Klaus Thörner – Die Anfänge deutscher Südosteuropapolitik
Die Anfänge deutscher Südosteuropapolitik
Klaus Thörner
Im Verhältnis zu den 1840er Jahren ging im Zeitraum von 1850 bis 1870 die Zahl der veröffentlichten Südosteuropapläne zurück. In diesen Jahren des Umbruchs von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft und vom Feudalismus zum Kapitalismus standen innenpolitische Fragen und der Machtkampf zwischen den herrschenden Klassen Preußens und Österreichs um die Hegemonie im angestrebten deutschen Nationalstaat im Vordergrund. Nach dessen Realisierung und dem ökonomischen Boom Anfang der 1870er Jahre begann die Suche nach Absatzmärkten und Kolonien. In ihrem Kontext rückte Südosteuropa wieder verstärkt ins Blickfeld deutscher Unternehmen, Wirtschaftsplaner, Politiker und Ideologen. Seitdem wurden in diese Richtung zielende expansionistische Konzepte und Stellungnahmen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die in ihrer Entstehungszeit keine große Wirkung entfaltet hatten, stärker rezipiert und verbreitet. Einige von ihnen sollen im folgenden vorgestellt werden.
Die erste ›Mitteleuropa‹-Initiative
1850 veröffentlichte der aus Wuppertal-Elberfeld stammende, damalige österreichische Handelsminister [ 1 ] Freiherr von Bruck einen Plan für ein »mitteleuropäisches« Zollbündnis. Er sah ein Freihandelssystem zwischen einem künftigen deutschen Staat und Österreich-Ungarn vor, dem langfristig Gebiete Ost- und Südosteuropas angegliedert werden sollten. Bruck war maßgeblich durch die Ideen Friedrich Lists beeinflußt und galt zu seiner Zeit als dessen bekanntester Schüler (Meyer 1955: 16 f.; Droz 1960: 94). Bruck bemerkte zu seinem »Mitteleuropa«-Projekt, mit einem von der Nord- und Ostsee bis zur Adria reichenden Wirtschaftsbündnis entstünde ein Handelsgebiet, »wie die Geschichte kein gleiches kennt« (zit. n. Charmatz 1916: 177). Auf der Grundlage dieses Bündnisses prophezeite Bruck dem Deutschen Reich und Österreich eine gewaltige Expansion in den Nahen Osten und die tropischen Regionen der Welt (Meyer 1955: 17).
Der österreichische Kanzler Schwarzenberg unterstützte das ›Mitteleuropa‹-Projekt seines Handelsministers. Doch die preußische Regierung, zu dieser Zeit noch damit beschäftigt, ihre Hegemonie im deutschen Zollgebiet gegen Österreich zu sichern, und zur Durchsetzung des deutschen Nationalstaats auf die Unterstützung der russischen Regierung angewiesen, lehnte das ›Mitteleuropa‹-Konzept der österreichischen Regierung noch ab. Im deutschen Bürgertum fand Bruck demgegenüber bedeutende Fürsprecher, etwa Heinrich Gagern und Constantin Frantz sowie die Redaktion der Augsburger Allgemeinen Zeitung (Droz 1960: 97; Böhme: 1966: 19 ff.). Letztere setzte in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Agitation für eine Ausrichtung der deutschen Politik und Wirtschaft in Richtung Österreich-Ungarn und Südosteuropa fort. Einer der wichtigsten Autoren der AAZ zu diesem Thema wurde der Tübinger Wirtschaftswissenschaftler Albert Schäffle, der wie Bruck für einige Zeit (1871) das Amt des österreichischen Handelsministers übernahm. Auch Schäffle sah in einer Zollunion zwischen Österreich und dem Deutschen Zollverein die Voraussetzung für eine bis in den Nahen Osten reichende deutsche Einflußzone (Droz 1960: 109 f.; Oncken 1914).
