Jörg Auberg: Im Wald der toten Worte

Jörg Auberg

Im toten Wald der Worte

Thorsten Fuchshuber demaskiert sich in seiner »Theorie der Bandenherrschaft« als Sprachrohr der Herrschaft

 

Im US-amerikanischen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff »Racket« eine verschworene Interessengemeinschaft, die ihre Partikularziele auf Kosten der Allgemeinheit mit kriminellen Mitteln verfolgt. Bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der Individualist John Dos Passos, der in Zeiten der industriellen und bürokratischen »Kollektivierung« in Europa und der Sowjetunion das Ideal des vorindustriellen spanischen Anarchismus hochhielt, sich über den »Mittelklasse-Kommunismus« der Literaten in der »Red Decade« beklagt, der für ihn die Funktion eines Rackets einnahm. In den 1940er Jahren geriet das »labor racketeering« der US-amerikanischen Gewerkschaften in die Kritik, wobei es in erster Linie um den Versuch von Gewerkschaftsfunktionären ging, Politik und Wirtschaft im Sinne ihrer Interessen zu steuern. In seinem Buch The New Men of Power (1948) beschrieb der Soziologe C. Wright Mills das »labor racket« als politische Maschine, die über Geld, Schutz und Arbeitsstellen ihrer Klientel sowohl Aus- als auch Einkommen sicherte. In Mills Augen wurden »Arbeiterführer« zunehmend zu »Räuberbaronen«, die den »Abenteuerkapitalismus« nicht abschaffen wollten, sondern von ihm profitierten. In diesem »Verteilungsspiel« hatte schließlich auch der Gangster die »kreative« Rolle des Geschäftsmannes in den lokalen urbanen Industrien usurpiert. Diese Entwicklung bildete auch Dos Passos in seinen großen US-amerikanischen Panoramen – von der USA-Trilogie (1938) bis zu Midcentury (1961) und späteren Werken – ab. Das Idealbild war der individualistische Wanderarbeiter Mac, der zu den »Wobblies« gehörte und irgendwann in den amerikanischen Landschaften verschwand. Während in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts die revolutionär-syndikalistisch gesinnte Gewerkschaft das Verhältnis zwischen Individuum und Organisation austarierte, übernahm in späteren Jahren immer mehr die Organisation die Herrschaft über den Einzelnen. Die »relative Freiheit« des Wanderarbeiters verwandelte sich in die Einordnung des taxifahrenden Tagelöhners in die urbane Maschine, für den romantische Hobo- und Revolutionsgeschichten keinerlei Bedeutung mehr besitzen. Aus einer Gegenwelt entwickelte sich eine Parallelwelt: An die Stelle der Utopie der »Brüderlichkeit« setzte sich eine Ordnung der Unterdrückung und Herrschaft.

Auch in der Populärkultur der 1940er Jahre spiegelte sich die kritische Diskussion der Rackets wider, vor allem in gesellschaftskritischen Filmen der »Schwarzen Serie«, die unter dem Etikett »film gris« (wie es Thom Andersen in seinem bahnbrechenden Essay »Red Hollywood« beschrieb) geführt werden. In dem Boxerfilm Body and Soul (1947) porträtierten der Regisseur Robert Rossen und der Drehbuchautor Abraham Polonsky eine urbane Gesellschaft im Würgegriff von Korruption und Profitmaximierung. Die Rackets reduzieren die menschliche Existenz auf das blanke Spiel von Addition und Subtraktion und erwarten als Gegenleistung für das Überleben unter den gegebenen Verhältnissen die völlige Unterwerfung. Um den Rackets zu entgehen, muss der von John Garfield gespielte Protagonist Charley Daniels zum Äußersten bereit sein. »What are you going to do? Kill me?«, fragt er am Ende rhetorisch. »Everybody dies.«Im nachfolgenden Film Force of Evil (der auf Ira Wolferts Roman Tucker’s People beruhte) arbeitete Polonsky das Racket-Thema am Beispiel des Glücksspiels als »Autopsie des Kapitalismus« heraus, wobei die kriminellen Machenschaften eher ein Bestandteil des räuberischen Charakters der ökonomischen Struktur denn eine individuelle Aberration darstellten. Am Ende war es kein Zufall, dass linke Intellektuelle und Künstler wie Polonsky, Rossen und Garfield, die im jüdischen Immigrantenmilieu New Yorks aufgewachsen waren, in der »McCarthy-Ära« als »Un-Amerikaner« gebrandmarkt wurden, wobei Antikommunismus und Antisemitismus ineinander spielten.

