Florian Ruttner im Gespräch
Florian Ruttner im Gespräch
Hallo, schön, dass Du die Zeit gefunden hast, im Vorfeld der Veranstaltungsreihe ein Interview zu führen.
In Deinem Buch betonst Du, dass Edvard Beneš oft als ein Deutschen hassender tschechischer Nationalist abgestempelt wird. Unter Anderem deshalb wird er kaum als Kritiker und Gegner des Nationalsozialismus wahrgenommen. Ist Dein Versuch seiner kritischen Würdigung auch im Sinne der benjaminschen Thesen Über den Begriff der Geschichte zu verstehen? Geht es Dir ebenfalls darum, dass die tschechoslowakischen Opfer des Nationalsozialismus durch die vergessende Gleichmacherei nicht »ein zweites Mal erschlagen werden«?
Ja, so kann man das ausdrücken. Es geht dabei auch praktisch vor allem darum, anhand der Rolle, die Beneš in der deutschen Erinnerung zugeschrieben wird, auf eine Tendenz derselben hinzuweisen, die im Zweiten Weltkrieg nur noch Opfer eines nicht näher definierten Nationalismus sieht, der ganz allgemein eine Verirrung des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Die Deutschen als »Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung« hätten sich mit ihren Verfehlungen schon auseinandergesetzt, hätten ihre Lektion gelernt, jetzt wäre es an der Zeit, dass eben zum Beispiel die Tschechische Republik gleichziehe.
Vor diesem Hintergrund wollte ich zeigen, dass es sehr wohl Unterschiede im Verständnis von Staat und Nation gab, und dass gerade Beneš mit seiner Analyse des Nationalsozialismus dieser vereinfachten Sichtweise opponierte und darauf beharrte, dass die »Volksgemeinschaft« mehr war eine bloße Propagandaphrase, sondern durch die massenhafte Identifikation der Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus sehr real wurde. Beneš war es auch, der in Reden nach dem Zweiten Weltkrieg sehr früh genau vor den Versuchen einer »Wiedergutwerdung der Deutschen« warnte. All das macht ihn natürlich zu einem Hassobjekt.
Die nationale Gleichmacherei, die du hier ansprichst, findet sich ja auch in linksradikalen Debatten, seitdem man sich weitestgehend vom klassischen Antiimperialismus verabschiedet hat. Besonders deutlich wird es beispielsweise dann, wenn beim GegenStandPunkt kein Blatt mehr zwischen die deutsche und die israelische Nation und ihrem angeblichen »Imperialismus« zu passen scheint und jedes Streben nach Staatlichkeit – unabhängig der historischen Situation – als konterrevolutionär getadelt wird. Gerade die tschechoslowakische Situation rund um die beiden Weltkriege lässt sich so überhaupt nicht verstehen, oder?
Nein, auch das hat mit einem sehr schematischen Begriff von Nationalismus zu tun. Auch der Tschechoslowakischen Republik wurde seit ihrer Gründung »Imperialismus« vorgeworfen, da sie angeblich das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« ignorieren würde.
Es stimmt natürlich, dass auch die Tschechoslowakische Republik, wie jeder andere Staat, ein durchs Gewaltmonopol abgesicherter Herrschaftszusammenhang war, und es wäre ebenso schematisch, die Welt einfach in »fortschrittliche Nationen« und andere einzuteilen. Aber einer zentralen Strömung im tschechoslowaksichen Nationalismus, die eben von Tomáš Garrigue Masaryk, dem Staatsgründer, und Beneš vertreten wurde, war die Problematik zwischen Individuum und Staat zumindest bewusst, auch wenn sie sie natürlich nicht lösen konnten. Dieses Bewusstsein ermöglichte es ihnen aber, sehr deutlich zu sehen, dass es in dieser Hinsicht Schlimmeres als den bürgerlichen Staat geben kann. Hier kommt dann wieder Benešs Kritik am Nationalsozialismus ins Spiel.
Wie würdest Du, daran anknüpfend, den tschechischen Staatsbegriff in der gegenwärtigen Europapolitik einschätzen?