Paul de Lagarde und Zeitgenossen
In den 1850er Jahren trat mit dem evangelischen Theologen, ›Orientalisten‹, Schriftsteller und Kulturkritiker Paul de Lagarde [ 2 ] ein weiterer Protagonist deutscher Ost- und Südosteuropaexpansion an die Öffentlichkeit (Schemann 1943: 237; Breitling 1927). Während Friedrich List vor allem von den Vertretern einer wirtschaftlichen Durchdringung Südosteuropas rezipiert wurde, erlangte Lagarde besonders bei den Verfechtern einer annexionistischen, aggressiven deutschen ›Lebensraum‹-Politik in Ost- und Südosteuropa Vorbildfunktion. Dabei bestand zwischen List und Lagarde Einigkeit in der Zielsetzung, die deutsche Auswanderung und Kolonisation vorrangig auf Ost- und Südosteuropa auszurichten. 1853 bemerkte Lagarde zu dieser Frage:
Die Arbeit, welche ich uns Deutschen zumute, ist gemeinsame Kolonisation. Erschrecken Sie nicht: den Schauplatz dieser Kolonisation denke ich mir nicht in fremden Weltteilen, sondern in unserer nächsten Nähe (zit. n. Lagarde 1934: 31 f.).
Es sei nicht einzusehen, erklärte Lagarde in der Tradition der oben vorgestellten Schriften der 1840er Jahre, daß die deutschen Emigranten fast ausschließlich nach Amerika zögen und so dem »deutschen Organismus« verloren gingen. Die Auswanderung der deutschen »Bettler und Bauern« müsse nach einem systematischen Plan organisiert und nach Ost- und Südosteuropa bis an die kroatische Adriaküste gelenkt werden (ebd.). Später erweiterte Lagarde die Ziele noch auf Bosnien-Herzegowina, Rumänien und Kleinasien (ebd.: 413, 449 f.). In einem Zugang zur Adria sah er, wie andere vor ihm, für das künftige Deutsche Reich eine »Lebensfrage«. Es müsse sich zudem die Donaumündungen sichern. Während der Adriazugang dem deutschen Handel den Weg nach allen Häfen des Mittelmeers ermögliche, könne der Besitz der Donaumündungen am Schwarzen Meer dem Deutschen Reich Handelswege in den Kaukasus und den Nahen Osten eröffnen (ebd.: 33 f.).
Lagarde forderte für das gesamte Herrschaftsgebiet des Habsburger Reichs eine rücksichtlose Germanisierungspolitik, bis von allen »kläglichen Nationalitätchen des Kaiserstaats nichts mehr übrig« sei. Sein großdeutsches Annexionskonzept endete nicht an den Grenzen Österreich-Ungarns. Er strebte die Schaffung eines Reichs an, dessen Grenzen im Westen von Luxemburg bis Belfort, im Osten von der Memel bis zum Schwarzen Meer reichen und im Süden einen Teil der Adriaküste einschließen sollten. Für »künftiges Bedürfnis« solle sich dieses deutsche Reich »Kleinasien freihalten«. Die Ausweitung der deutschen Grenzen »in der Richtung auf Kleinasien« betrachtete Lagarde als Erfüllung einer Mission. Ein solches Großdeutschland, das er Germanien nannte, sei in der Lage, sich selbst zu ernähren und »mit seinem stehenden Heere« sowohl Frankreich als auch Rußland niederzuschlagen (ebd.: 132, 449 f., 476).
Lagarde hielt vor allem einen deutschen Krieg gegen Rußland für unerläßlich, um den Gewinn »eines erheblichen Kolonielandes im Osten« zu erreichen (ebd.: 354 ff.). Das Deutsche Reich solle Rußland vom Schwarzen Meer und damit »von den Südslawen« abdrängen und nach Mittelasien zurückwerfen (ebd.: 91). Ebenso wie die Paulskirchenversammlung wandte sich Lagarde gegen die Entstehung eines Rußlandfreundlichen jugoslawischen Staates. Das Deutsche Reich dürfe aus dem »Triebe der Selbsterhaltung« nicht zulassen, daß vor seiner Tür »ein slavisches Reich« entstehe, das sich gemeinsam mit dem anderen »slavischen« Reiche im Osten und mit Frankreich gegen das Deutsche Reich wenden könnte. Wenigstens »nach Süden hin« müsse eine »vollständige Internierung« Rußlands erreicht werden. An den Gedanken eines Krieges, »welcher dieses Mitteleuropa herstellen muß«, solle das deutsche Volk von nun an gewöhnt werden (ebd.: 91, 98, 457).
