Franz Sz. Horváth: Wer zerriss die Fäden?
Franz Sz. Horváth
Wer zerriss die Fäden?
Nathan Weinstock über den Untergang des Judentums in der arabischen Welt
In der Einleitung zu seinem Buch Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor beklagt Nathan Weinstock das große Schweigen, das das Schicksal der rund 900.000 Juden betrifft, die innerhalb von zwei, drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verließen. Es ist der Untergang einer teilweise 2.000 Jahre alten Kultur, den Weinstock zum Thema seines Buchs macht, einer Kultur, die sich vom heutigen Marokko bis Afghanistan erstreckte. Weinstocks Ziel ist es, die „Leere“ in einem Diskurs über Israel, Palästina und die Juden zu füllen, in dem das Leid der Palästinenser offensiv und ideologisch vertreten wird, während die Entrechtung, die Verfolgung und die Vertreibung der Juden aus einer Reihe nordafrikanischer und asiatischer Länder nicht thematisiert werden.
Das schnelle und völlige Verschwinden dieser Juden wirft die Frage nach den Ursachen auf. Im Gegensatz zu dem geläufigen Narrativ, in dem jüdisches Leben in der islamischen Welt als ein zwar benachteiligtes, aber letztlich doch friedliches und harmonisches Leben erscheint, betont Weinstock den lediglich tolerierten Status der Juden, der stets Gefährdungen und judenfeindlichen Ausschreitungen ausgesetzt war. Das Fundament des Verhältnisses zwischen der jüdischen Minderheit und der muslimischen Mehrheit erblickt Weinstock im Status der „Dhimmitude“, den er als einen Zustand „struktureller Inferiorität“ bezeichnet. Gemäß islamischer Tradition waren Nicht-Muslime, die aber als „Schriftbesitzer“ galten (Juden, Christen, Sabäer, Zoroastrier), „dhimmi“, also „Schutzbefohlene“. Ihnen wurde ihr Glaube belassen, sie besaßen aber einen von den Muslimen abweichenden niedrigeren Status. Sie mussten eine besondere Steuer zahlen und waren auch sonst einer (regional und zeitlich unterschiedlich großen) Anzahl von diskriminierenden Vorschriften unterworfen. Diese bezogen sich auf das Tragen von besonderen Kleidungsstücken, die (erlaubte oder untersagte) Benutzung von bestimmten Tieren, den Wert ihrer Aussagen vor Gerichten und eine Reihe weiterer Aspekte des Alltags und des religiösen Lebens. Vor diesem Hintergrund erscheint Weinstock die Rede von der „Toleranz“ im jüdisch-muslimischen Verhältnis als problematisch. Er bestreitet zwar nicht, dass die Sicherung des Existenzrechts für die Nicht-Muslime in der muslimischen Welt des Mittelalters eine positive Errungenschaft war, behauptet jedoch, dass die Lage der dortigen Juden nicht besser als jene der europäischen war. Der Status der „Dhimmitude“ sei einer der steten Erniedrigung und Demütigung gewesen, bei dem das Anderssein der Juden immer die Negativfolie der „Normalen“ war, also der muslimischen Mehrheit. In der Darstellung Weinstocks trennt diesen Status des Tolerierten stets nur ein kleiner Schritt davon, dass Gewalt angewendet wird. Folgerichtig dominieren im Buch, egal ob sich der Leser gerade im Kapitel über die Türkei, den Irak, Marokko oder Tunesien befindet, die verbalen und physischen antijüdischen Exzesse, Erlasse, Pogrome und Ausschreitungen.
Eingeteilt ist Der zerrissene Faden in sieben Großkapitel über die nicht-arabische islamische Welt, den Maghreb, Ägypten, den „fruchtbaren Halbmond“ (Syrien, Libanon, Irak), die arabische Halbinsel und das „Heilige Land“. Das letzte, übergreifende Kapitel widmet sich der „Logik des Ausschlusses“. Ein umfangreicher Anhang beschließt das Werk, in dem noch einmal unter Bezug auf arabische Quellen auf den Dhimmi-Status, auf historische Kontroversen und die Protokolle der Weisen von Zion eingegangen wird. Eine Zeittafel der Pogrome in der arabischen Welt seit 1800 und eine vergleichende Tabelle des jüdischen Exodus aus den muslimischen Ländern zwischen 1945 und 2005 bilden ebenfalls einen Teil des Anhangs. Darauf folgt das Nachwort des Publizisten Tjark Kunstreich, in dem dieser unterstreicht, dass der „zerrissene Faden“ einer ist, der einst die jüdische mit der arabischen Welt verband.
