Gregor-Sönke Schneider: Rezension von Friedrich Pollock
Gregor-Sönke Schneider
Rezension
Friedrich Pollock: Marxistische Schriften
Friedrich Pollock ist neben Leo Löwenthal einer der weithin Vergessenen des in Frankfurt am Main gegründeten Instituts für Sozialforschung, das 1933 ins Ausland flüchtete, ins nachnationalsozialistische Deutschland zurückkehrte und unter dem Begriff der Kritischen Theorie weltberühmt wurde. Ein Blick in die Sekundärliteratur zur Kritischen Theorie offenbart eine Unverhältnismäßigkeit zwischen der Fülle an Publikationen über die Mitglieder des inneren Kreises wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse sowie Walter Benjamin und der geringen Beachtung Pollocks und Löwenthals. 1923 gründeten Pollock, Horkheimer und Felix Weil das Institut für Sozialforschung. In der Geschichtsschreibung der Kritischen Theorie gilt Pollock seit langem als administrativer Leiter, der seine eigene theoretische Produktivität hinter seine organisatorische Tätigkeit stellte. [1] Wenn diese Annahme auch zu einem gewissen Grad zutreffen mag, dürfen jedoch die zahlreichen Arbeiten Pollocks zur Marxschen Theorie, über Nationalsozialismus und Antisemitismus sowie seine sozioökonomischen Analysen nicht ignoriert werden.
Mit Ausnahme von Pollock sind seit längerem von allen Mitgliedern des inneren Kreises des Instituts Gesamtausgaben oder Gesammelte Schriften veröffentlicht: Bereits ein Jahr nach Adornos Tod wurde der erste Band seiner Gesammelten Schriften publiziert, dem sich 1972 der Beginn von Benjamins Werken anschloss. [2] 1985 startete mit Band 1 die Herausgabe der Gesammelten Schriften Horkheimers, während mit der Veröffentlichung der Gesamtausgaben von Marcuse und Löwenthal bereits zu deren Lebzeiten begonnen wurde (1978 bzw. 1980). [3] Aufgrund dessen erscheint im Jahr 2018 eine Publikation der Gesammelten Schriften Pollocks längst überfällig. Philipp Lenhard hat sich dieser anspruchsvollen Aufgabe verschrieben. Er ist mit den veröffentlichten wie auch unveröffentlichten Arbeiten Pollocks bestens vertraut. Unterstützung erfährt er dabei u.a. von einem wissenschaftlichen Beirat, der mit John Abromeit, Dirk Braunstein, Jack Jacobs, Eva-Maria Ziege und dem Pionier der Geschichtsschreibung der Kritischen Theorie, Martin Jay, prominent und kompetent zugleich besetzt ist.
Angesichts des Titels des ersten Bandes der “Gesammelten Schriften” Pollocks – “Marxistische Schriften” – ist man in einer ersten Reaktion gewillt, auf die damit einhergehende Spannung zwischen Marxscher Theorie und Marxismus aufmerksam zu machen. Jedoch weist der Herausgeber Lenhard bereits selbst in der Einleitung darauf hin. Die erklärte Absicht dieses Bandes ist es, die “Marxistischen Ursprünge der Kritischen Theorie in ihrem embryonalen Stadium” (18) darzustellen und zu weiterer wissenschaftlicher Auseinandersetzung anzuregen.
Die hier veröffentlichten Schriften Pollocks waren bisher nur schwer oder überhaupt nicht zugänglich. Der Band enthält zwei Monografien, zwei Aufsätze und vier Rezensionen, die zwischen 1923 und 1932 entstanden sind. Sie fallen somit in die Zeit von der Gründung des Frankfurter Instituts bis kurz vor Pollocks Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Die Ablösung Carl Grünbergs als Direktor durch Horkheimer in den 1930er Jahren führte zu einer völlig anderen Ausrichtung des Instituts. [4] Der Band verbindet die Arbeiten Pollocks in der Grünberg-Ära zur Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie und ihrer Rezeption. Aus diesem Grund verlegt der Herausgeber Pollocks 1929 veröffentlichte Habilitationsschrift “Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927”, den 1932 in der “Zeitschrift für Sozialforschung” abgedruckten Aufsatz “Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung” sowie einige an gleicher Stelle erschienenen Rezensionen in den nächsten Band.