Während auf der offiziellen diplomatischen Ebene die preußischen und deutschen Regierungen unter Bismarck von 1860 bis 1890 immer wieder ihre rußlandfreundliche Haltung bekräftigten, bereiteten der Pangermanist Lagarde einerseits, sowie Teile des deutschen Bürgertums und die Köpfe der sozialistischen Bewegung Marx, Engels und Wilhelm Liebknecht andererseits, die deutsche Bevölkerung auf einen angeblich unausweichlichen Krieg mit Rußland vor.
Eine weitere erschreckende Tradierung, die von Lagarde zum Nationalsozialismus reicht, wird in der Haltung des ersteren zum Umgang mit der jüdischen Bevölkerung Ost- und Südosteuropas deutlich. 1853, das heißt 80 Jahre vor Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft im Deutschen Reich, forderte Lagarde als Voraussetzung für die Realisierung deutscher Kolonisationspläne in Ost- und Südosteuropa, die »in den Weichsel- und Donauländern« lebenden Juden »abzuschaffen« und nach Palästina oder, wie er später schrieb, »noch lieber nach Madagaskar« auszusiedeln, da es unmöglich sei, »eine Nation in der Nation zu dulden« (ebd.: 41).
1885 ging Lagarde noch weiter. Neben Deportationen von Juden aus Ost- und Südosteuropa forderte er nunmehr auch Umsiedlungen anderer Bevölkerungsgruppen zur Durchsetzung einer deutschen Kolonisation. Er schrieb weiter, daß »alle Slaven« und Juden des Habsburger Reichs die Deutschen hassen würden, »weil sie wissen, daß unser Leben ihr Tod ist« (ebd.: 454 f.). Dieser Satz wirkt im nachhinein wie eine düstere Prophezeiung.
Bei der Formung der nationalsozialistischen Ideologie übernahm Alfred Rosenberg vieles aus den Aufsätzen und Vorträgen Lagardes. Häufig betonte er seine Verpflichtung gegenüber Lagarde. Auch Rosenbergs Plan, die Juden nach Madagaskar zu deportieren, stammt, wie gezeigt, originär von Lagarde (Neumann 1993: 181).
Zwar entfalteten die Schriften Lagardes erst nach 1890 eine breite Wirkung, doch mit seinem Eintreten für eine deutsche Kolonisation von Ost- und Südosteuropa stand er bereits zu Lebzeiten keineswegs allein. Ein weiterer Verfechter dieser Zielsetzung war beispielsweise Carl Rodbertus-Jagetzow (1805 – 1875), preußischer Großgrundbesitzer und Theoretiker eines preußisch-junkerlichen Staatssozialismus (MEW 23: 909 f.: Personenverzeichnis) [ 3 ] . Er vertrat 1881 die Auffassung, der deutsche Kolonialismus solle an die Eroberungspolitik zur Zeit der Ritterorden anknüpfen und sich wieder nach Ost- und Südosteuropa wenden. In deutlicher Übereinstimmung mit Lagarde betonte er:
Wir sind ein colonisirendes Volk. – Aber unsere Colonien liegen nicht jenseits des Meeres, sie sind unmittelbar aus dem alten Stamm herausgewachsen. Oestlich von der Elbe erstrecken sie sich bis an den Peipussee [ 4 ] und bis in die südöstlichste Bastion der Karpathen (zit. n. Opitz 1977: 86).
Auch Rodbertus hielt einen Zugang zur Adria und eine Sicherung des gesamten Donaugebietes gegen »feindliche Übergriffe« für elementare deutsche Interessen (Opitz 1977: 86).
Lassalle schrieb, diesem zustimmend, er hoffe, die Zeit noch zu erleben, wo die türkische Erbschaft an das Deutsche Reich gefallen sei und deutsche Soldaten- oder Arbeiterregimenter am Bosporus stünden (Hertneck 1927: 10).