Das Grundmuster der Kapitel lässt sich kurz wie folgt beschreiben: Weinstock geht auf das Erscheinen der ersten Juden in den betreffenden Regionen ein und beschreibt die Entstehung und Entwicklung der jüdischen Gemeinde vor dem Hintergrund ihrer Behandlung durch die muslimischen Machthaber, wobei diese zumeist als Eroberer im Gebiet auftraten. Immer wieder geht es dabei um die unterschiedlichen Herrscher, deren (mal liberale, mal repressive) Gesetzgebung sowie die Folgen derselben für die jüdische Bevölkerung. Die muslimische Gesellschaft tritt im Narrativ entweder als eine Gruppe auf, die bereits durch die Tatsache ihrer Anwesenheit Druck auf die Minderheit ausübt oder als antijüdisch eingestellte Gruppe, die ihre Ressentiments durch Gewaltexzesse und Pogrome ausdrückt. Selbst die ärmsten und am meisten erniedrigten Schichten konnten sich nämlich einer Sache sicher sein, so Weinstock: des inferioren Statusʼ der Juden, der unterhalb des ihrigen lag. Deshalb war die Aufhebung des Zustandes der „Dhimmitude“ im 19. und 20. Jahrhundert überall von Unmut und Ausschreitungen begleitet gewesen, zumal die Aufhebung auf westlichen Druck hin geschah. Der Einbruch der Moderne in die muslimische Welt war zudem oftmals eine jüdisch geprägte gewesen, so Weinstock; eine Erfahrung, die vielerorts als Erniedrigung angesehen wurde. Hass und Gewalt entluden sich daher in antijüdischen Pogromen lange vor und parallel zum Auftauchen des modernen Antisemitismus oder auch der nationalsozialistischen Ideologie. Denn diese Phänomene der Moderne stießen überall, so das Fazit und die Quintessenz von Weinstocks Buch, auf einen lange vorher und gut vorbereiteten Boden. Ob in Marokko, Libyen oder Tunesien, in Ägypten, im Libanon oder dem Irak: Überall kam es in der Mitte des 20. Jahrhunderts, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg „folgerichtig“ zu Pogromen und blutigen Ausschreitungen. Die doppelte Erfahrung der „Dhimmitude“ und der antijüdischen Pogrome vor und nach 1945 sowie vor und (mindestens genauso exzessiv) nach der Gründung des Staates Israel führten in den untersuchten Gebieten zur Dezimierung der jüdischen Gemeinden von etwa 886.000 (im Jahre 1945) auf etwa 4.500 Personen (im Jahr 2005).
Nathan Weinstocks Buch kommt zweifellos das große Verdienst zu, den Fokus auf die Geschichte einer jüdischen Gemeinschaft gelenkt zu haben, deren Geschichte vor allem im deutschen Sprachraum vernachlässigt wurde, sieht man etwa von den Veröffentlichungen Bernard Lewisʼ, die allerdings insgesamt viel nuancierter sind, oder (neuerdings) Georges Bensoussans ab. Dass hier ein wichtiges Thema angesprochen wurde, kann man auch daran erkennen, dass beispielsweise die (bezeichnenderweise englischsprachige) Kategorie „Anti-Jewish Pogroms By Muslims“ auf Wikipedia in ihrer unvollständigen Liste derzeit auf 29 Einträge kommt, die Pogrome und Ausschreitungen in beinahe allen arabischen Ländern darstellen, wovon sich die meisten vor der Gründung des Staates Israel ereigneten. Gerade die Bedeutung des Themas macht freilich eine Erörterung der problematischen Stellen in diesem Buch notwendig. Das Hauptnarrativ Weinstocks ist eine Leidens- und Niedergangsgeschichte, in der Juden überwiegend als Objekte, doch beinahe nie als handelnde Subjekte dargestellt werden. Zwar erfährt der Leser hie und da einiges über die ausgeübten Berufe, über Petitionen und über die Delegationen, die Abgaben und Steuern überbrachten. Dennoch bleiben die jüdischen Gemeinden insgesamt sehr farblos und ohne eine eigene Geschichte. Das Verschwinden der Juden in der arabischen Welt führt Weinstock monokausal auf die Unrechts- und Diskriminierungserfahrungen zurück. Doch bleibt unklar, ob es sich dabei um ein Korrelations- oder ein Kausalitätsverhältnis handelt. Denn der Autor zieht hierfür nur die antisemitischen Pushfaktoren heran, die zur Auswanderung der Juden nach Israel führten. Dass dabei auch Pullfaktoren mitgewirkt haben könnten, wie die Gründung des Staates Israel und dessen egalitären und nationalen Erlösungsversprechen (von den Diskriminierungserfahrungen), wird kaum berücksichtigt. Auch werden die antisemitischen Ausschreitungen von Muslimen stets nur mit Hass und antijüdischen Gefühlen in Verbindung gebracht. Dass wirtschaftliche Faktoren, Konkurrenz- und Sozialneid, gar interethnische Manipulationen von „ethnischen Unternehmern“ (R. Brubaker) seitens der Machthaber eine Rolle gespielt haben könnten, thematisiert der Verfasser zu selten und eher zwischen den Zeilen. Wichtig und zutreffend erscheint hingegen die Betonung der „Dhimmitude“ als eine mentale, psychologische Disposition, die ihre Spuren im Bewusstsein der jeweiligen Gruppe hinterlässt und letztlich die Frage aufwirft, inwiefern eine ständige Degradierung zum Menschen zweiter Klasse, was man als Angehöriger einer Minderheit ist, mit einem modernen Bewusstsein und dem modernen Konzept der Menschenwürde zu vereinbaren ist. Diese Frage in den Vordergrund gerückt zu haben, dafür gebührt dem Autor Anerkennung.
Aus: Literaturkritik, 2. Dezember 2019