diejenigen auszuwählen, die »zu gebieten haben«, während die anderen »gehorchen« sollen. Die Gebietenden gebieten nicht nur den anderen Wehrmännern: sie sind die »Herrscher und Hüter der Stadt« (III/20); ihr privates Interesse koinzidiert mit dem allgemeinen Interesse der Stadt (III/19). Herrschen sollen: die Älteren; die »besten unter ihnen« (Aristokratie); die »achtsamsten . . . in der Stadt«; die »verständig«, »tüchtig« und »vorsorglich für die Stadt« sind; die glauben, die Stadt werde durch die Vorsorge »gefördert« wie sie »selbst«: wenn die Stadt »sich vorzüglich wohl befinde, werde auch folgen, daß er selbst sich wohl befindet« (III/19). Allein: Wer bestimmt die Herrschenden? – die Gehorchenden können es nicht sein, nur die Erzieher der Erzogenen. Diese müßten über den Herrschenden stehen, aber das scheint unmöglich. Also erzählt Sokrates einen Mythos (III/21), den er selbst als eine »untadelige und heilsame Täuschung« bezeichnet, durch die er »Befehlshaber«, »Krieger« und die »übrige Stadt« »überreden« will. Der Mythos erzählt die Entstehung von drei Ständen. Danach waren alle Menschen einst »unter der Erde«, ihrer Mutter. Dort wurden sie »gebildet und aufgezogen«, dort wurden »auch ihre Waffen und andere Gerätschaften gearbeitet«. Als alles »ausgearbeitet« war, wurden diese Menschen von der Erde »heraufgeschickt«. Sie sollten nun für »ihre Mutter und Ernährerin« – »das Land« – »sorgen« und ebenso für ihre »Mitbürger als Brüder und gleichfalls Erderzeugte«. Der »bildende Gott« hatte nun denen, »welche geschickt sind zu herrschen, Gold bei ihrer Geburt beigemischt, . . . , den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und übrigen Arbeitern.« Obwohl »meistenteils« Ähnliche Ähnliches erzeugen, »könnte doch auch wohl aus Gold ein silberner und aus Silber ein goldener Sprößling erzeugt werden, und so auch alle andern aus einander.« Jedem soll »nur die seiner Natur gebührende Stelle« von den Befehlshabern angewiesen werden.

In einem Nachtrag (V/1–16) widmet Sokrates sich der physischen Produktion und Reproduktion der Besten, der Aristokratie, der »Hüter« der Gemeinschaft: ihrer »Kindererzeugung« und »wie die Erzeugten aufgezogen werden sollen« (V/1), also die »Pflege in ihrer ersten Kindheit« (V/2). Diese Produktion und Reproduktion steht unter der Tugend der sophrosyne, institutionalisiert in einer Gemeinschaftsökonomie ohne Privatbesitz und Geld. Sie betrifft allererst das Verhältnis der Männer und Frauen (V/6–10), dann die »Gemeinschaft der Weiber und Kinder« (V/2). Sokrates legt dar: Weil »Mann und Weib« in Rücksicht auf die »Staatshut« »dieselbe Natur« haben, so daß jene Hut Männern und Frauen gleichermaßen zukommt, sollen die besten Männer mit den besten Frauen zusammenleben und mit ihnen gemeinsam die »Staatshut« übernehmen (V/6). Weil zudem die Hüter unter dem Logos der Gemeinschaftsökonomie stehen, sollen die

»Weiber allen diesen Männern gemeinsam sein, keine aber irgendeinem eigentümlich beiwohnen, und so auch die Kinder gemeinsam, so daß weder ein Vater (noch eine Mutter; G.S.) sein Kind kenne, noch auch ein Kind seinen Vater (seine Mutter; G.S.).« (V/7; siehe: V/9)

Das Beiwohnen soll auf »gesetzlich« eingeführten »Festen« erfolgen, auf denen die »Besten« der Männer und Frauen unter »Opfern und Gebeten« zusammengeführt werden (V/8, 9). Die so gezeugten und dem »Staat« geborenen besten Kinder werden in ein »Säugehaus« gebracht und dort von »Wärterinnen und Kinderfrauen« gepflegt; die geborenen schlechten Kinder werden an »einem unzugänglichen und unbekannten Ort« verborgen (V/9). Die Folge dieser »ursprünglichen« Gemeinschaft unter »den Hütern« des »Staates« ist, nach Sokrates: daß es in dem Staat, weil er durch diese »Hüter« zusammengehalten und verteidigt wird, kein privates »Mein« gibt, sondern nur ein kollektives, gemeinschaftliches. Der Staat ist also »am besten eingerichtet«, in dem das Leiden eines Einzelnen sogleich von allen gefühlt wird, so daß »alle Bürger . . . sich auf gleiche Weise freuen und betrüben« – jeder gilt dem anderen, weil die Zeugungsverwandtschaft im Dunkel bleibt, als »Bruder« oder »Schwester« oder »Vater« oder »Mutter« (V/10). Der ideale Staat ist, als eine Abstammungs-Gemeinschaft, als Gemeinschafts-Ökonomie, einer: ohne Zwietracht (V/10). So ist dieser Staat ein Staat des »Friedens« (V/ 12). Während im idealen Staat, aufgrund jener Einheit, die »Obrigkeit« als »Mitbürger«, »Erhalter und Gehilfen« benannt wird, während die Obrigkeit »das Volk« als »Lohngeber und Ernährer« bezeichnet, gelten im Staat des Privateigentums und der Zwietracht die Obrigkeiten als »Herren« und das Volk als »Knechte« (V/11)

In dem so entwickelten idealen Stadt-Staat, ausgebildet zum Wächter-Staat, sind die drei Seelenteile äußerlich geworden und dargestellt: Die Herrschenden unter den Wehrmännern repräsentieren den Verstand und den Mut, die Händler und Krämer die Begierde. Die Stadt ist eine gerechte Stadt, weil die Gerechtigkeit die Herrschaft von Weisheit und Tapferkeit über die Begierde etabliert hat. Sokrates resümiert: Die gegründete Stadt ist weise, weil sie durch »Erkenntnis« »wohlberaten« ist; die fragliche Erkenntnis liegt bei den Befehlshabern und gilt nicht einem speziellen Moment der Stadt, sondern gibt einen »Rat . . . über sie selbst ganz, auf welche Weise sie mit sich selbst und mit andern Städten am besten umgehen soll« (IV/6). Die gegründete Stadt ist tapfer, weil durch »Bildung« bei den Wächtern die »richtige und gesetzliche Vorstellung von dem, was furchtbar ist und was nicht«, entstanden ist und aufrechterhalten wird (IV/7). Die gegründete Stadt ist besonnen, weil unter der Herrschaft der Wächter »eine Mäßigung gewisser Lüste und Begierden« durchgesetzt wird; dadurch ist die Stadt »Herr ihrer selbst«; die Besonnenheit ist nur bei den Herrschern, den »Bestgearteten und Besterzogenen« anzutreffen, weil nur diese »von Vernunft und richtiger Vorstellung verständig geleitet werden« (IV/8). Die gegründete Stadt ist gerecht, weil in ihr »jeder das Seinige verrichtet«: weil die Vernunft, unterstützt durch die Tapferkeit, über die Begierden herrscht (IV/9, 10). Zusammengefaßt: Die gedanklich konstruierte Stadt ist das »Urbild« einer gerechten Staatsverfassung, das »Musterbild . . . eines guten Staates« (V/17).