In den von dem angesehenen Historiker Heinrich von Treitschke [ 5 ] herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern wurde die Unterwerfung der angeblich weniger entwickelten Völker Ost- und Südosteuropas durch das angestrebte Deutsche Reich 1866 zur kulturellen Mission erhoben. Zur Begründung eines deutschen Rechts auf Kolonisation in diesen Gebieten hieß es:
Das Völkergemenge im Südosten Europas, theils slavischen Stammes theils mit slavischen Elementen stark versetzt, die Reste früherer Culturvölker in diesen Gebieten, hat sich seit Jahrhunderten unfähig zu einer selbständigen Existenz und gedeihlichen volkswirtschaftlichen Entwicklung erwiesen (Preußische Jahrbücher, Bd. 18, 1866: 675 ff.).
Hier zeigt sich, daß die Hegelsche Theorie von den »geschichtslosen Völkern« und dem »Recht der Eroberung« der angeblich kulturell höher stehenden Nationen nicht nur von Marx und Engels rezipiert und übernommen wurde. Die Überzeugung von der angeblichen Geschichtslosigkeit, Kultur- und Organisationsunfähigkeit der ›Slawen‹ blieb auch in der Regierungszeit Bismarcks fest in der Vorstellungswelt der deutschen Gesellschaft verankert und wurde als Begründung angeführt, der Bevölkerung Ost- und Südosteuropas das Recht auf Eigenstaatlichkeit und Selbständigkeit abzusprechen. Die Hervorhebung rassistisch festgeschriebener negativer Eigenschaften der ›Slawen‹ diente in der Phase der Reichsgründung als Gegenbild der Formierung und Hervorhebung eines deutschen Nationalbewußtseins (Lammich 1978: 5). Die Heroisierung der Kolonisation weiter Teile Ost- und Südosteuropas durch den deutschen Ritterorden trug zur Untermauerung eines neuen deutschen Hegemonialanspruchs über diese Gebiete bei (u. a. Preußische Jahrbücher, Bd. 10, 2. Heft 1862: 95 ff.). Neben den Preußischen Jahrbüchern übernahm in diesem Zusammenhang die vor allem beim deutschen Bildungsbürgertum beliebte Zeitschrift Die Grenzboten eine führende Funktion. Dort war z. B. 1868 zu lesen, »daß wir slavisch und sclavisch für nahezu gleichbedeutend halten« (Gilben 1868: 268).
Die Auffassung, daß die Natur die ›Slawen‹ zu Sklaven und Knechten, nicht aber zu Herrschern bestimmt habe, war im Deutschland des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Dabei wurden immer wieder angeblich deutsche Tugenden wie ›Zucht‹, ›Ordnung‹, ›Disziplin‹, ›Fleiß‹, ›Gewerbesinn‹, ›Handlungsfreudigkeit‹ und ›Organisationstalent‹ vermeintlich ›slawischen‹ Eigenschaften wie ›Trägheit‹, ›Unbeständigkeit und Schwäche‹, ›lässiges und wüstes Treiben‹ und ›Mangel an Initiative‹ gegenübergestellt. Hinzu kam die bereits erwähnte Vorstellung, daß die ›Slawen‹ gleichsam von der Natur zum Ackerbau bestimmt seien und zur besseren Erfüllung dieser Aufgabe von Deutschen erzogen werden müßten. All dies kulminierte in der Antithese von dem ›sklavischen Slaven‹ und dem ›deutschen Herrenvolk‹ (Lammich 1978: 19 f., 32 ff.).
Noch eine Stufe unter den ›Slawen‹ im Allgemeinen standen im deutschen Bewußtsein die als ›halbasiatisch‹ bezeichneten Russen, denen im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung Ost- und Südosteuropas selbst die Fähigkeit zur Rezeption von Kultur und Zivilisation abgesprochen wurde. Mit seinem »stark ausgeprägtem nomadischen Zug« sei »der Russe« nicht einmal als Ackerbauer zu gebrauchen (Die Grenzboten, Nr. 3/1866: 226). Er erschien in deutschen Schriften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder als »gieriger, blutrünstiger, eroberungssüchtiger und fanatischer Barbar«, der nach Asien zurückgedrängt werden müsse (Lammich 1978: 97 ff.).