Ich bin mir nicht sicher, inwieweit sich aus den obigen Betrachtungen so einfach ein aktueller Bezug ableiten lässt. Immerhin entkam die tschechoslowakische Gesellschaft trotz der obengenannten Strömungen der verhängnisvollen Dynamik des 20. Jahrhunderts nicht: Nach dem Münchner Diktat wurde 1938 die durchaus autoritäre Zweite Republik gegründet, in der sich andere Strömungen des tschechischen Nationalismus durchsetzen konnten, danach wurden der faschistische slowakische Marionettenstaat und das Protektorat eingerichtet. Nach dem kurzen demokratischen Zwischenspiel 1945-1948 kam dann der Stalinismus. Das hat die Gesellschaft geprägt. Es gab zwar nach 1989 eine gewisse Renaissance der Ersten Republik, und es gibt heute eine gewisse Nostalgie dieser gegenüber, die Frage wäre aber, wie geschichtsmächtig das ist. Immerhin gab es die demokratische Erste Republik als historischen Orientierungspunkt nach 1989, anders als z. B. in Kroatien und in der Slowakei, wo ja nach die jeweiligen faschistischen Marionettenstaaten als historischer Referenzpunkt für die erste Eigenstaatlichkeit herangezogen wurden.
Aber über weite Strecken ist heute auch die Tschechische Republik ein Staat im deutsch dominierten Europa und damit umgehen muss. Dazu zählt auch, dass die Tschechische Republik Mitglied der Visegradgruppe ist, wenn sie auch sicher der liberalste Staat in dieser ist. Ein Erbe der Ersten Republik und Masaryks ist sicher noch, dass der Antisemitismus auf vergleichsweise niedrigem Niveau ist und dass es eine recht breite Sympathie für Israel gibt.
Eine wirklich abschließende Antwort kann ich, befürchte ich, auf die Frage nicht geben.
Du machst die Unterschiede im Staatsbegriff an der Rolle des Individuums fest und verweist auf die Sokol-Bewegung, die Du im Unterschied zu Turnvater Jahn und seinen Kameraden abgrenzt. Kannst Du ausführen, worum es Dir da geht?
Hier geht es wieder um den abstrakten Begriff des Nationalismus. Es ist mir immer sauer aufgestoßen, wenn ich in diversen deutschsprachigen historischen Abhandlungen die Parallelisierung gelesen habe, dass beide nationalistische Bewegungen eben ihre Turnerbünde gehabt hätten, ganz im Sinne der Erzählung, dass eben alle ihre nationalistischen Verirrungen gehabt hätten. Der Unterschied zwischen der völkischen Tradition, bei der das Kollektiv, und einer republikanischen, die sich – wie immer problematisch – auf das Individuum bezieht, geht dabei unter. Ganz plakativ lässt sich der Unterschied aber daran festmachen, wenn man sich die verschiedenen Turnhallen ansieht. Ich komme aus Oberösterreich, dort gab es in den 90ern eine Diskussion darüber, ob es denn nicht ein wenig problematisch wäre, dass an der Jahnturhalle in Ried im Innkreis vier »F« (für das Motto der Jahnturner »Frisch, fromm, fröhlich, frei«) in Hakenkreuzform angeordnet prangten. Der Schmuck hielt sich gegen als Denkmalstürmer verunglimpfte Kritiker bis Anfang der 2000er. An vielen Sokolturnhallen hingegen ist das Motto der französischen Revolution zu finden: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Bei aller Kritik, die man auch an diesen Begriffen üben kann, macht das doch einen immensen Unterschied aus. Das Jahnsche Motto richtet das Individuum zu, es soll aktiv (»frisch«), autoritätshörig (»fromm«), kein sich Gedanken machender Sonderling (»fröhlich«) sein. Von »frei« bleibt dann wohl nur noch eine verinnerlichte Freiheit im gegebenen Rahmen übrig. Bei den republikanischen Werten steht die Freiheit nicht zufällig an erster Stelle, und sie verweisen mit der Gleichheit und der Brüderlichkeit auch auf eine gewisse Universalität. Auch allein dadurch, dass es sich nicht um Adjektive handelt, die eine bestimmte Vorstellung ausdrücken, wie der Einzelne sein soll, gewinnt das Individuum.
Die Gefolgsleute von Turnvater Jahn gingen in entschiedene Opposition zum sich langsam verbreitenden Fußball, der gerade bei der jüdischen Bohème, die vom Turnen ausgeschlossen wurde, sehr beliebt war. In der Ablehnung des Sports der Industrialisierung, der aus allen Feldspielern rechtlich gleichgestellte Individuen im Wettkampf macht – was laut Detlev Claussen den Juden im Kaiserreich als gelebte Utopie erscheinen musste –, findet sich das ideologische Moment des von Dir skizzierten völkischen Nationalismus wieder. Welches Verhältnis hatte die tschechische Sokol-Bewegung zum Fußball?
