Heide Hammer – Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?
Heide Hammer
Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?
Der vielfach lediglich proklamierte Anspruch einer Unterstützung des “Für sich selber Sprechens” durch europäische Beobachterinnen, Expertinnen oder Aktivistinnen findet im vorliegenden Sammelband eine gelungene und differenzierte Entsprechung. Daß in der Wahl der Autorinnen kein beliebig breites Spektrum einer Analyse der gegenwärtigen Situation im Irak präsentiert wird, sondern jene Raum zur Darstellung ihres Wissens um spezifische Zusammenhänge nutzen, die an einer demokratischen Entwicklung des Staates Interesse haben, ist überaus erfreulich. Dabei kann die Gretchenfrage der Positionierung zum US-amerikanisch geführten Krieg gegen das ba’thistische Regime in den Hintergrund treten und die Beiträge den aktuellen Problemfeldern und ihren historischen Implikationen gewidmet werden.
Die Kompilation gliedert sich in drei Blöcke: Teil l, Das blutige 20. Jahrhundert, umfasst Texte zu Herrschaft und Ideologie der Ba’thpartei, der Verfolgungspraxis des Regimes sowie zu den bedeutendsten Oppositionsströmungen. Darin findet sich auch der sehr gute und detailreiche Beitrag des Politikwissenschafters Hussain Ali Bawa, der ein ideologisches Kernelement der Ba’th-partei und somit der Staatsorganisation, die umfassende Etablierung des “Führerprinzips”, erklärt. Der darauf folgende Aufsatz von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Säcken, die im Rahmen der Organisation Wadi seit mehreren Jahren Projekte im Nordirak unterstützen, beschreibt nicht nur das gestürzte Herrschaftssystem, sondern beschäftigt sich mit den psychosozialen Auswirkungen dieses Führerkults. Die Folgen der und die eher simple Argumentation einer ideologischen Nähe nahöstlicher Diktaturen und islamistischer Terrorgruppen in der “unheimlichen Interesselosigkeit” der Bevölkerung zu sehen und in einer “Hölle der Abstraktion” Islamisten, Panarabisten und (Teile der) Linken zu vereinen, bietet zumindest eine hinreichende Präzisierung ihrer Position, um weiterführende Auseinandersetzungen zu befördern. Den Fragen von Terror und Widerstand widmet sich Andrea Fischer-Tahir entlang des “Kurdistan-Konflikts” und beweist darin die Möglichkeit einer klugen Verbindung von poststrukturalistischen und Cultural Studies-Ansätzen mit umfangreichen ethnologischen und religionswissenschaftlichen Kenntnissen. Ihre feministische Perspektive relativiert auch die Kürze der explizit frauenspezifischen Themenbeiträge.
In Teil 2, Die USA, Europa, der Irak und der Krieg, wird auch manche klassische Motivationsphantasie der kriegerischen Intervention untersucht, etwa in einem Beitrag der Herausgeberin die Bedeutung der beliebten Ölthese. Mary Kreutzer beleuchtet entgegen der verbreiteten Interpretation “fremder Gier” die Funktion des Rohstoffs in den konkreten diktatorischen Unter-drückungsverhältnissen. Weitere mediale und aktivistische Konjunkturen in der Argumentation von Kriegsgegnerinnen und -befürworterinnen werden in diesem Kapitel nachgezeichnet, darunter die Rolle der Vereinten Nationen, deutsche Exporte für Waffen- und Giftgasproduktionen oder die rechtsextreme und friedensbewegte Begeisterung für das “irakische Volk”.
Im abschließende dritten Block widmen sich die Diskussionsbeiträge Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit, den Optionen von Föderalismus und partizipativen Bestrebungen sowie den agierenden Terrorgruppen. Deren Zusammensetzung und Kooperation bzw. Konkurrenz wird auch mittels historischer Exkurse beschrieben und unterschiedliche Lösungsansätze formuliert. Terrorismus steht als zentrales Element am Beginn und am Ende der ba’thistischen Strukturen. Daß alltägliche Bemühungen um demokratische Vergesellschaftungsformen von den Besatzungsmächten und der irakischen Bevölkerung geführt werden müssen, dies aber immer vor dem Hintergrund jahrzehntewährender Verbrechen passiert und diese auch einer wissenschaftlichen Bearbeitung bedürfen, ist eine zentrale Forderung im abschließenden Beitrag Thomas Schmidingers. Ein dahingehender Versuch wird gegenwärtig von Kanan Makiya durch die Iraq Memory Foundation betrieben. Ein Spektrum an Analysen und Initiativen auch deutschsprachigen Interessentinnen näherzubringen, ist das vorläufige Ergebnis intensiver Kooperationen zwischen irakischen Oppositionellen, Emigrantinnen und engagierten Politikwissenschafterinnen. Fortsetzungen dieser Formen des Austauschs wären überaus wünschenswert.
Aus: Context XXI N° 6/7 2004