Dieses Ziel bildete die wesentliche Forderung der 1877 erschienenen Schrift Deutsche Antwort auf die orientalische Frage des viel gelesenen politischen Schriftstellers Constantin Frantz [ 6 ] . Er betonte, daß der »Zerbröckelungsprozeß« des Osmanischen Reiches sich nicht zu Gunsten des »halbbarbarischen Rußland« auswirken dürfe, welches bei einem noch weiteren Vordringen in Südosteuropa »zu einer die Zukunft des ganzen abendländischen Europas bedrohenden Machtstellung aufsteigen würde« (Frantz 1877: 4 f.). [ 7 ] Um Rußland in Südosteuropa »wirksam die Hände zu binden« sei ein gemeinsames Vorgehen von Österreich und Preußen notwendig. Als »Preußens Beruf« bezeichnete Frantz dabei eine Ausdehnung in nordöstlicher Richtung (das heißt nach Polen und den baltischen Ländern) nach dem Vorbild des Deutschen Ritterordens, als »Österreichs Beruf« eine Kontrolle über die südosteuropäischen Donauländer (ebd.: 9, 18, 27 ff., 47 f.), womit er an die bereits in der Paulskirche von Jordan vertretene Forderung nach den beiden Hauptexpansionsrichtungen eines erträumten großdeutschen Reiches anknüpfte.
Der preußische und der österreichische Block sollten sich nach Frantz zu einem föderalistischen »Mitteleuropäischen Bund« zusammenschließen, »als des alleinigen Mittels um Rußland in seine Schranken zu weisen«. Dadurch könne »dem weiteren Vordringen Rußlands in das türkische Gebiet ein Damm entgegengesetzt« werden. Ansonsten drohe von Seiten Rußlands die Gefahr einer deutschen Abschließ ung vom Mittelmeer und vom »Orient« und »was«, so fragte Frantz rhetorisch, »wäre dann mit der deutschen Weltstellung«? (ebd.: 51, 61) Mit anderen Worten: Frantz sah, wie viele vor und nach ihm, in einer Hegemonie in Ost- und Südosteuropa die Basis einer deutschen Weltmachtstellung und betrachtete Russland als Hauptgegner zur Durchsetzung dieses Ziels.
Den »Mitteleuropäischen Bund« bezeichnete Frantz dabei auch als Zusammenschluß von »Deutschthum und Slawenthum«. Dabei rechnete er Rußland nicht zum »Slawenthum«. Er nannte es vielmehr ein asiatisches oder halbasiatisches Wesen, das in Europa vordringe (ebd.: 69, 82, 85). Dies impliziere die Gefahr, daß Asien bis an die Elbe reichen werde (Mommsen 1995: 5). Frantz plädierte für einen Präventivkrieg gegen Rußland, um es in Richtung Asien zurückzudrängen (Droz 1960: 121).
Bei den »Slawen« hielt er hingegen den »Ackerbautrieb für angeboren«, während ihnen der deutsche »Unternehmungsgeist« fremd sei. Deshalb wäre Deutschen und »Slawen« »geholfen, wenn sie sich verbänden«, eine Überzeugung die im Deutschen Reich noch während des Nationalsozialismus vertreten wurde (Wagemann 1939: 40; Leibrock 1941: 156). Die »slavischen« Länder Europas hätten, so Frantz, nur eine Zukunft in einer Konföderation mit dem Deutschen Reich – »abgeschlossen von Deutschland gingen sie innerer Verdumpfung entgegen« (Frantz 1877: 73). Nur durch einen »mitteleuropäischen« Bund mit dem Deutschen Reich könnten sie festen Halt im europäischen System gewinnen und in einen Zusammenhang mit der westeuropäischen Kultur treten (ebd.: 71).
