Andreas Fisahn: Friedrich Pollock: Marxistische Schriften

Andreas Fisahn

Friedrich Pollock: Marxistische Schriften

 

Mit der Frankfurter Schule, verankert am Institut für Sozialforschung in Frankfurt, sind vor allem die Namen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer verbunden. Als legitimer Nachfolger hat noch Jürgen Habermas einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt, obwohl es ihm ergangen ist wie vielen anderen Mitgliedern des Instituts: Er wurde von Horkheimer und Adorno zunächst als ungeeignet befunden. Habermas habilitierte deshalb bei Wolfgang Abendroth. Erst als seine Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ eine große Resonanz hervorrief, wurde er Nachfolger auf Horkheimers Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt. Andere Mitglieder der älteren Generation des Instituts arbeiteten mit Horkheimer und Adorno zusammen, fielen dann auch wegen abweichender Meinung in Ungnade und verschwanden aus dem „Dunstkreis“ des Instituts. Dazu gehörten etwa Herbert Marcuse, Erich Fromm, Franz Neumann, Otto Kirchheimer, Leo Löwenthal oder Karl Wittvogel. Friedrich Pollock (1894–1970) dagegen blieb bis an sein Lebensende mit Horkheimer befreundet und kehrte nach dem New Yorker Exil an das Institut in Frankfurt zurück. Trotzdem ist er eher unbekannt – Rolf Wiggershaus schrieb 1994 einen Aufsatz mit dem Titel „Friedrich Pollock – der letzte Unbekannte der Frankfurter Schule“.[1] Deshalb ist es sehr verdienstvoll, dass Philipp Lenhard sich darangemacht hat, die gesammelten Schriften von Pollock herauszugeben. Der erste Band ist 2018 im ça ira-Verlag erschienen und wurde von Lenhard mit dem Titel „Marxistische Schriften“ versehen. Das soll wohl nicht signalisieren, dass sich Pollock in späteren Jahren von Marx abwandte. Aber Pollock entwickelte sie – mit der Frankfurter Schule – weiter, aktualisierte und modifizierte sie. Bedeutend sind vor allem Pollocks Analysen und Thesen zum Staatskapitalismus. Er hat schon früh die Meinung vertreten, dass es der Sowjetunion nicht gelungen sei, eine sozialistische Wirtschaft zu entwickeln und dass sie trotz einiger Spezifika, die sie von den westlichen Ländern unterscheide, als Staatskapitalismus zu bezeichnen sei. Gleichzeitig prognostizierte er, dass es den westlichen Industriestaaten gelinge, die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft durch staatliche Eingriffe aufzufangen und zu kontrollieren. Diese Überlegungen verdichtete Pollock 1941 zu einer allgemeinen Theorie des Staatskapitalismus. Mit dem Staatskapitalismus beschrieb er eine neue gesellschaftliche Ordnung, die sich sowohl vom (monopolistischen) Privatkapitalismus als auch von einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft erheblich unterscheide. Vier Charakteristika nennt Pollock, die er unter den Begriff „Staatskapitalismus“ subsumiert: Nämlich, „dass der Staatskapitalismus der Nachfolger des Privatkapitalismus ist, dass der Staat wichtige Funktionen des privaten Kapitalisten übernimmt, dass Profitinteressen noch eine wichtige Rolle spielen und dass es kein Sozialismus ist“.[2] Mit dem Attribut „Staatskapitalismus“ belegte Pollock sowohl die Ökonomie des nationalsozialistischen Deutschland wie auch die sowjetische Wirtschaft, gleichzeitig ging er davon aus, dass Staatskapitalismus sowohl in einer totalitären wie in einer demokratischen Form denkbar ist. Die Schriften zum Staatskapitalismus sollen jedoch erst im dritten Band der gesammelten Schriften erscheinen; der zweite Band wird Schriften zu Krise und Planwirtschaft enthalten, und im vierten Band sollen Pollocks Schriften nach 1945 publiziert werden. „Marxistische Schriften“ nennt der Herausgeber Pollocks Werke des vorliegenden ersten Bandes deshalb zu Recht, weil das Frühwerk von Pollock Beiträge zur politischen Ökonomie enthält, welche die Marx’sche Theorie aufgreifen, explizieren oder verteidigen. Versammelt sind hier zwei Beiträge zur Geldtheorie, einer zu Sozialismus und Landwirtschaft und eine kritische Auseinandersetzung mit Sombarts „Widerlegung“ des Marxismus. Geldtheorie war das Thema der Dissertation von Pollock, der in Frankfurt Volkswirtschaft studiert hatte, die aber zwischen den Kriegen dort genauso dogmatisch und beschränkt auf die klassische Nationalökonomie gelehrt wurde wie heute in ganz Deutschland. Pollock war deshalb froh, dass er mit Siegfried Budge einen Dozenten gefunden hatte, der sich auch mit der Kritik der politischen Ökonomie beschäftigte und bei dem er 1923 seine Arbeit „Zur Geldtheorie von Karl Marx“ einreichen konnte. Pollock war schon vor dem Ersten Weltkrieg mit Max Horkheimer befreundet. Anders als Letzterer ließ er sich jedoch von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken und wurde 1916 eingezogen. Das Kriegsende, die Räterepublik und ihre brutale Niederschlagung erlebten Pollack und Horkheimer in München, was eine kritische Haltung beförderte, die ihr Leben prägen sollte. 