Vor diesem Hintergrund entwickelten die emigrierten Sozialwissenschaftler und Philosophen der »Frankfurter Schule« unter Leitung Max Horkheimers die Komponenten einer kritischen Theorie der Rackets, die später in der von Horkheimer und Theodor W. Adorno konzipierten Dialektik der Aufklärung (1947) aufgenommen wurden. Wie Thomas Wheatland in seiner Studie The Frankfurt School in Exile (2009) beschrieb, kamen die deutschen Intellektuellen, die an der New Yorker Columbia University Unterschlupf gefunden hatten, in Kontakt mit den New Yorker Intellektuellen, die sich um die Zeitschrift Partisan Review scharten. Zu Beginn der 1940er Jahre wurde dort und in anderen linken Publikationen der Komplex Faschismus, Stalinismus und »bürokratischer Kollektivismus« diskutiert, wobei diese Diskussion in der englischsprachigen Ausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung (die 1941 unter dem Titel Studies in Philosophy and Social Science erschien) vor allem hinsichtlich der trotzkistisch geprägten Theorien der »Managerrevolution« von James Burnham und des »bürokrarischen Kollektivismus« von Bruno Rizzi sehr kritisch aufgenommen wurde.

Für Horkheimer war das »Racket« die »Grundform der Herrschaft«, deren Theorie er in Entwürfen und kurzen Aufsätzen wie »Die Rackets und der Geist« (1939-42) und »Zur Soziologie der Klassenverhältnisse« (1943) entwickelte und an zentralen Stellen der Dialektik der Aufklärung anriss. »Die Gesellschaft ist eine von Desperaten und daher die Beute von Rackets«, heißt es im Kapitel über die Kulturindustrie. Während hier Rackets als partikularistische Interessenorganisationen aufgefasst werden, verliert der Begriff an anderen Stellen (wo beispielsweise vom »Sumpf der kleinen Rackets« oder vom »Massenracket in der Natur« die Rede ist) seine eindeutige Konnotation. Eine explizite »Theorie der Rackets« arbeitete Horkheimer nie aus, obgleich er später in Gesprächsnotizen seines Freundes Friedrich Pollock, der »grauen Eminenz der Frankfurter Schule« (wie ihn Philipp Lenhard in einer jüngst erschienen Biografie bezeichnet), solch eine noch einmal unter den veränderten Verhältnissen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges skizzierte: »Der Trend geht überall zu einer Vermehrung und Koordinierung der Rackets.«

Dass Horkheimer diese »Theorie der Rackets« nie konkret und dezidiert ausführte, lag vermutlich daran, dass maßgebliche Mitglieder des Instituts für Sozialforschung wie Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse diesem Konzept sehr kritisch gegenüberstanden, und selbst Horkheimers Co-Autor Adorno schien dieses Modell – auch wenn er es in den 1940er Jahren in seinen »Reflexionen zur Klassentheorie« übernahm – fragwürdig. »Wenn wirklich, wie eine zeitgenössische Theorie lehrt«, schrieb er in Minima Moralia, »die Gesellschaft eine von Rackets ist, dann ist deren treuestes Modell gerade das Gegenteil des Kollektivs, nämlich das Individuum als Monade.« In dieser Einschätzung traf sich Adorno mit Polonsky.

Wie Gunzelin Schmid Noerr – neben Alfred Schmidt einer beiden Herausgeber der Horkheimer-Schriften im Verlag S. Fischer – schrieb, war der Ausgangspunkt der Rackettheorie »eine Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft als eines Konglomerats organisierter Gruppen unter der Leitung bürokratischer oder quasibürokratischer Eliten.« In erster Linie geht es um die Durchsetzung von Partikularinteressen, Manipulation und Machterhaltung. Die Zwiespältigkeit der Theorie liegt in der »Überspannung« der Verhältnisse, die vom ökonomischen Sektor in den politischen verschoben werden, wobei immer ein verschwörungstheoretischer Unterton mitschwingt. »Nach dem Bilde der manifesten Usurpation, die von den einträchtigen Führern und Arbeit heute verübt wird«, schrieb Adorno in seiner »linksradikalen« Phase 1942, sei die Geschichte nun »die Geschichte von Bandenkämpfen, Gangs und Rackets«.

Auf dieser Linie, obwohl sie die Rackettheorie auf kriminelle Milieus verengt, marschiert der im Milieu der »Antideutschen« agierende Philosoph Thorsten Fuchshuber, dessen Dissertation unter dem Titel Rackets: Kritische Theorie der Bandenherrschaft veröffentlicht wurde. Dabei verspricht der Titel jedoch mehr, als das Buch einzuhalten vermag. Fuchshuber ist nicht mehr als der hagiografische Imitator der Thesen Horkheimers, auch wenn er sich als philosophisch gebildeter, situationistisch ausgebildeter Epigone im Zirkus der antideutschen Artisten präsentieren möchte. Bereits zu Anfang führt er sich als FlickFlack-Künstler in der Manege mit dem Hinweis ein, dass Horkheimer »diesen aus der amerikanischen Soziologie stammenden Ausdruck« – RACKET – entwendet habe, »um ihn für eigene sozialphilosophische Überlegungen zu nutzen«. In folgenden Darbietungen lobt der Autor Elia Kazans Denunziationsdrama On the Waterfront als »cineastisches Denkmal« oder ereifert sich über die »erpresserische Gewerkschaftspraxis«. Vor allem weiß er im Kopf Horkheimers herumzuspazieren: »Wie sich zeigen wird«, schwadroniert er, »sind […] viele der wesentlichen subjekttheoretischen Motive der Racket-Theorie schon um das Jahr 1938 im Denken von Horkheimer vereint.«