Der Mangel dieser gedanklichen Gründung eines idealen Staates ist jedoch offenbar. Zwar gelten die Hüter und Wächter als Personifikationen von Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit. Aber sie wurden unterwiesen in der Gymnastik, die dem vergänglichen Leib gilt. In der Musik hinge gen erfolgte die Erziehung »durch Gewöhnungen« und »Reden«, die der »Wahrheit« allenfalls »verwandt« waren – und nicht durch »Wissenschaft« (VII/6). So ist die Weisheit nur unreflektiert vorausgesetzt: Die der Seele geltende Erziehung der Wehrmänner erfolgt wesentlich durch Mythen; die physische Produktion und Reproduktion der Besten setzt die Besten immer schon voraus; die Auswahl der Besten wird diesen und den anderen Bürgern durch einen Mythos erklärt. Weil die Weisheit, weil die Besten (Aristokratie) voraus-gesetzt sind, ist die Weisheit noch nicht erfaßt, liegt die Genese der idealen Stadt im Dunkel. Dennoch ist die Gründung des idealen Staates als Wächter-Aristokratie nicht hinfällig, so daß der wahrhafte Vernunft-Staat erst jenseits dieses Wächter-Staates läge. Vielmehr ist der Wächter-Staat die erste, allerdings noch unreflektierte Stufe des idealen Staates, der nun eine reflektierte, aufgeklärte nachfolgen muß, in der die Genese von Weisheit und vernünftiger Polis thematisch ist. So ist der Fortgang über den Wächter-Staat hinaus ein Rückgang hinter diesen.

Im letzten Argumentationsschritt, der in den Umkreis der Konstruktion des idealen Staates der Gerechtigkeit gehört, fragt Platons Sokrates nach der Genese der idealen Stadt und verknüpft diese Frage mit der anderen nach der Aufklärung der Weisheit. So wird in diesem Schritt die Utopie einer Herrschaft der Vernunft, verkörpert durch Philosophen-Könige, entwickelt: die Utopie eines Vernunft-Staates.

Die erste Frage lautet: ob die dargelegte Staats-Verfassung »auch möglich sei und auf welche Weise sie möglich sei«? Ist die bislang vorgetragene »Rede«, die Suche nach der »Gerechtigkeit an sich« und nach dem »vollkommen gerechten Mann« (V/17) – und der »vollkommen gerechten« Frau – nur ein »frommer Wunsch« (V/2) oder ein »Mögliches« (V/6)? Die bisherige Untersuchung habe einem »Musterbild«, einem idealen Staat als einem »Urbild«, gegolten – nun geht es darum, nach einem existierenden Staat als Möglichkeit zu suchen, der dem »Urbild« »so nahe als möglich kommt«, indem er »am meisten von allen an ihr (der Gerechtigkeit; G.S.) Anteil hat«. Kann also die Gedankenkonstruktion »ausgeführt« – verwirklicht – werden (V/ 17)? Sokrates formuliert diese Frage als Problem der Veränderung der vorhandenen – ungerechten – Staaten:

»Zunächst also, wie es scheint, müssen wir versuchen zu finden und aufzuzeigen, was etwa jetzt in unseren Staaten schlecht behandelt wird, weswegen sie nicht verwaltet werden, und wie ein Staat zu dieser Art der Verfassung gelangen könne und mit der mindest möglichen Veränderung, wenn es sein kann, nur mit einem Stück, wenn nicht, in zweien, wenn nicht, doch in so wenigen und so geringfügigen als möglich.« (V/18)

Sokrates postuliert, daß die existierenden Staaten durch eine »einzige Veränderung« in den idealen Staat umgewandelt werden können – diese Veränderung sei eine »mögliche«:

»Wenn nicht, sprach ich, entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, die vielerlei Naturen aber, die jetzt zu jedem von beiden einzeln hinzunahen, durch eine Notwendigkeit ausgeschlossen werden, eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten, lieber Glaukon, und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht, . . .« (V/18; vgl. VI/1)

Die Verwirklichung des konstruierten Idealstaates wäre der Philosophen-Staat – aber dieser wäre nur eine Annäherung an jenen Idealstaat (V/17). Denn die Philosophie, so hatte es schon Sokrates erklärt, ist Kritik der Sophistik und insofern eine bloß »menschliche Weisheit«, die sich nicht im Stand der sophia befindet: weise sei allein der Gott (Platon: Apologie, Kap.5, 6, 9). Ein Philosophen-Staat muß jedoch gefordert werden, weil die Tugend der Besonnenheit die Herrschaft von Vernunft und Tapferkeit über die Begierden im »üppigen Staat« verlangt. Während die Wehrmänner des Wächterstaates die herrschende Vernunft nur mythologisch-unreflektiert erlangen, erlangen die Philosophen diese Vernunft in reflektierter Form. Im Wächterstaat ist die Vernunft vorausgesetzt und daher erst Verstand, im Philosophenstaat wird sie gesetzt. Insofern vollendet sich der ideale Staat der Herrschaft der Vernunft im Stadium des Wächterstaates im folgenden Stadium des Philosophen-Staates. Weil der Philosophen-Staat kein Ideal jenseits des Wächterstaates, sondern dessen Konsequenz ist, sind die Philosophen auch Wächter: »Unser Staatswächter aber ist ein Krieger und ein Philosoph« (VII/8) – er ist ein »Krieger«, der sich zum Philosophen gebildet hat.

Um seine Forderung nach einem Philosophen-Staat, die gegen »aller Menschen Meinung« verstößt, zu erklären, kündigt Platons Sokrates in der Politeia an, darzulegen, »wofür die Philosophen haltend wir zu behaupten wagen, sie müßten regieren«. Wie in Rücksicht auf den Wächter-Staat die Wächter untersucht wurden, sind nun in Rücksicht auf den Philosophen-Staat die Philosophen – die Philosophie als Liebe (philia) zur Weisheit (sophia) – zu untersuchen (V/18). Sokrates bestimmt analog erst Philosophie und Philosophen (V/18–22; VI/1) im allgemeinen, fragt dann nach der »Natur« der Philosophen (VI/1–14), weiter nach deren »Erziehung« (VI/15–VII/18), endlich nach deren Auswahl und Einsetzung (VI/15–VII/18), schließlich nach der Zeugung der Philosophen-Könige, endlich nach der Verwirklichung des Vernunft-Staates durch die Philosophen (VI/13).

Sokrates übersetzt den Begriff der Philosophie. Die Liebe (philia) im allgemeinen heiße, dem Geliebten »ganz zugetan« zu sein und nicht bloß »einiges davon zu lieben« (V/18). Wer ein »Philosoph« ist, wer die »Weisheit« (sophia) liebt, trachtet mithin »nach aller« Weisheit und nicht »nach einiger«: der Philosoph pflegt »alle Kenntnisse zu kosten« und ist »unersättlich« beim »Lernen« (V/19). Nach dieser Bestimmung gilt die »Erkenntnis« der Philosophen dem Allgemeinen als einem Identischen, nicht bloß der Erscheinung des Allgemeinen an distinkten Einzelnen, einzelnen Erscheinungen. Der Sokrates des Platon drückt dies so aus: Die »Hörbegierigen und Schaulustigen« »lieben doch die schönen Töne und Farben und Gestalten«, die Philosophen aber lieben das »Schöne selbst« und betrachten es »an sich«. Während die »Hörbegierigen und Schaulustigen« sich bei den verschiedenen Erscheinungen des Schönen bescheiden und dies für die »Schönheit selbst« wähnen, unterscheiden die Philosophen die »Schönheit selbst« von ihren Erscheinungen als »Teilhabenden« an der Schönheit. Die »Hörbegierigen und Schaulustigen« setzen das »Schöne selbst« voraus, projizieren es auf Dinge und verfehlen so: die Erkenntnis des »Schönen selbst«; die Erkenntnis der Differenz zwischen dem »Schönen selbst« und seinen Erscheinungen; die Erkenntnis der Einheit des Getrennten: der Erscheinungen. Während die »Hörbegierigen und Schaulustigen« nur über eine »Vorstellung« und »Meinung« verfügen, sind die Philosophen in der »Erkenntnis«, im »Wissen« der »Wahrheit«. »Wahrheit« und »Meinung« sind aber keine Gegensätze wie »Erkenntnis« und »Unkenntnis«, »Seiendes« und »Nichtseiendes«. Weil die »Meinung« der Erscheinung der »Sache selbst« gilt, steht sie zwischen Erkenntnis und Unkenntnis: die Meinung enthält die Wahrheit in der Form der Vorstellung – ihr kommt ein Wahrheitsgehalt zu (V/20, 21). Darum ist die »Meinung« nicht ebenso zu verwerfen wie die »Unkenntnis«, sondern zu kritisi eren, um die »Sache selbst« vom »Teilhabenden« zu unterscheiden.

