Karola Brede

Rezension zu Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet von Binjamin Segel

 

Mit den vorgeblich geheimen Protokollen der Weisen von Zion wird in vielen Varianten und Sprachen verbreitet, die Juden hätten sich verschworen, die Herrschaft über die Welt zu erringen und die Nichtjuden zu vernichten. Sie würden zu diesem Zweck zu ruchlosen Mitteln greifen und niederträchtige Wege einschlagen, die ihnen bereits seit dem Mittelalter nachgesagt werden.

Zuerst in russischer Sprache verfasst, werden die Protokolle vielfach als Fälschung betrachtet. Sie gehen aber auf fiktionale Texte im 19. Jahrhundert zurück, aus denen unbekannt gebliebene Verfasser abgeschrieben haben. Seit ihrer ersten Veröffentlichung im Jahr 1905 besteht die agitatorische Wirkung des Machwerks darin, die antisemitische Aggressivität in der Bevölkerung durch pseudofaktische Behauptungen über das Wesen des Judentums dokumentarisch zu unterfangen.

Die Protokolle der Weisen von Zion zu verbreiten ist in Deutschland wegen Volksverhetzung unter Strafe gestellt. Sie sind aber in einer von Jeffrey L. Sammons herausgegebenen und von ihm kommentierten Fassung zugänglich (Sammons 1998). Diese Fassung gibt vor, es handele sich um »Berichte« vom ersten Zionisten-Kongress 1897 in Basel (vgl. Sammons 1998, S. 27).

Der Text, gegliedert in 24 Sitzungsberichte, die die »Weisen von Zion« vorgeblich verfassten, ist argumemationslogisch unsinnig. Die Wirkung, die er entfaltet, kann nur von destruktiven Phantasien, gewalttätigen aggressiven Triebwünschen und unkontrollierbaren Affekten herrühren, die er in einer Gesellschaft anspricht, deren Angehörige Niederlagen, Unsicherheit, Not und Angst uneingestanden aushalten. Die Jahre nach dem Ersten Weltkriegscheinen das Interesse an den Protokollen belebt zu haben, und während des Nationalsozialismus blieb dieses Interesse virulent. Nach der Niederschlagung des nationalsozialistischen Regimes traten die Protokolle nachvollziehbarerweise nur wenig hervor, wohl aber nach der Gründung des israelischen Staats in arabischen Ländern.

Der »Widerständigkeit gegen an sich vernichtende und historische Argumente«, auf die der Herausgeber der kommentierten zeitgenössischen Ausgabe der Protokolle, Jeffrey Sammons, hinweist (Sammons 1998, S. 117), war sich auch Binjamin Segel, der Autor des vorliegenden, 450 Seiten starken, 1924 erstmals erschienenen Bandes Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet, bereits bewusst. Dass er dem Titel seines Buchs Eine Erledigung anfügte, weist darauf hin, dass er beabsichtigte, dem Einfluss der Protokolle ein unwiderrufliches Ende zu setzen.

Vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Auftrag gegeben, nimmt Segel die Perspektive des Judentums auf das Buch ein. Er setzt sich mit den lügnerischen Behauptungen der Protokolle in einer Detailliertheit auseinander, die von Verletztheit zeugt. Sie zeigt aber auch, dass er an die Kraft der Vernunft glaubte, die Protokolle als bösartige, Hass schürende Erfindung überführen zu können.

»[E]s ist [...] nur natürlich, daß die unablässige antisemitische Hetze und ihre unausbleiblichen Auswirkungen im Leben bei uns eine Stimmung des trotzigen Unwillens und der hoffnungslosen Abwehr hervorrufen: da alle Arbeit und Hingabe an das Vaterland und seine Kultur nicht vermocht hat [sie!], den Haß gegen uns zu beschwichtigen, so hat sie keinen Zweck; kühl bis ans Herz hinan sollen wir den Völkern, unter denen wir leben, ihren Arbeiten und Kämpfen gegenüberstehen, nur die strenge Pflicht zum Maßstabe unseres Verhaltens machen, Liebe und Herzlichkeit aber zurückdrängen. [...] Diesen beiden Wirkungen des Antisemitismus müssen wir uns mit aller Kraft entgegenstemmen.« Es wäre »verderblich [...], wenn wir uns von dem Schmerz und dem Groll über die Orgien des Judenhasses hinreißen ließen, in uns analoge Gefühle aufkommen zu lassen. Das wäre nicht nur vernunftwidrig, sondern ungerecht« (Segel 2017, S. 45f.).

