Andreas Giesbert: Rezension zu »Geistige und körperliche Arbeit«
Andreas Giesbert
Rezension zu Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit
Alfred Sohn-Rethel ist ein eigentümlicher Denker. Folgen wir seiner eigenen Einschätzung, hat der „academic outsider“ (S. 12) „sein intellektuelles Dasein über einer einzigen Frage veräußert“ (S. 973). Diese Frage ist der marxistische Nachvollzug „der Entstehung des abendländischen abstrahierenden Denkens“ (S. 973) oder präziser gesagt: das Anliegen nachzuweisen, dass „der Ursprung des reinen Denkens in der Warenform liegt“ (S. 928). Dazu nimmt Sohn-Rethel eine Erweiterung der Marx’schen Warenformproblematik vor, die sich durch eine originäre Verschränkung mit der Kant’schen Analyse des Transzendentalsubjektes auszeichnet.
Sohn-Rethel selbst weist diese frühe Intuition, dass sich das Transzendentalsubjekt in der Warenform finden lässt, als Motivation für sein ganzes, immerhin fast 70 Jahre andauerndes ökonomietheoretisches Denken aus. Die Arbeit an diesem Gedanken setzte 1920 mit einer „anderthalbjährigen Wort-für-Wort-Analyse der Marx’schen Warenanalyse“ (S. 187) ein und blieb bis zur dritten Auflage seines zum „Kultbuch“ (S. 13) avancierten Hauptwerks „Geistige und körperliche Arbeit“ (1989) prägend. Die Erstauflage dieses zentralen Werkes im Jahr 1970 war sicher nicht nur zum Erlangen einer Gastprofessur in Bremen hilfreich, sondern löste ein Interesse an Sohn-Rethels Werk aus, das lange ausgeblieben war. Dieses Interesse wurde mit tatkräftiger Unterstützung seiner Verleger bedient, die mit der ungewöhnlichen Ergänzung durch angehängte Manuskripte „eine Fülle vortäuschen, welche das Werk nicht einlöst“ (S. 15). Diese Veröffentlichungspraxis zusammen mit Sohn-Rethels Vorgehensweise, die eigenen Texte beständig umzuarbeiten, ergeben einen schwer überschaubaren Textkorpus. Konsequenterweise entschieden sich die Herausgeber daher im vorliegenden Band gegen einen Abgleich mit unveröffentlichten Manuskripten und gegen den Abdruck unveröffentlichter Texte. Dass das „ohne nennenswerte Verluste“ (S. 16 f.) gelungen ist, zeigt die Breite der versammelten Texte, deren Gravitationszentrum das titelgebende Hauptwerk „Geistige und körperliche Arbeit“ bildet. Auf Grundlage der ersten Ausgabe wurden dabei Änderungen der Ausgaben von 1973 oder 1989 im Apparat vermerkt, und bei grundlegend umgearbeiteten Kapiteln wurde sogar zu einem Parallelabdruck gegriffen. Das erlaubt einen Nachvollzug der Textentwicklung, ohne allzu große Abstriche in der Lesbarkeit zu machen.
Die textkritische Fassung des Hauptwerks allein ist für die ernsthafte Auseinandersetzung mit Sohn-Rethel eine unschätzbare Hilfe. Daneben versammelt die Werkausgabe aber auch die bekannteren Arbeiten „Warenform und Denkform“ und „Das Geld, die bare Münze des Apriori“ sowie zahlreiche kleinere Arbeiten, Debattenbeiträge und autobiografische Zeugnisse. Diese weitaus weniger bekannten Texte würden ohne eine solche Ausgabe fraglos aus dem Blick geraten und stellen vielfältige Bezüge zu verwandten Problemkomplexen und zeitgenössischen Diskussionen her. Im Hintergrund dieser Texte steht die auf höchster theoretischer Ebene durchdrungene Problematik der Trennung von Kopf- und Handarbeit, die auch in politischer Hinsicht weitergedacht wird. Die im Taylorismus in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommende Verfügungsgewalt einer abgetrennten technischen Intelligenz über die körperliche Arbeit wird für Sohn-Rethel das Kernproblem des modernen Kapitalismus. Wiederkehrende Forderung ist dementsprechend eine Vereinigung von Hand- und Kopfarbeit, indem die Abspaltung der technischen Intelligenz zugunsten einer „Arbeiter-Technologie“ (S. 964) aufgehoben wird. Letztlich ist das Ziel der Übergang von einer Aneignungs- in eine Produktionsgesellschaft, was auf nicht weniger als einen „moderne[n] Kommunismus“ (S. 489) hinausläuft. Obwohl er konkrete Utopien vermeidet, greift Sohn-Rethel – anders als etwa die eng mit ihm in