Philosophie ist: Kritik von Meinungen, nicht Meinung gegen Meinung – sonst reduzierte sie die Wahrheit auf eine bloße Meinung, das Allgemeine auf ein Partikulares, die Einheit auf ein Distinktes. Insofern ist die Philosophie nicht unmittelbar im Stand der sophia, sondern vermag sich ihr nur durch Kritik anzunähern: das unterscheidet den philósophos vom sophós, dem Gott. Die Philosophie ist mithin den Meinungen nicht entgegen- und vorausgesetzt, sondern geht von den Meinungen, von der Erscheinungswelt aus, um kritisch aufklärend dahinter zurückzugehen und so allererst Sein und Schein zu unterscheiden (krinein). Allein durch Kritik von Meinungen erlangt die Philosophie Einsicht in das Sein, in die Wahrheit: die Weisheit ist kein Positives jenseits der Kritik, sondern durch ihre Genese als Kritik bestimmt. Der Philosophen-Staat kann darum nur als eine Annäherung an den idealen Vernunft-Staat verstanden werden, nicht als ein solcher selbst – sonst wäre er der Staat der weisen Götter.

Wenn nun die »Weisheitliebenden« »das Schöne selbst« – die »Sache selbst« – erkennen, so gilt ihre Erkenntnis einem Identischen, Singulären und Unveränderlichen: es gibt nicht viele »Schönheit«. Die »Meinungsliebenden« hingegen haben eine »Vorstellung« von Vielem, von Getrenntem und Veränderlichem: denn ihre Aufmerksamkeit gilt den Erscheinungen der »Sache selbst«, und diese stehen zwischen dem »Sein« und dem »Nichtsein« (V/22). Die Sache selbst – das Identische, das Immergleiche und »Göttliche« – wird von der »Seele« erkannt, die insofern selbst ein Göttliches und Immergleiches ist (VI/13); so inhäriert der Seele immer schon das »Vermögen«, das Seiende zu erkennen, so ist die Erkenntnis des Seienden wesentlich Erinnerung (Anamnesis). Das Erscheinende, Sinnlich-Viele und Veränderliche hingegen wird durch den sterblichen Körper erfahren (VII/4). Die Philosophie steht auf der Seite des Unsterblichen, Göttlichen, die Meinung aber kommt den Sterblichen zu. Die Philosophie ist eine Erkenntnis mittels der Seele und gilt dem »Unsichtbaren«, die Meinung ist eine Vorstellung mittels des Leibes und gilt dem »Sichtbaren« (vgl. VII/10, 11; Phaidon, Kap. 10, 11, 28).

Diese Bestimmung der Philosophie führt Platons Sokrates am Ende des sechsten und im siebten Buch der Politeia aus (VI/18–21; VII/1–3), vor allem in den drei berühmten Gleichnissen: dem Sonnengleichnis (VI/19), dem Linien-Gleichnis (VI/20) und dem Höhlen-Gleichnis (VII/1–3). Sokrates unterscheidet dort drei Ebenen der Erfahrung und »Einsicht«: die Erfahrung des sinnlichen Vielen; die Erkenntnis des übersinnlichen Einen der »Sachen selbst«, der Einheit des Vielen: der Ideen; die Anschauung des »Guten«, das die eine Idee der distinkten Ideen ist – die Identität selbst. So hebt Platon das Identische des Parmenides und die Lehre des Heraklit von der Einheit der Gegensätze, der Identität des Distinkten, in seiner Philosophie auf. Über das Verhältnis der Erfahrung des sinnlichen Vielen und der »Sachen selbst« bemerkt Platons Sokrates (VI/18): Wir »nehmen . . . doch an«, daß »vieles Schöne« und »vieles Gute« ist, aber auch »das Schöne selbst und das Gute selbst«. Diese Sache selbst nennt er: »eine Idee eines jeden« im Unterschied zum Vielen.

»Und von jenem Vielen sagen wir, daß es gesehen werde, aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, daß sie gedacht werden, aber nicht gesehen.« (Politeia VI/18)

Das Viele ist sinnlich erfahrbar, die Ideen jedoch nicht – sie sind nur denkbar, nur durch die »Seele« erkennbar (VI/18, 19). Die Sinne erfahren das Entstehende und Vergehende, die Seele weiß vom Immergleichen; das Veränderliche erfährt Veränderliches, das Unveränderliche und Göttliche erkennt Unveränderliches und Göttliches (vgl. VII/4).

Das Verhältnis der Ideen zur »Idee des Guten« beschreibt Sokrates vor allem im Sonnen-Gleichnis: Wie das »Gesicht und das Sichtbare« eines »dritten Wesens« – des Gottes Helios, der Sonne –bedürfe, damit das eine sehen und das andere gesehen werden kann, so erkennt die Seele nur das, »woran Wahrheit und das Seiende glänzt« – sie zeigt dann, »daß sie Vernunft hat« (VI/18, 19). Wie die Augen in der Dunkelheit »blind« sind, so »verdunkelt« sich das »Gesicht« der Seele beim »Entstehenden und Vergehenden«, und sie »meint« nur – sie erscheint dann, »als ob sie keine Vernunft hätte« (VI/19). Was nun dem »Gesicht« und dem »Sichtbaren« die Sonne ist, das ist der Seele die »Idee des Guten«: sie verleiht »dem Erkennbaren die Wahrheit . . . und dem Erkennenden das Vermögen« der »Erkenntnis« – sie ist die »Ursache« beider. Die »Idee des Guten« erst läßt die »Sachen selbst«, die »Idee eines jeden« im Unterschied zum sinnlich erfahrbaren Vielen, erkennen: sie ist die Idee der Ideen, das Eine der vielen Einen – die Identität als Einheit des Gegensätzlichen. Denn das »Gute selbst« ist das Telos eines jeglichen, was es an sich ist und was es deshalb sein soll – das Gute ist, als ein Sollen, die Verwirklichung des Wesens eines jeglichen. Durch die »Idee des Guten« überschreitet das Denken das Erkennbare auf das hin, was es in Wahrheit, was es an sich ist. Erkenntnis erkennt die Dinge, indem sie diese transzendiert.

Platons Sokrates führt diese drei Ebenen des sinnlichen Vielen, der distinkten Ideen und der einen Idee des Guten im Linien-Gleichnis zusammen (VI/20, 21). Er entwirft das Bild einer »Linie«, die geteilt ist in »das Denkbare und das Sichtbare« – gemäß seiner Unterscheidung des sinnlichen Vielen und der zu denkenden Sache selbst, der Ideen. Sokrates differenziert: Das »Sichtbare« ist seinerseits geteilt in den Abschnitt der »Dinge« (»Tiere bei uns und das gesamte Gewächsreich und alle Arten des künstlich Gearbeiteten«) und den »Abschnitt Bilder« (»Schatten«, »Erscheinungen im Wasser«). Das »Denkbare« ist geteilt einerseits in den Abschnitt der »Meßkunst« und der »Rechnungen«, die »von Voraussetzungen« ausgehen und daraus Konsequenzen ableiten; andererseits in den Abschnitt der Erkenntnis, die hinter »Voraussetzungen« zurückgeht auf einen »Anfang«, der »keiner Voraussetzung« bedarf, also voraussetzungslos ist. Die erste Seite des Denkbaren nennt Platon die »Verstandesgewißheit«, die andere die »Vernunfterkenntnis«. Weil die Verstandesgewißheit von Voraussetzungen ausgeht, also von Setzungen, die sie nicht reflektiert, projiziert sie diese bewußtlos auf Dinge und richtet sich deshalb unmittelbar auf die »sichtbaren Gestalten«, die bloß »Bilder« des Vorausgesetzten sind. Die Verstandesgewißheit nimmt diese Bilder für die Sache selbst. Die Vernunfterkenntnis geht nun hinter die Voraussetzungen des Verstandes zurück und klärt so die Voraussetzungen als Voraus-Setzungen auf. Dadurch betritt sie zunächst die Ebene der Aufklärung der Genese des Vorausgesetzten, sodann die Ebene der Erkenntnis der Einheit des Getrennten und endlich die zur Genese des Vorausgesetzten umgekehrte Ebene der Aufklärung der Genese der »Bilder« als Erscheinungen, als bewußtlose Projektionen des Vorausgesetzten. Die Vernunfterkenntnis vermag mithin zwischen Sein und Schein zu unterscheiden: zwischen der Sache selbst als Urbild, als Idee, und deren sinnlicher Erscheinung, die an der Idee nur teilhat. Sie vermag dadurch die Identität des Getrennten zu bestimmen. Insofern klärt die Vernunfterkenntnis eine Täuschung über die Sache und eine Selbsttäuschung der Verständigen auf, die den Schein für das Sein halten. Das nennt Platons Sokrates: die »dialektische Wissenschaft«. Sie is t, als Vernunfterkenntnis, allererst Kritik der Verstandesgewißheit. Aber sie ist, nach Sokrates, nicht nur Kritik als Unterscheidung von Sein und Schein. Der Rückgang hinter die verständigen Voraussetzungen soll zum Voraussetzungslosen gelangen: zum »Nichtvoraussetzungshaften« als dem »Anfang von allem«. Dieser absolute Anfang wäre das positiv, und nicht nur kritisch, bestimmbare Sein: die Idee eines jeglichen, letztlich aber die Idee der Idee – die »Idee des Guten«, die als eine besondere Idee nicht neben allen Ideen steht, sondern allen als deren Identität immanent ist. Darum weigert Sokrates sich, »das Gute selbst« zu bestimmen (VI/18). Weil die Sache selbst, die Idee, das Identisch-Eine, Unveränderliche und insofern Göttliche ist, ist die Idee des Guten die höchste göttliche Idee; schon bei Hesiod, in der Theogonie (Vers 46, 457, 506, 585, 602), gelten die olympischen Götter – unter diesen vor allem Zeus – als die »Geber des Guten«.