Für die Ermöglichung eines »schwunghaften Handels« zwischen dem Deutschen Reich und Südosteuropa verlangte Frantz bereits 1848 die Schaffung und Sicherung einer Handelsstraße von der Rheinmündung an der Nordsee bis zur Donaumündung ins Schwarze Meer. Diese Handelsstraße könne eine Ergänzungswirtschaft im großem Umfang ermöglichen. Am östlichen Teil dieser Handelsstraße würde ein »Überfluß von Naturprodukten« erzeugt, während am westlichen Teil Manufakturwaren hergestellt würden. Die Donauländer könnten die deutschen Arbeiter ernähren, während deutsche Manufakturhersteller dort Käufer fänden (Frantz 1848, Neuauflage 1969: 46). Die hier von Frantz und in ähnlicher Form bereits vorher von List skizzierte ›Ergänzungswirtschaft‹ zwischen dem Deutschen Reich und Südosteuropa, die letzteres dauerhaft auf den Status eines Liefergebiets für Agrarprodukte und Rohstoffe degradierte, wurde in der Phase des Nationalsozialismus zu einer tragenden Säule der deutschen Kriegswirtschaft.
Im Gegensatz zu Lagarde plädierte Frantz nicht für eine ›Germanisierung‹ Ost- und Südosteuropas oder für eine Lenkung der deutschen Auswanderung in diese Richtung. Er gehört zu den Vertretern einer verdeckten deutschen Hegemonie, die mittels eines föderalistischen ›mitteleuropäischen‹ Staatenbundes unter Einschluß des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns und des gesamten Gebiets vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer erreicht werden sollte.
Ein deutsch-österreichisches Handelsbündnis mit Beteiligung der südosteuropäischen Donaustaaten forderte 1880 auch der Tübinger Wirtschaftswissenschaftler und zeitweilige österreichische Handelsminister Albert Schäffle (1831 – 1903). Auch ihm ging es dabei nicht nur um wirtschaftliche Fragen. Er betonte die Bedeutung der Aufrechterhaltung der Herrschaft des österreichischen Kaisertums über weite Teile Ost- und Südosteuropas für die deutsche Politik als »Damm gegen die feindliche Völkerfluth« (Schäffle 1880: 657). Bereits in den 1860er Jahren hatte Schäffle – wie schon oben erwähnt – in einem »mitteleuropäischen Zollverband« das Mittel erblickt, mit dem sich ein Deutsches Reich erfolgreich einer »amerikanisch-russischen Vergewaltigung« erwehren könne (Barkai 1977: 73).
In ähnlicher Weise plädierte der angesehene Nationalökonom Lujo Brentano – eigentlich ein Anhänger der Freihandelstheorie – 1885 für eine Zollunion zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und den Balkangebieten. Er sah darin die einzige Hoffnung für das Deutsche Reich, sich ausreichende Märkte und Rohstoffressourcen zu sichern (Brentano 1885).
Noch weiter ging Paul Dehn, der später zum ›Südosteuropaexperten‹ des Alldeutschen Verbands wurde [ 8 ] , 1884 in der Schrift Deutschland und Orient in ihren wirtschaftspolitischen Beziehungen. Er vertrat darin die Auffassung, daß ein das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn umfassendes »mitteleuropäisches Wirtschaftsgebiet« dem deutschen Handel die besten Voraussetzungen biete, sich die Absatzmärkte Südosteuropas und des Osmanischen Reiches zu erschließen (Dehn 1884, Teil 1: VII, XXXV; Dehn 1885: 423 ff.).
»Der Orient« sollte nach Dehn nicht zum direkten Bestandteil des Zollprojekts »Mitteleuropa«, wohl aber zu dessen Einflußgebiet und zur Grundlage einer deutschen Weltstellung werden (Dehn 1884, Teil 1: XXV). Ausdrücklich wandte sich Dehn gegen die von Bismarck immer wieder betonte, angebliche deutsche Interesselosigkeit im »Orient«. Er bemerkte in Anspielung auf ein verbreitetes Goethe-Zitat: »Wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen« [ 9 ] werde heute »auch der deutsche Kleinstaatler aus seiner Behaglichkeit gerissen«. Ereignisse im Osmanischen Reich würden das Deutsche Reich inzwischen so unmittelbar berühren, als geschähen sie »an der Grenze, in nächster Nachbarschaft«. Bereits vor Jahrzehnten sei »von List, Roscher u. a. auf die wirtschaftliche Bedeutung des Orients für das deutsche Mitteleuropa hingewiesen worden«, und seit den 1870er Jahren hätten Forschungsreisende in umfangreichen Studien auf die wirtschaftliche Bedeutung und Zukunft der »Orientländer« hingewiesen. Sie hätten dabei nachdrücklich auf die Fruchtbarkeit des südosteuropäischen Bodens und dessen Naturschätze aufmerksam gemacht und deren Verwertung im Austausch mit den Erzeugnissen der »mitteleuropäischen« Industrie vorgeschlagen. Dabei seien die wirtschaftlichen Potentiale dieses Gebiets noch steigerungsfähig, »weit weniger durch industrielle Thätigkeit als durch rationellen Betrieb der Bodenkultur und Viehzucht«. Ausbaufähig sei der Getreideanbau, die Viehproduktion und die Zucht von Obst, Wein und Handelspflanzen wie Baumwolle, Seide, Oliven, Tabak usw. (ebd.: XXI ff.).
