Gregor-Sönke Schneider
Rezension zu Friedrich Pollock, Schriften zu Planwirtschaft und Krise
Bereits seit geraumer Zeit finden sich Gesamtausgaben der Protagonisten der Kritischen Theorie - Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal sowie Walter Benjamin - an verschiedenen Stellen publiziert. Nur im Falle Friedrich Pollocks, Mitbegründer und Co-Leiter des Instituts für Sozialforschung, musste man sich gedulden. 2018 begann die langersehnte Veröffentlichung der Gesammelten Schriften Friedrich Pollocks im ça ira-Verlag mit dem ersten Band »Marxistische Schriften« durch den Herausgeber Philipp Lenhard - einem ausgewiesenen Kenner der Arbeiten Pollocks. Nun ist Band 2 mit dem Titel »Schriften zu Planwirtschaft und Krise« erschienen, den Lenhard zusammen mit Johannes Gleixner herausgegeben hat. Zwischenzeitlich hat Lenhard zudem die erste und sehr lesenswerte Pollock-Biographie veröffentlicht, die mit der weit verbreiteten Vorstellung Pollocks eines hauptsächlich administrativ wirkenden Protagonisten des Instituts für Sozialforschung aufräumt. [1]
Band 2 der Gesammelten Schriften Pollocks umfasst die »Untersuchungen der sowjetischen Planwirtschaft und die Revision der marxistischen Krisentheorie« (7), worauf die Herausgeber mit dem Titel ihrer lesenswerten Einleitung hinweisen. So ist die 1929 unter dem damaligen Institutsleiter Carl Grünberg veröffentlichte Habilitationsschrift »Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927« abgedruckt. Ihr folgen die Aufsätze »Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung« und »Bemerkungen zur Wirtschaftskrise«, die 1932/1933 unter der Ägide Horkheimers in dem Publikationsorgan des Instituts - der berühmten »Zeitschrift für Sozialforschung« - publiziert wurden. Abgeschlossen wird der Band mit acht Rezensionen, die aus Grünbergs »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung«, der »Zeitschrift für Sozialforschung« sowie der »Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft« stammen. Die veröffentlichten Texte Pollocks datieren - mit Ausnahme zweier Rezensionen - aus den Jahren zwischen 1928 und 1933 und damit nicht nur aus der »Endphase der Weimarer Republik« (20), sondern aus der Übergangsphase des Instituts von der Grünberg- zur Horkheimer-Ära, in der die Entwicklung der Kritischen Theorie beginnen sollte.
Den Hauptteil des Bands nimmt Pollocks über 400-seitige Habilitationsschrift »Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927« ein, die vom Forschungsprofil der Grünberg-Ära zeugt, wo von Kritischer Theorie noch keine Rede war, worauf die Herausgeber in der Einleitung hinweisen. Auch wenn die Schrift noch unter der Institutsleitung Grünbergs entstand, so war in ihr bereits ein Grundmotiv der Kritischen Theorie angelegt: Laut Horkheimer - so in seinem Vorwort zu Martin Jays Pionierarbeit »Dialektische Phantasie« - stellte Pollocks Schrift »verglichen mit dem, was damals im offiziellen Universitätsbetrieb üblich war, etwas Neues dar. Uns ging es um eine Art von Forschung, für die es an der Universität in jenen Tagen keinen Platz gab« [2]. In seiner Arbeit untersuchte Pollock, »ob der russische Weg zum Kommunismus erfolgreich sein konnte oder nicht« (11) - und musste die Frage negativ bescheiden. Eine wesentliche Grundlage zur Erstellung der Arbeit stellte eine mehrwöchige Forschungsreise in die Sowjetunion dar: So weist Pollock im Vorwort auf die Unterstützung von einer Reihe verschiedener sowjetrussischer Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik durch Informationen und Materialien hin, lässt aber auch nicht die »wertvollsten Dienste« (35) des Instituts für Sozialforschung unerwähnt.
Pollocks Aufsatz »Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung« in der Eröffnungsausgabe der »Zeitschrift für Sozialforschung« verbindet die vorherigen Arbeiten mit neuen Überlegungen. Das programmatische erste Heft war der Beginn der Entwicklung der Kritischen Theorie unter Horkheimer am Institut für Sozialforschung - auch wenn sie ihre Bezeichnung erst später erhielt. Die »Bemerkungen zur Wirtschaftskrise«, mit denen Pollock 1933 nach der Flucht des Instituts nach Genf infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten das dritte Heft der »Zeitschrift für Sozialforschung« eröffnete, stellte eine »Auseinandersetzung mit den verschiedenen kursierenden Krisentheorien« (16) dar. Die Rezensionen zu einer Reihe ökonomischer Arbeiten - u. a. erschienen in der »Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft«, die eine der damaligen führenden Zeitschriften zur Nationalökonomie darstellte - geben einen Einblick in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs.
Die Habilitationsschrift Pollocks war bisher nur schwer zugänglich, da neben der originären Ausgabe von 1929 nur noch eine weitere von 1971 existiert, die beide lediglich antiquarisch erhältlich sind. Somit ist die Arbeit 50 Jahre nach der letzten Veröffentlichung nun wieder zugänglich. Ähnliches gilt für die Aufsätze, die zwar an mehreren Stellen veröffentlicht sind, was aber mehrere Jahrzehnte zurückreicht. Die Rezensionen aus den verschiedenen Fachzeitschriften lagen bisher einzeln und verstreut vor und sind erstmals zusammengestellt. Wie bereits im ersten Band der Gesammelten Schriften finden sich auch hier umfassende »Editorische Kommentare« der Herausgeber, die in geschlossener Form getrennt von den einzelnen Arbeiten folgen, was die Lektüre etwas umständlich macht. Jedoch zeugen die über 40 Seiten von inhaltlicher Tiefe und sind mehr als eine Ergänzung zu sehen, indem sie detailliert einen weiterführenden Blick in die historischen und inhaltlichen Hintergründe der Arbeiten Pollocks bieten.
Der vorliegende Band bietet Gelegenheit zur weiteren und umfassenden Auseinandersetzung mit Pollocks Arbeiten und der Kritischen Theorie, da einst verschüttgegangene Schriften nun wieder zugänglich sind. Der Band trägt entscheidend dazu bei, das bisherige Bild Pollocks in der Geschichte des Instituts für Sozialforschung zu korrigieren, indem die Herausgeber Vielfalt und Komplexität seiner inhaltlichen Arbeiten sichtbar machen. Band 2 der Gesammelten Schriften stellt eine gelungene Fortführung dar, da er eine weitere Schicht in der Entwicklung der kritischen Theorie freilegt.
Die in dem Band versammelten Arbeiten Pollocks können »werkimmanent als Übergang von den planwirtschaftlichen und krisentheoretischen Überlegungen zur Analyse des Nationalsozialismus und Antisemitismus eingeordnet werden« (20), so dass der nächste Band diese Arbeiten Pollocks enthalten wird. In Anbetracht der bisherigen Veröffentlichungen darf auch Band 3 der Gesammelten Schriften Pollocks mit Spannung und Freude erwartet werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Philipp Lenhard: Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule, Berlin 2019.
[2] Max Horkheimer: Vorwort [1971], in: Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923 - 1950, Frankfurt a. M. 1981, 9-10, hier 9.
Aus: sehepunkte, Ausgabe 21 (2021), Nr. 5