Würde man die kritische Intention dieses Motivs der Rechtfertigung übersehen, wäre die hochminutiöse Auseinandersetzung von Segels Untersuchung nicht nachvollziehbar. Segel scheint mit ihr gegen die als Ahnung dennoch vorhandene Vergeblichkeit seiner intellektuellen Anstrengung anzukämpfen.

Mit den Protokollen, schreibt Segel, hätten die Nichtjuden vorgegeben, den Juden das Geheimnis entrissen zu haben, wie sie die Weltherrschaft zu erringen gedächten. Davon, wie sie an die Protokolle gelangten, wird in den verschiedenen Ausgaben auf dem Niveau eines Schmökers berichtet: Ein Späher der russischen Regierung bestach einen Juden, damit dieser die geheimen Protokolle von einer Juden-Freimaurerloge stahl, usw. Dem Russen Sergej A. Nilus, der die Verbreitung der Protokolle betrieb, dienten diese und eine weitere Version, in der eine diebische Dame auftritt, dazu, reales, nachprüfbares Geschehen einer fiktiven, antisemitisch geschlossenen Phantasiewelt zu opfern, damit eine sozial breit gefächerte Leserschaft angesprochen würde.

Segels Kritik lässt die Frage offen, weshalb ein verworrenes Machwerk, in dem der Bezug zur Realität zugunsten von Phantasien aufgegeben wurde, dennoch in der Lage ist, immer wieder antisemitische Einstellungen zu mobilisieren und die psychodynamische Bedürfnislage eines vielfältigen Publikums anzusprechen. Segel legt zur Erklärung nahe, dass die Diffamierung des Judentums durch ein Plagiat besonderer Art in der Tradition politisch-philosophischer Ideengeschichte verankert wurde. Dieses Plagiat geht auf einen Dialog zwischen Machiavelli und Montesquieu zurück, ein Totengespräch, das Maurice Joly 1864 unter dem Titel Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquie ou La politique de Machiavel au XIXe siècle, par un contemporun veröffentlicht hatte. Nach Segel stellt es das »missing link« (S. 212)  geistesgeschichtlich bedeutenden Topoi - Macht, Freiheit, Vorurteile, Feindbilder, Charakter etc. - dar. Segel zeigt, in welcher Weise der Sinn von Aussagen wie »Per me reges regnant« in den Protokollen pervertiert wird. Aus (übersetzt) »Die Könige [...] sollen nach meinem [d.h. nach Gottes] Gesetz herrschen« wird nämlich, »daß wir [die Weisen] von Gott selbst zur Herrschaft über die ganze Welt auserwählt wurden« (S. 225).

»Dieser ganze höhere Blödsinn wird in Anknüpfung an das Bibelwort einem Juden in den Mund gelegt, und der Fälscher bedenkt nicht, wie unnatürlich es ist, daß ein Jude ein Bibelwort nicht in der hebräischen Originalsprache, sondern in der Übersetzung der Vulgata zitiert« (S. 286).

Für die Stoßrichtung von Segels Kritik ist charakteristisch, dass sie immer wieder die für das Protokolle-Machwerk geradezu konstitutive Unkenntnis des Judentums demonstriert.