Solange das Deutsche Reich selbst vorwiegend Bodenerzeugnisse ausgeführt habe, hätte es an der Grundlage eines umfassenderen Güteraustausches »zwischen ihm und den Orientländern« gefehlt (ebd.: XXIV). Dies habe sich nun geändert. Vorhanden sei »im näheren und ferneren Orient … in Hülle und Fülle was Mitteleuropa zu seinem wirtschaftspolitischen Fortbestande bedarf, vor Allem Rohstoffe, Nahrungs- und Genußmittel« (ebd.: XXIV f.). Um Südosteuropa für das Deutsche Reich nutzbar zu machen, müsse dort die Ruhe im Innern aufrechterhalten, die Gesetzgebung geregelt, eine Verwaltung eingerichtet sowie Entsumpfungen, Aufforstungen und der Bau von Straßen vorgenommen werden. Sei dies erreicht, »so würde die Balkanhalbinsel in kurzer Zeit mit der Produktivität ihres Bodens und mit der Leistungsfähigkeit ihrer Bevölkerung Mitteleuropa überraschen« (ebd.: XXIII). Zur Realisierung dieses Plans sei deutsche Organisation unerläßlich. Eingerichtet werden solle eine »wirthschaftspolitische Verwaltung unter hervorragender Mitwirkung deutscher bewährter Kräfte aus allen Berufsständen« (ebd.: XXXVI f.).
Konkret forderte Dehn eine Umstrukturierung der rumänischen Landwirtschaft und eine Umerziehung der dort bisher an der Subsistenzwirtschaft orientierten Bauern. Es müsse »besseres Korn« angebaut, »die Viehzucht gehoben« und die »Geflügelzucht eingebürgert werden«. Die ganze Lebens- und Betriebsführung des rumänischen Bauern müsse auf eine höhere, »m itteleuropäische Kulturstufe« gebracht werden, damit dieser befähigt werde, Überschüsse anzustreben und tatsächlich zu erzeugen (ebd.: 90). [ 10 ] Gleichzeitig plädierte Dehn für die Anwerbung neuer deutscher Kolonisten nach Rumänien, welche nach seiner Auffassung »durch Tüchtigkeit im Ackerbau und überhaupt in der Landwirthschaft, durch Fleiß und Ordnungssinn alle anderen bulgarischen, türkischen und romanischen Landwirthe bei weitem übertreffen« (ebd.: 106). Dehn war somit, wie Lagarde, ein Vertreter direkter Kolonisation Südosteuropas durch deutsche Auswanderer.
Um die zu diesem Zeitpunkt bestehende Vorherrschaft des sich über den Seeweg vollziehenden englischen Handels in Südosteuropa und dem Nahen Osten zu brechen, forderte Dehn, den deutschen Handel auf den Landweg zu konzentrieren. Dieser gestatte
den Trägern einer überlegenen Kultur weithinaus im Interesse allgemeinen Fortschrittes Wurzel zu fassen und neue Keime zu treiben. Den mitteleuropäischen Völkern gehört der Landweg nach dem Orient und unter deutscher Führung wird er fortan zielbewußt zu betreten sein (ebd.: II).
Damit skizzierte Dehn eine wesentliche Strategie, die die deutsche Wirtschaft in den folgenden Jahrzehnten verfolgte: die Durchsetzung eines Kontinentalimperialismus mit der Hauptausrichtung nach Ost- und Südosteuropa und dem Nahen Osten.