Ich bin jetzt kein Sportexperte, aber was ich davon weiß, war die Situation beim Sokol da doch zumindest ambivalenter: Einerseits dürfte es schon auch Vorbehalte gegen das Fußballspielen gegeben haben, andererseits wurde eines der ersten Regelbücher auf Tschechisch von Josef Klenka, einem Sokolfunktionär veröffentlicht. Es gibt auch Photos des jungen Beneš, die ihn im Fußballdress (Slavia Praha) zeigen.
Dann begeben wir uns besser wieder in ein Terrain auf dem du dich mehr zu Hause fühlst als beim Sport: Peter Hacks nimmt Turnvater Jahn als Vertreter der romantischen Strömung im deutschen Bürgertum wahr, die sich durchsetzte, die aber – wie Du in deiner Schlussbemerkung betonst – nicht die einzige war. Auf der anderen Seite steht die klassische Strömung, zu der Hacks neben Hegel und Goethe auch Jahns bonapartistischen Kontrahenten Saul Ascher zählt. Genau an diese Strömung versuchte Walter Benjamin mit seinem Werk Deutsche Menschen zu erinnern. Ist deren Scheitern der manifeste Beginn des deutschen Sonderwegs, an dem Beneš in seinen theoretischen Konzeptionen trotz seiner Begeisterung für die deutsche Philosophie festhält?
Es war auch für mich interessant, einmal einen genaueren Blick auf Ascher zu werfen, den man ja sonst wenn überhaupt deshalb kennt, weil sein Buch gegen die Germanomanie, wie er die frühe völkische Bewegung bezeichnete, beim Wartburgfest verbrannt wurde. Manche der in diesem Buch formulierten Gedanken haben auch heute noch Aktualität. Aber man muss vorsichtig sein, daraus nicht erst recht wieder ein »anderes Deutschland« konstruieren zu wollen, was ja auch die Gefahr bei Benjamins Buch ist, das 1936 erschien.
Das zeigt sich auch in der Entwicklung Beneš, der ja zunächst auf dieses »andere Deutschland« baut, dann aber im Exil sieht, dass selbst die böhmisch-deutschen Sozialdemokraten keineswegs so immun gegen völkische Gedanken sind, wie er angenommen hat.
Genau darin liegt dann ja auch die Grenze von Peter Hacks, der als DDR-Schriftsteller auf Ascher als Bezugspunkt für sein »anderes Deutschland« nimmt. Wie entgeht man dieser Konstruktion, ohne die Opfer der Geschichte dem Vergessen anheim fallen zu lassen?
Da würde ich sagen, dass der Unterschied darin liegt, ob man darauf eine positive Identität bilden und eine Tradition gründen will, wozu Hacks als Vertreter des »anderen Deutschlands« neigt. Dass alles hätte anders kommen können, dass die Geschichte offen war kann man doch auch zeigen, ohne das gleich wieder positiv zu wenden. Man muss sich ja nur vor Augen halten, wie es dann wirklich gekommen ist.
Jahn warf der (oftmals bonapartistischen) klassischen Strömung immer wieder vor, die eigene Nation an die fremde Herrschaft zu verraten. Ein Vorwurf, den auch die mit Beneš in Kontakt stehende Fight For Freedom-Gruppe regelmäßig von Seiten des sozialdemokratischen Exils zu hören bekam. Ist das Wohl der mythischen Nation über die eigenen (politischen) Überzeugung stellen nicht das treffendste Bild des völkisch-deutschen Nationalismus, der nie Parteien kannte?
Gerade die Geschichte der Mehrheit der böhmisch-deutschen Sozialdemokratie im Exil, die ich in dem Buch nachzeichne, ist genau dafür ein Beispiel: Sie konnte sich nicht dazu durchringen, sich eindeutig auf die Seite der Tschechoslowakischen Republik zu stellen, sondern sie wollte Gegenleistungen für die eigene Volksgruppe herausschlagen. Dafür wurde sogar das Münchner Diktat als Verhandlungsbasis herangezogen.
Die Minderheit der Sozialdemokratie, die sich recht deutlich gegen diese völkische Politik wandte, geriet dann nach 1945 fast in Vergessenheit, eine politische Karriere in der BRD machte Wenzel Jaksch, der Wortführer der Mehrheitsfraktion, auch, weil er es schaffte, sich als Vertreter eines »anderen Deutschlands« darzustellen, der sich gegen den blinden Nationalismus (den von Beneš) stellte, sondern auch, weil er Beispiel eines deutschen Opfers fungieren konnte. Damit sind wir wieder bei dem Thema der ersten Frage angelangt.
Vielen Dank für Deine Zeit.
Das Interview führte antideutsch.org.