Verbindung stehende Kritische Theorie – auch auf mögliche Zukunftsperspektiven aus. So stellt Sohn-Rethel Überlegungen zur Zukunft einer sozialistischen Arbeit an, bei denen er zu einem unerwarteten Lob der erfüllenden, kreativen menschlichen Handarbeit gelangt. Trotz scharfer Kritik an „Robotern und blinden kybernetischen Verfahren“ (S. 970) vermeidet er eine simplifizierende Technikkritik, indem er eine anregende Unterscheidung zwischen Massengütern und individuellem, kulturellem Konsum vornimmt. Solche Überlegungen verbinden sich mit Beobachtungen zur Selbstorganisation der Arbeit. Hier wirft er auch Blicke auf konkrete Selbstorganisationsprojekte, womit jedoch auch Einschätzungen verbunden sind, die rückblickend irritieren müssen. So geht mit dieser Perspektive etwa ein ungetrübtes Vertrauen in die Entscheidungen der Arbeiterschaft einher. Dass die Verlagerung der Entscheidungsgewalt auf die Seite der Produzierenden nicht notwendig andere als ka
pitalistische Entscheidungen hervorbringt, dürften jedoch die zahlreichen gegenwärtigen Selbstständigkeitsmodelle zeigen, die durch Verwertungsdruck meist nur zu neuen Formen der Selbstausbeutung führen. Auch Sohn-Rethels Blick auf globale Entwicklungen muss skeptisch betrachtet werden. So will er Anfang der 1970er-Jahre in China einen von einer „genialen Führung“ (S. 496) vorangetriebenen Weg in eine „klassenlose Herrschaft der Produzentenschaft“ (S. 46) erblicken. Selbst solche später revidierten Anknüpfungen zeigen jedoch seinen angenehm offenen Versuch, die mitunter äußerst spröden theoretischen Überlegungen mit einer konkreten Perspektive zu vermitteln.
Während die politischen Einschätzungen anregend, aber oft nur über Umwege aktualisierbar sind, bleibt der theoretische Kern von Sohn-Rethels Werk weiterhin drängend. Sein Lebenswerk geht mit einzigartiger Persistenz dem Kernproblem des westlichen bzw. kritischen Marxismus seit Lukács’ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ nach: einer Erkenntnistheorie auf Grundlage der Warenformanalyse. Eine genetische Ableitung der Denkformen aus dem ökonomischen Sein ist für einen konsequent verstandenen Marxismus eine immer noch unumgängliche Aufgabe, da sie unmittelbar die theoretischen Grundlagen des historischen Materialismus betrifft. Nimmt man die Annahme einer Totalität der Warenform und den dialektischen Wahrheitsbegriff ernst, muss auch die „Bewußtseinsformation“ (S. 194) geschichtlich gefasst und auf ökonomischer Basis erklärt werden. Um diesen Anspruch einzulösen, geht SohnRethel an die Wurzeln der Genese des notwendig falschen Bewusstseins. Nicht einzelne Vorstellungen werden als ideologisch kritisiert, sondern das vermeintlich reine Denken selbst soll auf ökonomiekritischer Grundlage als historisch geworden ausgewiesen und somit kritisierbar werden. Das leistet Sohn-Rethels Werk in auch heute noch unerreichter Strenge und Schärfe.
Ob dieses anspruchsvolle Lebensanliegen gelungen ist, lässt sich nur nach intensivem Studium entscheiden. Die gesammelte Werkausgabe Sohn-Rethels ist dafür ein unschätzbares Hilfsmittel und ermöglicht, sein Denken auch jenseits der Haupttexte zu durchdringen. Die etwa 1000 Seiten des vorliegenden Bandes kreisen zwar um einen überschaubaren Themenkreis, erlauben es aber auch, Detailfragen nachzugehen und weniger bekannte Aspekte seines Denkens in den Blick zu nehmen. Die lohnenswerte Aufgabe einer Werkausgabe ist noch nicht abgeschlossen. Der noch fehlende dritte Band, der die im Exil verfassten Exposés zur materialistischen Erkenntniskritik versammelt, soll noch 2019 erscheinen, für 2020 ist eine umfangreiche Sohn-Rethel-Biografie von Mitherausgeber Carl Freytag geplant. Mit einer solchen Biografie und definitiven Werkausgabe ist eine intensive Auseinandersetzung mit Sohn-Rethels Denken einfacher als je zuvor. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst, denn auch mit dieser Hilfestellung sind die Dinge selbst schon „teuflisch genug in ihrer Schwierigkeit“ (S. 193).