Dieser Kontinentalimperialismus ergab sich für das Deutsche Reich als ›verspäteter‹ Kolonialmacht aus der dominierenden Position Großbritanniens auf den Weltmeeren und der britischen und französischen Vormachtstellung im Überseekolonialismus. Das Osmanische Reich, d. h. weite Teile Südosteuropas und des Nahen Ostens, stand demgegenüber einer kolonialen bzw. imperialistischen Eroberung noch offen und ließ sich über den Landweg erreichen. Während der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts wurde der ›blockadesichere‹, d. h. von der Seemacht Großbritannien nicht zu versperrende Zufuhrraum Südosteuropa für die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen von entscheidender Bedeutung. In den Schriften von Dehn, Lagarde, Rodbertus, Frantz und anderen wurden planerische und ideologische Grundlagen für diesen Kontinentalimperialismus gelegt.
Anmerkungen
[ 1 ] Er fungierte in diesem Amt von 1848 – 53.
[ 2 ] 1827 – 91; eigentlicher Familienname Bötticher, lehrte Theologie und Orientalistik an der Göttinger Universität und hielt Sprach- und Lektürekurse in Hebräisch, Syrisch, Arabisch, Ägyptisch und Neupersisch. Seine Wirkung setzte im Deutschen Reich besonders seit der Jahrhundertwende ein und verstärkte sich noch nach dem Ersten Weltkrieg. (Killy/Vierhaus 1997; Neumann 1993: 181)
[ 3 ] Rodbertus stand im Briefwechsel mit dem deutschen Sozialisten Ferdinand Lassalle und gehörte seit 1875 zum Kreis der staatstragenden Sozialpolitiker um Roscher, Brentano und Schmoller. Letzterer wurde Vorsitzender des bedeutenden Vereins für Sozialpolitik. Leitlinien dieser ›Kathedersozialisten‹ waren Staatsinterventionismus, unternehmerische Sozialpolitik und Schutzzollpolitik als Voraussetzungen einer Sozialreform. (Böhme 1966: 372; Rosdolsky 1979: 123)
[ 4 ] Viertgrößter See Europas, an der Grenze zwischen Estland und Rußland gelegen.
[ 5 ] Von diesem stammt die Parole: ›Die Juden sind unser Unglück‹.
[ 6 ] 1817 – 91; Staatsphilosoph, Politiker, Publizist. Er stammte aus einer Pastorenfamilie aus dem Harz und war Teilnehmer der Frankfurter Paulskirchenversammlung. Nach kurzer Tätigkeit im preußischen Staatsdienst (1851 – 57 als Konsul in Barcelona) opponierte er seit 1856 als Journalist gegen Bismarcks »kleindeutsche« Politik. (Meyer 1955: 26; Droz 1960: 116. Siehe auch: Schuchardt 1896; Quadflieg 1933; Klaus 1950; Sauzin 1955)
[ 7 ] Siehe auch 1969: 8 f.; 1865: 99: Auch in diesen Schriften propagierte Frantz, daß Preußen sich nach Nordosten und Österreich sich nach Südosten ausbreiten solle.
[ 8 ] Er veröffentlichte seit den 1890er Jahren zahlreiche Artikel zu diesem Themenbereich in den Alldeutschen Blättern.
[ 9 ] Das gesamte Zitat lautet: »Bürger: Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg- und Kriegsgeschrei / Wenn hinten weit in der Türkei / Die Völker aufeinander schlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man abends froh nach Haus, / Und segnet Fried’ und Friedenszeiten. / Anderer Bürger: Herr Nachbar, ja! So laß ich’s auch geschehn, / Sie mögen sich die Köpfe spalten, / Mag alles durcheinander gehen; / Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.« (Goethe 1986, 34)
[ 10 ] Die hier vorgeschlagene, von Deutschland aus geplante und organisierte Intensivierung der südosteuropäischen Landwirtschaft stand in den 1930er und 1940er Jahren im Mittelpunkt deutscher Südosteuropapläne und konkreter Wirtschaftsprojekte (siehe unten das Arbeit das Kapitel über den Nationalsozialismus).