Platons Sokrates bestimmt sodann (VI/1–15) die »Natur« der Philosophen, wie er zuvor (II/15–16) die Natur der Wehrmänner betrachtet hatte. Da eine Kontinuität in der Entwicklung des Idealstaates vom Wächter- zum Philosophen-Staat besteht, da »unser Staatswächter . . . ein Krieger und ein Philosoph ist« (VII/8), sind zunächst die auszuwählen, die bei der »ersten Auswahl« als Beste und also Herrscher bezeichnet wurden (vgl. III/19–21). Aus dieser Gruppe erfolgt jetzt eine weitere Auswahl, die dem Aufstieg vom Wächter-Herrscher zum Philosophen-König entspricht (VII/15). Im sechsten Buch/Kapitel 2 der Politeia führt Platons Sokrates aus: Philosophen müssen, als Philosophen, Weisheit und »Wahrheit« lieben; sie müssen die »Kenntnis« des unentstandenen und unvergänglichen Seins lieben; sie müssen sich also »leicht hinführen . . . lassen zu der Idee eines jeglichen, was wirklich ist«; weil sie das lieben, was »nicht durch Entstehen und Vergehen unstet gemacht wird«, wenden sie sich vom Leib ab und der Seele zu; sie erkennen also das unvergängliche Sein durch die unvergängliche Seele (VI/5; vgl. Platon: Phaidon, Kap. 10–12); darum ist ihnen das entstehende und vergehende »menschliche Leben« nichts »Großes«, darum halten sie den Tod für nichts »Arges«; darum sind sie auch nicht habsüchtig nach Geld, feige, unverträglich (VI/2; vgl. VI/5). Zusammengefaßt: Die Philosophen sind die vollendeten Verkörperungen der Kardinaltugenden, denn in ihnen herrscht die Vernunft; sie sind daher tapfer nicht aus Furcht; sie sind daher besonnen nicht deshalb, weil sie glauben, aufgrund der Befriedigung einer Begierde die Befriedigung einer größeren zu versäumen; sie sind gerecht, weil jedes Seelenteil das Seine vollbringt (IV/11–19; vgl. Platon: Phaidon Kap. 13). So sind nicht schon die Wehrmänner, sondern erst die Philosophen Personifikationen einer geordneten Seele und eines geordneten Staates; so ist den Philosophen »allein der Staat [zu] überlassen« (VI/2); als »Staatswächter« aber sind die Philosophen immer schon »Krieger« (VII/8). – Freilich kann diese »Natur« der Philosophen verdorben werden. Bei »schlechter Erziehung«, etwa durch die Sophisten oder durch Schmeicheleien der Mitbürger, gerät eine »ausgezeichnete« Natur auch »ausgezeichnet schlecht« (VI/6, 8, 9). – Die Natur des Philosophen kann mithin nur bewahrt werden, wenn entweder der Philosoph in der »Verbannung« lebt, oder in einem so »kleinen Staat«, daß er dessen Angelegenheit geringschätzt (VI/10), oder eben – in einem »tauglichen Staat«, im »besten Staat«, der bereits philosophisch ist (VI/10, 11). Die Natur des Philosophen kann sich nur entwickeln in einem philosophischen Staat, setzt also voraus, was erst zu verwirklichen wäre; vorausgesetzt ist zumindest ein philosophisches Bedürfnis, dem der Philosoph durch seine »Hebammenkunst« der Aufklärung entspricht (vgl. Platon: Theaitetos, Kap. 6 und 7).

Im nächsten Schritt (Politeia, VI/15–VII/18) beschreibt Platons Sokrates die »Erziehung« der Philosophen als eine sowohl logische wie biographische Entwicklung. Diese »Erziehung« richtet sich nicht nur auf eine wahre Erkenntnis, sondern auf ein wahres, ein gutes Leben – auf eine vernünftige Lebens-Praxis.

»Knaben und Kinder müssen sich auch mit kindischer Bildung und Weisheit zu tun machen . . . ; kommt hingegen die nächste Lebensstufe heran, in welcher die Seele anfängt sich zu vollenden, dann ihre Übungen steigern. Ist aber die Zeit der männlichen Kraft vorüber und sind sie der Staats- und Kriegsdienste entledigt, dann müssen sie ganz ungebunden dort weiden und außer im Vorbeigehen nichts anderes tun, wenn sie glückselig leben und ein so verbrachtes Leben nach dem Tode durch ein angemessenes Los dort krönen wollen.« (Platon: Politeia, VI/11)

Die philosophische Lebenspraxis vollendet sich im Tode, weil der Tod jene Trennung von Seele und Leib ist, auf die die Philosophie zielt (Platon: Phaidon, Kap. 12).

Die Erziehung zum Philosophen kann, wenn die Philosophie durch ihre Genese als ein dialektischer, aufklärender Rückgang hinter die Voraussetzungen der »Verstandesgewißheit« (VI/21) bestimmt ist, nur philosophisch und in Analogie zum Linien-Gleichnis (VI/20, 21) erfolgen: durch Ausgang von der »Verstandesgewißheit« und Rückgang zur »Vernunfterkenntnis« (VI/ 21). Wenn die Vernunfterkenntnis in der Anschauung der immergleichen »Sache selbst« durch die deshalb ebenfalls immergleiche Seele besteht, wenn deshalb die Vernunfterkenntnis allein eine Erinnerung eines immer schon Angeschauten sein kann, dann kann die Erziehung nicht darin bestehen, der Seele die »Erkenntnis« erst einzusetzen, sondern nur darin, die »gesamte Seele« »von dem Werdenden« wegzuführen zur »Anschauung des Seienden und des glänzendsten unter dem Seienden«, der »Idee des Guten« (VII/4). Es gilt, die Seele auf das zu richten, worauf sie an sich immer schon gerichtet ist: sie aus der Welt des Scheins in die Sonnen-Welt des Guten zu führen, so daß Göttliches Göttliches anschaut. Die »Unterweisung« kann nur zum Ziel haben, daß die »Weisheitliebenden« die »Sache selbst« lieben und schließlich das »Gute« anschauen (VII/4).