Um ihren Wahrheitsgehalt zu untermauern, waren die Urheber bestrebt, die Protokolle als fundiert in empirisch gehaltvollen Tatsachen erscheinen zu lassen. Deshalb wird das Programm zur Eroberung der Welt durch die Juden als vielfach bereits erfüllt ausgegeben; vergangene »Entbehrungen, Hunger und [...] Seuchen«, wie sie in den Protokollen zum Zweck des »Zermürbens« der Nichtjuden angekündigt sind, bestätigten, dass die »prophezeiten« negativen Ereignisse Zeichen kommender Vernichtung der Nichtjuden seien (vgl. S. 319; Sammons 2016, S. 64f.). Als vermeintliche Tatsachen entfachen sie die bereitliegende Angst vor Destruktion, für die in antijüdischen Phantasien ein geeigneter Aggressor vorgesehen ist, wie die Protokolle ihn anbieten; dem Juden werden alle denkbaren Übel zugeschrieben (Segel 2017, S. 300ff.). Aber die Urheber, wie der von Segel ausführlich und scharf kritisierte Niles, bezeugen nichts wirklich. Sie wollen glaubhaft machen, dass sie zur Geheimhaltung verpflichtet sind. Ihre Gewährsleute verschwinden oder sterben unverhofft. Insgesamt zerschellt folglich auch Segels Versuch, die Urfassung der Protokolle und ihre Entstehung zu ermitteln, daran, dass die Suche nach Beweisen für Fälschung und Fiktion sich immer wieder im Dunkeln verliert (S. 128).

In Veröffentlichungen, die sich kritisch zu den Protokollen der Weisen von Zion verhalten, trifft man immer wieder auf die Frage, weshalb die Protokolle wiederholt zu ihrer Widerlegung herausgefordert hätten, obwohl es sich doch um eine Falschung handele, präziser: um eine auf - zumal schlechten - Fiktionen basierende Erfindung. Auch Segel unternahm eine Kritik, die den Protokollen zubilligt, daraufhin geprüft werden zu können, ob sie in tatsächlichen Ereignissen wie dem Treffen der Zionisten 1897 in Basel ihren Ausgang nahmen. Doch ist meines Wissens keine der Untersuchungen so ausführlich und gründlich (allerdings auch so reich an Wiederholungen) wie die von Segel. Er schrieb gegen eine Bedrohung an, die erst nach seinem Tod - er starb 1931 - so massiv wurde, dass sie an die Vernichtung der gesamten Judenheit denken lässt.

Insbesondere die projektive Verschiebung der Aggression von den sozialen Schichten, die in der Folge der ökonomischen und politischen Entwicklung während des 19. Jahrhunderts entstanden waren, auf das Judentum zu Segels Zeit konnte anscheinend lange Zeit nicht treffend eingeschätzt werden. Eine Kollektivpsychologie der Masse, die eine analytische Brücke zwischen der Kritik der Protokolle und der Dynamik politischer Massen hätte schlagen können, entstand gerade erst. Es lässt sich daher leicht nachvollziehen, wenn Segel sich gegen Ende seiner Ausführungen fragt, weshalb er »so unendlich viel Zeit und Mühe« auf die Analyse von »Urkunden« verwandt habe, »die eigentlich vor den Strafrichter gehören« (S. 475). Er beantwortet diese Frage nicht.

Das Motiv, das ihn davon abhielt, die Auseinandersetzung mit dem Text der Protokolle aufzugeben, dürfte zum einen mit der Perspektive konvergieren, aus der er schrieb. Es ergibt sich aus der Einsicht, dass »unablässige antijüdische Hetze [ ... ) bei uns eine Stimmung des trotzigen Unwillens und der hoffnungslosen Abkehr hervorrufen« (S. 45). Zum anderen folgt aus dieser Einsicht der eingangs zitierte Appell an die Vernunft. Aber dieser Appell scheint angesichts des Anwachsens der Judenfeindschaft an Verleugnung rückgebunden zu sein. Segel hätte sehen sollen, dass die Judenfeindschaft in seiner Zeit die Angst vor dem Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts ersetzte, ein Problem, das während des Nationalsozialismus durch die Eliminierung des Judentums »gelöst« wurde.

Dass Segels Untersuchung angesichts des zunehmend offenen und rätlichen Antisemitismus derzeit wieder aufgelegt worden ist, zeugt von der Widerständigkeit der Protokolle, aber auch davon, dass Segels Kritik weiter aussagekräftig ist. Franziska Krah, die Herausgeberin von Segels Buch, hat die Ausgabe mit einer hilfreichen Einführung und einem Nachwort zur Person des Autors Binjamin Segel versehen.

LITERATUR

Sammons, J.L. (Hg.): Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus - eine Fälschung. Text und Kommentar. Göttingen (Wallstein), 2016 (9., unveränderte Auflage der Ausgabe von 1998).