Band 1 der Gesammelten Schriften beginnt mit Pollocks 1923 fertiggestellten Dissertation “Zur Geldtheorie von Karl Marx”, die bisher unveröffentlicht war. Mit dem Abdruck von “Sombarts ‘Widerlegung’ des Marxismus” ist eine Monografie Pollocks von 1926 wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, die bisher nur antiquarisch oder in vereinzelten wissenschaftlichen Bibliotheken verfügbar war. Im vorliegenden Band finden sich auch die Aufsätze “Zur Marxschen Geldtheorie” von 1928 und “Sozialismus und Landwirtschaft”, der aus dem Jahr 1932 – aber “noch ganz auf der Linie des alten, Grünbergschen Instituts” (16) – stammt. Beide Texte wurden in 1960er und 1970er Jahren an verschiedenen Stellen wiederveröffentlicht und sind nun nach über 40 Jahren erstmals zusammen verfügbar. Die Schriften Pollocks schließen mit Rezensionen aus den Institutsorganen – dem “Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung” und der “Zeitschrift für Sozialforschung” – und der “Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft”.
Die umfassenden editorischen Kommentare des Herausgebers sind nicht jedem Text Pollocks unmittelbar angehängt, sondern in einem separaten vierzigseitigen Kapitel zusammengefasst, was die Lektüre ein wenig erschwert, die indes durchaus lohnenswert ist: Neben detaillierten, sorgfältigen Ausführungen und Erläuterungen zu Begrifflichkeiten sowie Übersetzungen werden auch biografische Angaben und theoretische Einordnungen zu einer Reihe von interessanten, aber weniger bekannten Persönlichkeiten geboten, wie z.B. zum Ökonomen Franz Petry, der eine der ersten systematischen Arbeiten zur Marxschen Werttheorie vorlegte, oder zum Vorgänger Max Webers an der Freiburger Universität und Gründer des Vereins für Socialpolitik Eugen Philippovich Freiherr von Phillippsberg. Unter den von Pollock zitierten Autoren sind auch spätere Opfer des Nationalsozialismus zu finden, wie z.B. Pollocks Doktorvater Siegfried Budge, der in der Geschichtsschreibung der Kritischen Theorie bislang kaum Erwähnung fand. Diesen intellektuellen Hintergrund betont der Herausgeber in der Einleitung: “In diesem Sinne repräsentieren die intellektuellen Bezüge in Pollocks frühem Werk auch eine untergegangene, in Vergessenheit geratene Welt” (18f.). Ein Register am Ende des Bandes erleichtert die Suche nach diesen intellektuellen Referenzpunkten.
Neben der Absicht, den Marxschen Kern in der Frühphase der Kritischen Theorie freizulegen, enthält die Herausgabe die “Hoffnung, mit der vorliegenden Edition neue Arbeiten in diese Richtung anzustoßen” (18). Und die ist begründet: In diesem Band werden erstmals die frühen Schriften Pollocks zur Marxschen Theorie gesammelt und zudem ausführlich kommentiert. Damit steht der Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie eine neue, umfassende Quelle zur Verfügung, wofür dem Herausgeber Lenhard Respekt, Anerkennung und nicht zuletzt Dank gebührt.
Mit Vorfreude dürfen die angekündigten folgenden fünf Bände der “Gesammelten Schriften” erwartet werden. Sie sind mit der Erwartung verbunden, dass sie der Reduktion Pollocks im Institut ab den 1930er Jahren auf die des administrativen Geschäftsführers nachhaltig entgegenwirken. Ebenfalls hingewiesen werden soll auf Lenhards Biografie über Pollock, die 2019 erscheint. Die Einleitung des vorliegenden Bandes gibt einen anregenden Vorgeschmack auf das bei Suhrkamp erscheinende Buch “Die ‘graue Eminenz’ der Frankfurter Schule: Friedrich Pollock. Eine Biographie”.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Frankfurt/M. 1981, 24-25.; Vgl. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München 2008, 80.
[2] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schmitz. Band 1 – 20, Frankfurt/M. 1970-1980.; Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bände I-VII, Suppl. I – III. Frankfurt/M. 1972-1999.
[3] Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Band 1-19. Herausgegeben von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1985-1996.; Herbert Marcuse: Schriften. Band 1-9. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1978-1989; Leo Löwenthal: Schriften. Band 1-5. Herausgegeben von Helmut Dubiel, Frankfurt/M. 1980-1987.
[4] Vgl. Ernst Herhaus: Notizen während der Abschaffung des Denkens, Frankfurt/M. 1970, 45.
Aus: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10