Im ersten Schritt der Erziehung freilich geht diese von der Erziehung der Wächter zu Wächtern aus, die voraussetzungsvoll und durch »Reden« erfolgte, die wesentlich Mythen erzählten und der »Wahrheit« allenfalls »verwandt« waren. Platons Sokrates betont: »unsere Herrscher müßten notwendig in ihrer Jugend wackere Kriegskämpfer sein.« (VII/6) Und nicht nur in der Jugend: »Unser Staatswächter ist ein Krieger und ein Philosoph.« (VII/8)

Im zweiten Schritt geht die Erziehung von der erlangten »Verstandesgewißheit« aus: von der »Meßkunst und den Rechnungen« (VI/20, 21). Die Rechenkunst, die Kunst des Zählens, nennt Sokrates »jenes Gemeinsame, dessen alle Künste und Verständnisse und Wissenschaften . . . bedürfen« (VII/6). So enthält dieser zweite Schritt eine Reihe von Stufen der Erfahrung und Erkenntnis. In Rücksicht auf das Alter der zu Bildenden bestimmt Sokrates: Die kommenden Philosophen-Könige sind als »Knaben«, etwa bis zum 17. oder 18. Lebensjahr, in Arithmetik und Geometrie zu unterrichten – nicht auf »knechtische Art«, nicht durch »Zwang«, sondern »spielend«, frei (VII/16). – Sokrates handelt zunächst (VII/7) von der »Wahrnehmung«. Denn unmittelbar gilt die Rechenkunst, wie die Philosophie des Pythagoras belegt, den »sichtbaren Gestalten«, von denen der voraussetzungsvolle Verstand ausgehen muß, weil er seine Voraussetzungen bewußtlos auf Dinge projiziert, so daß ihm diese Erscheinungen als die Sache selbst und als Anfang der Erkenntnis gelten (VI/20, 21). Von diesen bloß verständigen Wahrnehmungen der Erscheinungswelt führen jene zur Vernunfteinsicht, die der »Seele zweifelhaft« und »gar wunderlich« erscheinen, weil sie eine Sache als gegensätzlich erfahren: Leichtes ist auch schwer, Schweres kann gleichwohl leicht sein (VII/7). Die Gegensätzlichkeit der Wahrnehmung ruft eine Verwunderung der Seele hervor und dadurch »Überlegung und Vernunft«, um das wahrgenommene »Vermischte« »getrennt, also auf entgegengesetzte Weise« zu sehen. Während das »Gesicht« ein »Vermischtes« erfährt, begreift die Vernunft Entgegengesetztes. Die Wahrnehmung wird problematisch, die Vernunft klärt das Fragliche, die Frage auf – die Philosophie ist darum eine »Hebammenkunst« (Platon: Theaitetos, 7). – Die erste Stufe über die reine Wahrnehmung hinaus ist die »Rechenkunst« (VII/8).

Diese Kunst, hebt Sokrates hervor, wird wohl von den »Handelsleuten und Krämern« des »Kaufs und Verkaufs wegen« geübt. Sie ist aber dem »Staatswächter« »notwendig«, insofern er als »Krieger« auch mit »Aufstellungen« des Heeres beschäftigt ist. Diese Kunst ist aber vor allem philosophisch von hoher Bedeutung, denn sie gilt der Zahl, grundlegend der »Eins«: der »Einheit« (monas), wie Sokrates mit den Pythagoreern lehrt. Weil das sinnlich wahrnehmbare Ding als ein Eines, als sinnliche Einheit, stets auch ein Vieles, ein Teilbares ist, enthält es den Gegensatz (dyas), das »Widerspiel«.So stellt sich der »Seele« die Frage: »was doch die Einheit selbst ist«, die »Eins« – »die Zahl«. Diese Frage führt, weil sie nicht sinnlich zu klären ist, zur »Wahrheit«. – Die »Rechenkunst«, die Kunst des Zählens, wird auf einer zweiten Stufe an der »Geometrie«, der »Meßkunst« behandelt (VII/9). Die »Geometrie« expliziert Sokrates als »Lehre von den Ebenen«, von den »Flächen«, weil sie die Verhältnisse (Logos) darstellt. Die Geometrie sei für das »Kriegswesen« nützlich, »um Lager abzustecken, feste Plätze einzunehmen, das Heer zusammenzuziehen oder auszudehnen«; die Geometrie führe aber zur »Idee des Guten«, des »Seligsten von allem Seienden«, weil sie immergleiche Figuren konstruiert, die über das Sinnliche hinausreichen auf Proportionen (Logos). – Auf der dritten Stufe führt Sokrates (VII/10) die Kunde von Körpern an, die zahlenmäßig darstellbare Verhältnisse im Raum behandle. – Auf der vierten Stufe beschreibt Sokrates die »Astronomie« (VII/10, 11). Diese Wissenschaft gilt den »Bewegungen des Körperlichen«, dem Veränderlichen, erfaßt aber Verhältnisse (Logos), die »immer auf gleiche Weise [erfolgen]«: »das Verhältnis der Nacht zum Tage und dieser zum Monat und des Monats zum Jahr und der andern Gestirne zu diesen und unter sich«. So führt die Astronomie vom »Sichtbaren« zum »Unsichtbaren«, vom »Werden zum Sein« (VII/8), von der »Wahrnehmung« zur »Vernunft«, von den Erscheinungen zum Wesen, zum Logos. – Auf der fünften Stufe würdigt Sokrates die »Wissenschaft« der »Harmonie« (VII/12). Sie ist für das »Ohr«, was die Astronomie für die »Augen« ist: eine Lehre vom Logos der »Akkorde und Töne«, eine Lehre »harmonischer Zahlen«, die von den Pythagoreern entdeckt wurde.

Nach dieser Ausbildung in der Rechenkunst und der Geometrie, in der Lehre von den Körpern, in der Astronomie und der Harmonie, sollen die zu Bildenden drei Jahre lang – zwischen dem 17. und dem 20. Lebensjahr – den »Leibesübungen« ohne geistige Ausbildung unterzogen werden (VII/16). Nachdem nun die »Knaben« sowohl seelisch-wissenschaftlich als auch körperlich erzogen wurden, sollen sie zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr zur Einsicht in die »geistige Verwandtschaft der Wissenschaften und der Natur des Seienden« geführt werden (VII/16). Einerseits ist auf der Grundlage des voraussetzungsvollen, dogmatischen Verstandes, der von Bildern ausgehen muß, nur ein Wissen von »zerstreuten« Dingen möglich. Andererseits implizieren diese Wissenschaften aber, aufgrund widerspruchsvoller Wahrnehmungen, den Fortgang zur Einsicht in den Logos: in immergleiche Verhältnisse, die nur denkend zu erfassen sind und deshalb den Übergang zur seelischen Erkenntnis des Übersinnlichen bilden.

Insgesamt konstruiert Sokrates die geistige Erziehung als einen Fortgang, der wesentlich ein Rückgang ist: der von der sinnlichen Wahrnehmung durch die Erfahrung gegensätzlicher Erscheinungen zur Untersuchung des übersinnlichen Logos, von der leiblichen Erfahrung zur Vernunfteinsicht der Seele führt. Dies ist ein Rückgang hinter die Verstandesgewißheit, die von unreflektierten Voraussetzungen und darum von der sinnlichen Gewißheit, von »Bildern« ausgehen muß (VI/20). – Ein solcher Rückgang ist nun, Sokrates zufolge (VII/13 und 14), die Bestimmung der »Dialektik«: sie geht von Voraussetzungen aus, leitet aus diesen aber keine Konsequenzen ab, sondern fragt dahinter zurück, um die Voraus-Setzungen als bewußtlose Setzungen aufzuklären. Sokrates bemerkt:

»Also dieses, o Glaukon, ist nun wohl die Melodie oder der Satz selbst, was die Dialektik ausführt? Von dem auch, wie er nur mit dem Gedanken gefaßt wird, jenes Vermögen des Gesichts ein Abbild ist, von welchem wir sagten, daß es bestrebt sei, auf die Tiere selbst zu schauen und auf die Gestirne selbst, ja zuletzt auch auf die Sonne selbst. So auch wenn einer unternimmt, durch Dialektik ohne alle Wahrnehmung nur mittels des Wortes und Gedankens zu dem selbst vorzudringen, was jedes ist, und nicht eher abläßt, bis er, was das Gute selbst ist, mit der Erkenntnis gefaßt hat, dann ist er an dem Ziel alles Erkennbaren, wie jener dort am Ziel alles Sichtbaren.« (Platon: Politeia, VII/13)