Im Jargon einer imaginären Opposition zur herrschenden Gesellschaftstheorie bläht Fuchshuber seine Theorie der Bandenherrschaft in einer zum blanken, klopfartigen, ausdruckslosen Zeichensystem degradierten Sprache auf, die in einem Miasma von zweitausend Anmerkungen und Fußnoten auf dem akademischen Schafott verendet. »Die Rackets als gesellschaftliches Strukturprinzip fungieren als Organisationsformen aggressiver Partikularität innerhalb einer Totalität, in der tendenziell allein die Wertform als Vermittlungsinstanz bleibt, einer Gesellschaft also, die sich zunehmend als total vergesellschaftet erweist und begrifflich mit der philosophischen Vorstellung von absoluter Identität konvergiert.«

Solche unfreiwilligen Parodien des akademischen Jargons durchziehen Fuchshubers Buch, der sich mit seiner »bestimmten Negation« auf dem »Strahl der Erkenntnis« wähnt. Die Rackets als Verkörperung des Bösen am Rande der Gesellschaft des Liberalismus wandern im postbürgerlichen Zeitalter ins Zentrum, um vollends die Macht zu übernehmen. Die »Instanzen des Rackets« werden von »Agenturen des Kollektivs« übernommen, die auf den Ruinen des beschädigten und schließlich eliminierten Subjekts die totale Herrschaft errichten. »Die Racket-Theorie ist die Theorie der nachbürgerlichen Gesellschaft«, dekretiert Fuchshuber, unter dessen starren Augen (als gehörten sie zu einer späten Inkarnation von Doktor T. J. Eckleburg) die Welt zu einer grauen Aschelandschaft der Rackets vom Iran über Russland bis zu zerstückelten Stammesterritorien marodierender »Warlords« verschwimmt. Das ganze Projekt firmiert unter dem Begriff einer »kritischen Gesellschaftstheorie«, welche die Realität ihren ideologischen Vorgaben anpasst.

In seinen Ausführungen folgt Fuchshuber dem antideutschen Stichwortgeber Wolfgang Pohrt, der in seinem Buch Brothers in Crime (1997) in selbstproklamierter Tradition der »Kritischen Theorie« Auskunft über die »Herkunft von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets und Gangs« erteilen wollte, wobei es jedoch in erster Linie um die Darlegung seiner im deutschen Provinzialismus einbetonierten Weltsicht ging. Eine kritische Analyse der realen Verhältnisse findet nicht statt. Überall sind Rackets am Werk; allenthalben ereignen sich Verschwörungen gegen den »kritischen Geist«, den allein die Illuminati in sich tragen. Bereits Hannah Arendt hatte in der Diskussion über Hans Magnus Enzensbergers Essayband Politik und Verbrechen (1964) insistiert, dass das fehlende Verständnis der Deutschen für angelsächsische Traditionen und die amerikanische Realität eine »alte Geschichte« sei. Dieses Manko wirkt jedoch bis heute ins Milieu der »Antideutschen«, die sich wie die rechthaberischen Todeszwerge in William Burroughs Nova Express aufführen.

»In der wahren Idee der Demokratie, die in den Massen ein verdrängtes, unterirdisches Dasein führt, ist die Ahnung einer vom Racket freien Gesellschaft nie ganz erloschen«, schrieb Horkheimer in seinem Text »Die Rackets und der Geist«. Diesen oppositionellen Geist findet man bei Fuchshuber nicht. Der akademische »Kritiker« des Autoritarismus reflektiert den Zustand, den er zu kritisieren vorgibt, negativ – nicht zuletzt in seiner akademischen Zurichtung der Sprache, die ihn als Zuverlässigen in seinem autoritären Milieu ausweist. »Die erstarrte Sprache weist anklagend gen Himmel wie nackte Baumstümpfe auf verlassenen Schlachtfeldern«, notierte Horkheimer. »Sie denunziert die Welt der Rackets, der sie dienen muß.« In diesem »toten Wald der Worte« ist Fuchshuber heimisch.

Quelle: literaturkritik.de, Februar 2020