1924 wurde das Institut für Sozialforschung gegründet. Grünberg wurde erster Institutsdirektor, Pollock und Richard Sorge wurden seine Assistenten. 1929 veröffentlichte Pollock seine Habilitation über „Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917–1927“. Pollock war im Institut administrativer Direktor, dem es gelang, das Vermögen des Instituts vor den Nazis in Sicherheit zu bringen, womit er die Fortexistenz im Exil ermöglichte. Mit dem Institut migrierte auch Pollock in die USA und kam mit Horkheimer 1950 zurück nach Frankfurt. Pollocks Schriften zur Geldtheorie lesen sich als eine Rekonstruktion der Marx’schen Überlegungen zur Bedeutung und Eigenschaft des Geldes in der kapitalistischen Ökonomie. Wie Marx geht Pollock von der einfachen Warenproduktion aus, dem Tausch von Gebrauchswerten, und definiert das Geld folglich als „diejenige Ware, welche als allgemeines Äquivalent fungiert“ (S. 92). Aber bei dieser Grundbestimmung des Geldes als Tauschmittel könne man nicht stehen bleiben, denn „infolge der Eigentümlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise […] erfahren alle bisher besprochenen Geldfunktionen in ihr wesentliche Veränderungen“ (S. 88). Pollock beschreibt natürlich nicht die Eigentümlichkeiten des Geldes im heutigen Kasinokapitalismus. Vielmehr setzt er sich mit damals gängigen Theorien der Volkswirtschaftslehre zum Geld − z. B. mit den Ursachen der Inflation – auseinander. Diese findet er in der übermäßigen Goldproduktion (S. 102). Nun wurde der Geldwert von der Bindung an das Gold durch die USA 1971 aufgekündigt. Pollocks Überlegungen sind insofern nicht aktuell, aber gerade weil er „einfachere Verhältnisse“ vor Augen hat, werden die grundlegenden Mechanismen verständlich, müssen allerdings für die Gegenwart neu gedacht werden. Pollocks Auseinandersetzung mit Sombart beschäftigt sich mit dessen Schrift „Der proletarische Sozialismus (Marxismus)“ von 1924. Sombart (1863– 1941) hat sich im Laufe seines Lebens von einem sozialistischen Gedanken durchaus verbundenen Soziologen wegentwickelt zu einem Anhänger der Hitlerei. Seine Kritik des „proletarischen Sozialismus“ ist ein Schritt auf diesem Weg. Pollocks Auseinandersetzung mit Sombart gerät folglich zu einer Polemik, wie an dieser Passage deutlich wird: „Die spezielle Form, in der Sombart seine Anschauungen vorträgt, ist diejenige Welt-, Staats- und Gesellschaftsauffassung, die man gewöhnlich die romantische nennt. Vor 100 Jahren hat sie als Waffe gedient gegen die Aufklärung, heute, in einer vielfach ähnlichen Situation, wird sie ins Feld geführt gegen deren ‚legitimen Erben‘, den Sozialismus“ (S. 191). Pollock lieferte damit eine Einschätzung der faschistischen Ideologie und ihrer historischen Vordenker, die später z. B. auch von seinem Institutskollegen Franz Neumann ähnlich gesehen wurde. Beide hatten dennoch in der Faschismusanalyse deutliche Differenzen; Neumann teilte die Analyse des Staatskapitalismus nicht. Insgesamt bietet dieser erste Band von Pollocks Schriften einen interessanten Einblick in die Anfänge einer unorthodoxen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung des Marxismus, wie er für die ältere Kritische Theorie charakteristisch ist. Und diese Einblicke sind keineswegs nur für Experten der Theoriegeschichte interessant, sondern als Teil des kritischen Denkens von Relevanz für eben dieses in seiner aktuellen Form.

Friedrich Pollock: Marxistische Schriften. Gesammelte Schriften Bd. 1, hrsg. von Philipp Lenhard, ça ira-Verlag, Freiburg 2018, 362 S.

1 In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 8 (1994), H. 1, S. 750–756.
2 Friedrich Pollock: Staatskapitalismus, in: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hrsg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939–1942, Frankfurt a.  M. 1984, S. 81–110, hier S. 82.

Aus: Arbeit – Bewegung – Geschichte 2019/III