»Nun aber, sprach ich (Sokrates; G.S.), geht allein die dialektische Methode, auf diese Art alle Voraussetzungen aufhebend, gerade zum Anfange selbst, damit dieser fest werde, und das in Wahrheit in barbarischem Schlamm vergrabene Auge der Seele zieht sie gelinde hervor und führt es aufwärts, wobei sie als Mitdienerinnen und Mitleiterinnen die angeführten Künste gebraucht, welche wir zwar mehrmals Wissenschaften genannt haben, der Gewohnheit gemäß, die aber eines andern Namens bedürfen, der mehr besagt als Meinung, aber dunkler ist als Wissenschaft – wir haben sie aber schon früher irgendwo Verständnis genannt; . . .« (ebd. VII/14)

Dialektik ist ein aufklärender Rückgang hinter die unreflektierten, bewußtlosen Voraussetzungen des Verstandes. Der Rückgang nimmt seinen Ausgang von einander widersprechenden (Krisis), dem Verstand nur als »Vermischtes« (VII/7) erscheinenden Wahrnehmungen, und klärt das Widersprechende auf, indem dieses unterschieden (Kritik) wird. So ist die Aufklärung des Widerspruchs ein Widerspruch gegen den voraussetzungsvollen Verstand. Diese Bildung zur Dialektik soll, nach Sokrates (VII/16–18), im Alter von 30 bis 35 Jahren erfolgen.

Sokrates postuliert indes, daß die Dialektik über die Widersprüche hinaus zum Widerspruchsfreien, zum voraussetzungslosen Anfang führt: zu den Ideen, zuletzt zur Idee der Ideen – der göttlichen Idee des Guten, die das »Seligste von allem Seienden« ist (VII/9). Er warnt (VII/16, 17): Verbleibt die Dialektik innerhalb der Aufklärung des Widersprechenden und des Widerspruchs gegen das Widersprechende, so wird sie ein »Übel«, weil sie sich in der »Freude« am Widerlegen und Widerlegtwerden erschöpft und es nicht zur »Wahrheit« bringt.

Platons Sokrates erläutert die Erziehung zum Philosophen aber auch in Analogie zum Sonnengleichnis: durch das berühmte Höhlen-Gleichnis (VII/1–3): Wie vermögen die Philosophen aus der Welt des Scheins zum Licht der Sonne aufzusteigen: zum »Seienden«, zur »Wahrheit«; wie gelangen sie von der sinnlichen Welt des bloß »Werdenden« zum immergleichen und übersinnlichen »Seienden«, zur Welt der Ideen, zur »Idee des Guten«? (VII/6) Sokrates (VII/1) entwirft das Bild einer Höhle, in der Menschen »von Kindheit an gefesselt« sind, so daß sie ihren Blick einzig nach vorn auf die vor ihnen liegende Höhlenwand richten können. Hinter ihnen liegt eine Mauer und dahinter gehen auf einem Weg Menschen, die Gerätschaften tragen; nur diese Geräte überragen die Mauer. Hinter dem Weg wiederum brennen Feuer, so daß die Schatten von Mauer und Geräten auf die den Gefesselten sichtbare Höhlenwand fallen. Die Gefesselten müssen, weil sie nichts anderes sehen, den Schein des Schattens für das Sein der Dinge selbst halten. Würden ihre Fesseln gelöst und würden sich die vordem Gefesselten zum Licht des Feuers umwenden, so daß sie das Sein der Dinge sähen, hielten sie deren Sein für einen Schein. »Unsere Natur«, so lehrt das Gleichnis, ist auf den Schein fixiert und darum auf »Unbildung«; »Bildung« bestünde demgegenüber in der Unterscheidung von Sein und Schein, die – wie im Sonnengleichnis – durch das Licht gegeben wäre. Sokrates setzt nun das Gleichnis fort (VII/2): Würden die Gefesselten aus der Höhle heraus an das Sonnenlicht geführt, würden sie erst nichts, dann die »Schatten«, dann »die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser«, dann die Menschen und Dinge »selbst«, endlich den Himmel, schließlich die »Sonne selbst« sehen – also Helios. Die so Befreiten würden kein Bedürfnis verspüren, in die Höhle – in die Welt des Scheins –zurückzukehren. Würden sie aber zurückkehren, würden sie von den weiterhin Gefesselten verlacht.

Diese würden jeden, der sie entfesseln und ans Sonnenlicht bringen wollte, »umbringen« – wenn sie es nur könnten. – Sokrates erläutert dem Glaukon sein Gleichnis (VII/3): Das Feuer in der Höhle steht für die Sonne, die das Sichtbare dem Gesicht sichtbar macht, die Sonne außerhalb der Höhle für die »Idee des Guten«, die »die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, . . . , im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend«. Wer »vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten«, muß die »Idee des Guten« schauen. Diese Anschauung der »Idee des Guten« nennt Sokrates eine »göttliche Anschauung«, die Höhlen-Welt des Scheins aber das »menschliche Elend«. So befinden sich die Philosophen jenseits der bloß menschlichen Welt, so vermögen sie, »gut« zu leben: dem »Guten« gemäß. Ihre aufklärende Weisheit indes trifft auf die gewaltsame Abwehr der an Körper und Geist Gefesselten.

Das Höhlen-Gleichnis (VII/1–3) bietet aber nicht bloß ein Bild, das die Erziehung des Philosophen als Aufstieg von der sinnlichen Welt, die allein sinnlich zu erfahren ist, zur übersinnlichen Ideen-Welt, die allein durch die Seele zu denken ist, darstellt. Das Gleichnis bietet auch ein Bild der Einsetzung des Philosophen als Philosophen-König. Diese Einsetzung erscheint als Umkehrung des Aufstiegs, eben als Abstieg, so daß der Philosoph seine gebildete Seele dem Staat einbildet. Die dem Gleichnis entsprechende Frage lautet: Wie können Philosophen, die die »Idee des Guten« anschauen und darum »vernünftig handeln«, eben ein gutes Leben führen (VII/3), bewogen werden, nach dem Aufstieg aus der Höhle wieder hinab zu steigen in die menschliche Welt des Scheins, um in dieser Welt als Philosophen-König zu herrschen? Der Philosoph, der diesen Weg ins Dunkel und zu den Schattenbildern gehen soll, bemerkt Sokrates (VII/3), wird »sich übel gebärden und gar lächerlich erscheinen«. Sokrates lehrt aber: Wenn nach dem »Gesetz« eines Staates Männer zu Philosophen gebildet werden, erfolgt das nicht, »um sie hernach gehen zu lassen, wohin jeder will, sondern um sich selbst ihrer für den Verein des Staates zu bedienen«. So werde von »Gerechten« nur »Gerechtes« verlangt, so werden sich die Gerechten nicht der Gerechtigkeit verweigern und die »Staatshut« (V/6) übernehmen.

Diesen Abstieg in die Höhle haben, nach Sokrates’ abschließenden Bemerkungen seiner Darstellung des Philosophen-Staates (VII/18), die zuvor in den verständigen Wissenschaften, in den »Leibesübungen« und in der Dialektik Gebildeten, im Alter von 35 bis 50 Jahren zu vollziehen. Sie sollen in dieser Zeit »Ämter . . . im Kriegswesen und wo es sich sonst für die Jugend schickt«, übernehmen, »damit sie auch an Erfahrung nicht hinter den andern (den Höhlen-Bewohnern; G.S. ) zurückbleiben«. Nach diesen fünfzehn Jahren verbringen die angehenden Philosophen-Könige ihr Leben zwischen der Philosophie und der »Regierung«, so daß sie zwischen dem Licht des Guten und den Schatten der Höhlenwelt, zwischen dem »Urbild« und dem Abbild, wandeln:

»Haben sie aber fünfzehn (Jahre; G.S.) erreicht, dann muß man, die sich gut gehalten und überall vorzüglich gezeigt hatten in Geschäften und Wissenschaften, endlich zum Ziel führen und sie nötigen, das Auge der Seele aufwärts richtend in das allen Licht Bringende hineinzuschauen, und wenn sie das Gute selbst gesehen haben, dieses als Urbild gebrauchend, den Staat, ihre Mitbürger und sich selbst ihr übriges Leben hindurch in Ordnung zu halten, jeder in seiner Reihe, so daß sie die meiste Zeit der Philosophie widmen, jeder aber, wenn die Reihe ihn trifft, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten abmühe und dem Staat zuliebe die Regierung übernehme, nicht als verrichteten sie dadurch etwas Schönes, sondern etwas Notwendiges.« (Platon: Politeia, VII/18)

Die Erziehung ist mithin seelisch und körperlich, aber die übersinnliche Idee des Guten ist das Apriori des vernünftigen Staates.

