Bruno Latour: Wer hat das Sagen? Kant in den Fängen von Marx. Rezension | Rezension der franzöischen Übersetzung von Das Geld, die bare Münze des Apriori von Francoise Willmann
Bruno Latour
Wer hat das Sagen? Kant in den Fängen von Marx
Das Marxsche Gespenst ist wieder aufgetaucht! Alfred Sohn-Rethel (1899-1990), der mit Benjamin und Adorno befreundet war, hat sich in den Kreisen materialistisch gesinnter Wissenschaftshistorikern mit einem merkwürdigen Buch, welches im Jahr 1970 erschien, einen Namen gemacht – Geistige und körperliche Arbeit. Damit brachte er damals die rationalistisch gesinnte Epistemologie noch ein wenig mehr ins Wanken.
Sohn-Rethel begnügte sich in der Tat nicht damit, die Geschichte der Wissenschaften mit der der Industrie, der Technik und der kapitalistischen Organisationsformen zu verbinden. Er wollte bis zu den Quellen des Abstraktionsbegriffs, gar der Mathematik gelangen, indem er Wirtschafts- und Geistesgeschichte miteinander verband.
Die Schrift Das Geld, die bare Münze des Apriori, welche 1976 erschien, greift dieses Argument in geraffter Form wieder auf, aber verfeinert es und führt es noch weiter. Erneut besteht das Ziel darin, den Ursprung der geistigen Funktionen auszumachen, die man unmöglich aus der Erfahrung gewinnen kann. Gestützt auf die Arbeiten von Alexandre Koyré, auf die griechische Geschichte wie natürlich auf Karl Marx, macht sich Sohn-Rethel auf die Suche nach dem höchst sozialen Wesen der apriorischen Kategorien. Nirgends lässt sich in der Erfahrung die Idee einer Ortsveränderung finden, die nicht mit irgendeiner anderen Veränderung einherginge. Unmöglich kann also die Physik – beispielsweise das Trägheitsprinzip – auf eine empirischen Grundlage gestellt werden. Soweit sind sich alle einig, Rationalisten wie Materialisten.
An dieser Stelle aber schlägt Sohn-Rethel einen eigenen Weg ein: »Das Produktionskapital und das ‘Erkenntnissubjekt’ der Naturwissenschaft sind, das eine im ökonomischen Felde, das andere im gedanklichen, Abstraktionen identischer Art.« Wo aber kann diese Art Abstraktion ihren Ursprung haben? Allein das Geld, die soziale Form par excellence, vermag im Geiste – sofern es diesen sozialen Ursprung verleugnet – die Vorstellung einer Ortsveränderung in einem leeren und gleichförmigen Raum ohne die geringste andere Veränderung hervorzurufen.
Die apriorischen Kategorien, die Kant sich ausdachte, sind mit anderen Worten die aposteriorischen Folgen der Gelderfahrung. Folgt nur der Entwicklung des Geldes von der Antike bis in die Nachkriegszeit, und ihr werden verstehen, warum der Geist sich dieses so exotischen Modus der »Ortsveränderung« bedienen konnte, um alle Dinge dieser Welt zu denken, vom parmenidischen Sein bis hin zur sowjetischen Besessenheit von einer totalen Automatisierung.
Obgleich der Autor vor dem Aufkommen einer Anthropologie des Formalismus schrieb, besteht der Reiz seines Arguments darin, sich einer Reduktion auf eine als Infrastruktur verstandenen Ökonomie zu verweigern. Eben dies wirft er übrigens Marx vor: »Obwohl das Kapital die Naturwissenschaft nicht geschaffen hat und die Naturwissenschaft nicht in Subsumtion unter das Kapital entsteht, sondern in voller systematischer Unabhängigkeit, erwachsen beide doch aus ein und derselben Wurzel, nämlich der ursprünglich gesellschaftlichen Realabstraktion der Warenform.«
Es ist merkwürdig, dass Sohn-Rethel – seinem ausgeprägten Frankfurter-Schule-Stil zum Trotz – nach nunmehr vierzig Jahren just zu jenem Moment in neuer Frische erscheint, da man zu verstehen sucht, inwiefern auch das abstrakteste Denken ökonomisch kontaminiert ist. Dies schärft uns auch der Titel dieser Schrift ein: Ein jeder Materialist muss die apriorischen Kategorien des Denkens in barem Geld begleichen.
Bruno Latour, Rezension der franzöischen Übersetzung von Das Geld, die bare Münze des Apriori von Francoise Willmann (La Tempte, 2017), in: Le Monde des livres, 1. Februar 2018