Platons Sokrates erläutert (VI/15–VII/18) die Auswahl und Einsetzung der Philosophen-Könige umfassender (VI/15–VII/18) und bestimmt dadurch, aufgrund welcher Eigenschaften die Philosophen zur Regierung vorzüglich geeignet sind (vgl. V/18). Sokrates betont: Die Philosophen müssen »Führer des Staates« sein, weil sie »scharf sehende Hüter« – nicht »Blinde« – sind, weil sie über die »Erkenntnis von jedem, was ist«, verfügen, außerdem über »Erfahrung und Übung« (VI/1). In Rücksicht auf die Erkenntnis verlangt er von den einzusetzenden »Obrigkeiten« (VI/15, 16), sie müßten Philosophieren, dürften also vor den »schwersten Forschungen« nicht die »Flucht ergreifen«: vor der Erforschung der »Idee des Guten«, die die »größte Einsicht« ist und noch über »Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit« sowie deren Ordnung durch die Gerechtigkeit steht. Die »Hüter« müssen über die Einsicht in »das Gute« verfügen (VI/17). Erst dann sind die Philosophen-Könige wahrhaft Philosophen: Personifikationen der Kardinaltugenden: der Gerechtigkeit, der Herrschaft der Vernunft, der Besonnenheit, der Tapferkeit. Weil die Philosophen selbst ein gutes, »vernunftmäßiges Leben« führen, weil in ihnen die Vernunft über die Begierden herrscht, drängen sie nicht aus privatem Interesse an die Regierung, sondern weil die Gerechtigkeit dies von ihnen als Gerechten und Besonnenen fordert – die Philosophen kennen »eine andere Lebensweise als die staatsmännische« (VII/5). Darum suchen sie nicht ihr privates Interesse allein, sondern allererst »im ganzen Staate Wohlsein« hervorzubringen – eben das allgemeine Wohl, das allgemeine Beste (VII/6). Die Philosophen sind die Personifikationen der Gerechtigkeit: der Einheit der Polis unter der Herrschaft des Guten und der Vernunft.

Indes weiß Sokrates, daß der Vorschlag eines Philosophen-Königtums »gegen aller Menschen Meinung« steht (V/18; vgl. VI/12); im Höhlen-Gleichnis ist dies drastisch ausgedrückt. Denn die meisten glauben, die Philosophen seien »für den Staat unbrauchbar« (VI/3, 9). Die Ursache dieser Annahme liegt in einer bestimmten Auffassung über die Erlangung der Herrschaft. Danach muß ein Herrschender, will er an die Herrschaft gelangen, »die Kunst und Geschicklichkeit, die dazu gehört, ans Ruder zu kommen«, beherrschen: er muß in der Kunst der Durchsetzung von Interessen geübt sein (VI/4). Das ist die Fertigkeit der Sophisten: Sie haben das gelernt, was der »Menge Lust und Unlust« bereitet und wissen daher, diese Menge zu lenken – sie schwimmen im Geist der allgemeinen Meinung, sie sind nicht in der Wahrheit, in der Vernunft (VI/7, 8). Weil die Philosophen aber die Weisheit lieben und nicht den Interessen-Kampf, weil sie deshalb nicht zur Herrschaft drängen, gelten sie der Menge als »unnütz« (VI/4, 12). Dagegen lehrt Sokrates: Wer »zu herrschen versteht«, hat nicht die zu »Beherrschenden« zu »bitten, sich beherrschen zu lassen«, sondern umgekehrt: »jeder, der beherrscht zu werden nötig hat«, hat zu dem zu gehen, »der zu herrschen versteht« (VI/4), und dieser nimmt sich dann des »folgsamen Staates« an (VI/12, 14). Das wäre die angemessene Form der Einsetzung von Philosophen-Königen. Diese Form entspricht der Philosophie als »Hebammenkunst«: Die kritische Aufklärung, die die Differenz von Sein und Schein und insofern Selbsttäuschungen zu Bewußtsein bringt, setzt ein Bedürfnis nach Aufklärung, ein Leiden und eine Verwunderung voraus, die nach Aufklärung verlangt. Ohne dieses Bedürfnis würden die zu Beherrschenden die Herrschaft der Philosophen abwehren (Platon: Theaitetos, Kap. 6 und 7).

Wie nun unter den Wehrmännern die »Hüter« der Polis als »Beste« nicht nur ausgewählt, sondern durch Zeugung auch produziert und reproduziert werden, so gilt – nach Platons Sokrates – für die Philosophen-Könige: Sie sind nicht nur philosophischer Natur, sie sind nicht nur philosophisch erzogen, sie werden nicht nur nach einem philosophischen Bedürfnis ausgewählt – sie sind vor allem »Söhne von Königen und Gewalthabern«, die »mit philosophischer Natur« geboren wurden und unverdorben sind (VI/14). Die mythologische Gemeinschaft ist allererst eine Abstammungs-Gemeinschaft. Die Verwirklichung der Vernunft-Utopie des idealen Staates skizziert Platons Sokrates einmal als genetische Stufenfolge des Philosophen und des philosophischen Staates (VI/13). Zuerst richten die Philosophen ihre »Gedanken auf das Seiende«: auf das »Wohlgeordnete«, auf das »sich immer gleich Bleibende«, auf das »Göttliche und Geregelte«, auf die Idee (eidos) eines jeglichen. Sodann werden sie dieses »nachahmen« (mimesis), so daß sie selbst »geregelt und göttlich« werden – »soweit es nur den Menschen möglich ist.« Danach werden sie »den Staat und die Gemüter der Menschen zur Hand nehmen« und sie reinigen (katharsis). Endlich werden sie den »Grundriß der Staatsverfassung« als ein »Urbild« (eidos) »vorzeichnen«. Schließlich werden sie das Göttliche »in der Menschen Sitten einbilden, im Einzelnen sowohl als im öffentlichen Leben«, so daß die »menschlichen Sitten . . . gottgefällig« werden. So wird die gedankliche Staatskonstruktion »in wirkliche Erfüllung gehen«. Der vernünftige, philosophische Staat wird nach dem »göttlichen Urbild« des immergleichen Seienden durch katharsis und mimesis mittels der Philosophen gebildet und dadurch zum Abbild, das am Urbild teilhat (methexis) (vgl. V/17). So wird die Möglichkeit des idealen Staates zu einer Wirklichkeit, die dem Urbild nicht gleicht, sondern als deren Erscheinung dem Urbild nur »so nahe als möglich« kommt (V/17).

Platons Utopie des gerechten Staates ist die erste große, ausformulierte Utopie der europäischen Philosophie. Sie gilt der Kritik der existierenden Staaten als Staaten der Ungerechtigkeit, der Knechtschaft und des Krieges. Diese kritische Erkenntnis der Gegenwart erfolgt aus der Perspektive der Utopie eines Staates der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens. So begründet Platon, Sokrates folgend, die Sozialphilosophie als Kritik der politischen Gesellschaft in praktischer, utopisch gerichteter Absicht. Die Utopie ist kein »frommer Wunsch« (V/2), sondern vernunft-gegründet: das Land Nirgendwo wäre die verwirklichte Vernunft.

Platons Utopie des Philosophen-Staates ist kritisch und dogmatisch ineins. Die Utopie ist Kritik: Sie kommt erst in Gang durch den Fortgang von der Subsistenz-Ökonomie zum »üppigen Staat«, zum Staat des »Mehrhabenwollens«, aus dem die inneren und äußeren Zwistigkeiten und Kriege erwachsen. So ist die Utopie einer Herrschaft der Vernunft eine Kritik der »Plusmacherei« (Marx), eine Kritik des im Handel und im Geldverleih zum Selbstzweck entwickelten Geldes. Der Philosophen-Staat ist, in dieser Rücksicht, ein Staat der Entzweiung, der Herrschaft, der Unterdrückung der überschießenden Bedürfnis-Ansprüche: ein Staat der institutionalisierten Kritik. Die Utopie ist dogmatisch: die »Idee des Guten«, lehrt Platon, ist das »Nichtvoraussetzungshafte«, auf das die Kritik zielt – und diese Utopie liegt jenseits des menschlichen Lebens wie die göttliche sophia des Sokrates. Die Utopie ist ein Land, das von Menschen nicht bewohnt wird, das den leiblichen Menschen verschlossen ist – die Utopie ist ein Land Nirgendwo im genauen Sinn. Die Kritik bedarf der Utopie, aber diese ist den Menschen versperrt. Die Menschen können sich der Utopie nur nähern: durch die von den Weisen (Philosophen) und Tapferen (Wehrmänner) geleistete masochistische Selbstunterdrückung der Bedürfnisse, durch Unterdrückung der von ihren Bedürfnissen Bestimmten. Herrschaft soll die Vernunft inthronisieren. So ist Platons Utopie, als Dogma, eine Reproduktion des Bestehenden. Der Philosophen-Staat gelangt nicht über Herrschaft hinaus – er kehrt die Herrschaft der Bedürfnisse über die Seele nur um, er rationalisiert die Herrschaft. Im Höhlen-Gleichnis entfesseln sich die Gefangenen nicht selbst: sie sollen die Philosophen zur Herrschaft auffordern. Also widerruft sich die Kritik selbst.

Allzu offenbar wird mithin, daß die utopisch gerichtete Phantasie des Platon die schlechte Gegenwart nicht zu überschreiten vermag, sondern in rationalistischer Form verdoppelt. Vor allem denkt Platon die Freiheit mit Herrschaft zusammen: Der freie Mann ist frei, weil er über andere herrscht (III/ 20); er herrscht über andere und ist frei (I/3), weil er sich selbst beherrscht (III/4; IV/8, 17); indem er herrscht, verteidigt er die »Freiheit des Staates« (III/8). Der vernünftige Staat besitzt seine Vernunft, seine vernünftige Einheit, in der Person des Philosophen-Königs, der als Philosoph die »Idee des Guten«, die Identität des Distinkten, geschaut hat. Die Freiheit ist eine Freiheit nicht bloß durch die überpersönliche, sondern durch die in den Philosophen-Königen personifizierte Herrschaft der Vernunft. Dieser Staat ist, als eine Abstammungs-Gemeinschaft, ein Staat des »Friedens« (V/12) nur nach innen, während er sich nach außen – gegenüber Barbaren, Ausländern, Fremden – in einem Zustand des Krieges befindet (V/16).

Die Grundlage dieser Utopie, die dem kritisierten Zustand allzu verhaftet ist, ist eben, daß Platon in der Seele und im Staat die Herrschaft nicht abzuschaffen gedenkt, sondern bloß umkehrt: an die Stelle der Herrschaft der Begierden über die Vernunft und die Tapferkeit stellt er die Herrschaft von Vernunft und Tapferkeit über die Begierden (vgl. IV/16). Entgegen der intendierten dialektischen Argumentationsweise argumentiert Platon doch in der dogmatischen Form des Gegensatzes, der Voraussetzung. Er bleibt nicht bei der Kritik des Bestehenden und des herrschenden Bewußtseins stehen, sondern formuliert positiv die Verfassung und die Gesetze des idealen Staates. Darum lehrt er: Der dialektische Rückgang hinter bewußtlose Voraussetzungen soll nicht bloß deren Setzung (Genesis) und deren Verdinglichung zu Abbildern bewußt machen, sondern selbst zu Voraussetzungslosem, »Nichtvoraus­setzungs­haftem«, gelangen – dies sei die »Sache selbst«, allererst die »Gerechtigkeit an sich« (V/17, VI/21, VII/13, 14). Das scheinbar Voraussetzungslose aber, aus dem er seine Utopie des gerechten Staates entwickelt, kann nichts sein als: eine bewußtlose Verdopplung der kritisierten Lebenspraxis. Die Vernunft-Utopie bleibt der Logik von »Herrschen und Beherrschtwerden« (IV/16, 18) verha ftet.

Diese Aporie des Platon ist jedoch kein Ausdruck einer subjektiven Denkschwäche, sondern des Geistes der Zeit: der mythologischen Weltauffassung und Lebenspraxis, nach der die Einheit des Kosmos in den Göttern liegt. Platon stützt seine Staats-Utopie auf die Erkenntnis der »Sache selbst«, näher auf die Erkenntnis der »Gerechtigkeit an sich« und des »vollkommen gerechten Mannes« (V/17), zuletzt auf die höchste »Idee des Guten« (VI/18–21). Dies sei nur ein »Urbild«, dem die realen Staaten und Menschen durch »Teilhabe« nur »so nahe als möglich« kommen können (ebd.). Das »Urbild«, das »Seiende«, wird mittels der »Seele« erkannt; das Erscheinende ist auch der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich (Platon: Phaidon, Kap. 10). Weil das »Seiende« als »Sache selbst« nur eines ist: identisch und unvergänglich, ist es göttlich, ist die erkennende Seele dem »Göttlichen« »ähnlich«, der »Leib« aber »dem Sterblichen« (ebd. Kap. 28). So ist die Utopie eines vollkommen gerechten Staates göttlich, so können reale Staaten und Menschen der Idee der Gerechtigkeit nur nahe kommen, ohne sie je »vollkommen« zu verwirklichen (Platon: Politeia, V/17). Würde eine »philosophische Natur«, würde das »Geschlecht« der Philosophen als »das beste«, betont Platon, »je den besten Staat« finden, dann würde sich zeigen, »daß dies das wahrhaft Göttliche ist, alles andere aber sehr menschlich war« (VI/11). Die existierenden Staaten sind bloß »menschliche« Staaten, weil in ihnen die Begierden des Leibes über die Seele und die Vernunft herrschen; wäre die Herrschaft von Seele und Vernunft vollkommen, als Herrschaft also überflüssig, wäre der Leib überwunden, wäre Göttliches erreicht. So liegt die Staatsutopie jenseits des bloß menschlichen Lebens, jenseits des Vielen und des Scheins, jenseits der Empirie: das Land Nirgendwo wird nicht vom philósophos bewohnt, sondern vom sophós.

Platon beschließt daher die Darstellung seiner Staatsutopie mit der Bemerkung, daß die Philosophen, nachdem sie die Regierung übernommen hatten und der »Staats- und Kriegsdienste entledigt« seien, »die Inseln der Seligen bewohnen« (VII/18) – sie würden dann »glückselig leben und ein so verbrachtes Leben nach dem Tode durch ein angemessenes Los dort krönen wollen.« (VI/11) Weil der Tod nichts ist als jene Trennung von Körper und Seele, die die Bedingung der Möglichkeit philosophischer Erkenntnis ist, vollendet sich das Leben des Philosophen im Tode – in ihm verselbständigt sich die göttliche, immergleiche, unsterbliche Seele durch Katharsis (vgl. Platon: Phaidon, Kap. 10, 12); das gute, das gerechte Leben fürchtet den Tod nicht (I/5). So endet die Politeia im Buch X mit einer Darstellung des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Unsterblichkeit der Seele und kehrt damit an den Anfang des Dialogs zurück: zur Frage des Sokrates an Kephalos (Buch I). Die säkulare Verwirklichung der Utopie kann unter mythologischen Voraussetzungen nicht gedacht werden.

Platons Utopie eines Staates, in dem die Herrschaft der Vernunft theoretisch und praktisch verwirklicht ist, hat die Philosophiegeschichte zutiefst geprägt: die Utopien der Renaissance und der Phase des Handelskapitalismus – Morus, Bacon, Campanella – sind in Form und Inhalt an Platons Politeia gebildet; Kant beruft sich in der Kritik der reinen Vernunft auf Platons Ideenlehre, um die Ideen als »regulative Prinzipien« zu explizieren; ohne Platons Dialektik ist jene von Hegel und Marx nicht denkbar. Dem antirationalen, anti-utopischen Neoliberalismus freilich gilt Platon als erster »Feind« der »offenen Gesellschaft« (Popper 1945a).

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