Moritz Schwab – Das Elend der Psychoanalyse in der antideutschen Kritik

Moritz Schwab

Das Elend der Psychoanalyse in der antideutschen Kritik

Uli Krugs neues Buch „Der Wert und das Es. Über Marxismus und Psychoanalyse in Zeiten sexueller Konterrevolution“ verspricht dem Titel nach viel, hält aber wenig ein. Weder über Marxismus noch über Psychoanalyse wird viel gesagt, geschweige denn irgendetwas Neues. Und trotzdem gehört es zum Besten, was in den letzten Jahren zum Thema erschienen ist. Das liegt allerdings weniger am Inhalt des etwa 100 Seiten kurzen Büchleins, sondern allem voran an den bestenfalls inexistenten und schlechtesten Falls kritischen, also reaktionären Versuchen, Gesellschaftsanalyse und Psychoanalyse zusammenzudenken. Diese sind heute zwar nur noch selten, aber leider immer noch üblich. Denn gerade dort, wo der gemeine Gesellschaftskritiker die Psychoanalyse noch nicht vollständig aus seinem Bewusstsein verdrängt hat, kommt deren Rezeption selten aus ohne Denunziationen und Revisionen gegenüber Freud und seiner Theorie und der völligen oder partiellen Verleugnung von Unbewusstem und Trieb. Sie teilen das Schicksal von Marx‘ Kritik an der Warenform und deren Fetischcharakter. Dem etwas entgegenzuhalten, ist Krugs erklärtes Ziel, also: „Marx‘ und Freuds Theorie nicht durch doppelte Revision zusammenzuzwingen, sondern durch doppelte Orthodoxie ihre fremde Nähe zu entdecken.“ Davon findet sich im Verlauf des Buches aber leider kaum etwas. Die meiste Zeit verwendet Krug auf die Kritik meist eher wenig aktueller Versuche, sich Freud zu entledigen oder ihn zu revidieren, wie sie von Sartre, Lacan, Reich und vielen anderen unternommen wurden. Und auch dort, wo er explizit Psychoanalyse und Kritik der politischen Ökonomie zusammenführt, findet sich nur bedingt Neues. Das Buch macht kaum mehr, als 30 Jahre antideutsche Theorieproduktion zum Thema Psychoanalyse zusammenzufassen. Dass es dafür gerade mal 100 Seiten braucht, ist vor allem ein Armutszeugnis für all diejenigen, die als einzige Psychoanalyse als Kritik der psychischen Konstitution von Gesellschaft noch ernstnehmen. Prototypisch steht Krugs neues Buch für die Stagnation kritischer Theorie, wenn es darum geht, Psychoanalyse als Gesellschaftsanalyse auf dem Stand der aktuellen Entwicklungen zu denken und zu formulieren. Das Loch, welches im Angebot des Verlags so überdeutlich klafft, zeugt davon, dass die antideutsche Kritik heute zur Psychoanalyse nichts mehr zu sagen hat, eigentlich nie etwas zu sagen hatte. Die wenigen Versuche in Zeitschriften wie der Bahamas und der Sans Phrase sind, wie Krugs Buch, ideenlos und inhaltlich unbefriedigend. Man verweilt recht bequem bei Freud oder dem, was man von Adorno und Marcuse über Freuds Orthodoxie gelernt zu haben glaubt, und weigert sich beharrlich, diese um neuere psychoanalytische Erkenntnisse – besonders auch jener Melanie Kleins – zu bereichern. Die Orthodoxie Freuds zeichnet sich aber wesentlich aus durch das Bestehen auf die Bedeutung des Triebs, des Unbewussten, des Konflikts von nach Lust strebender Innenwelt und versagender Außenwelt und des daraus resultierenden und immer weiter zunehmenden Irrewerdens menschlichen Daseins. Genau daran wäre die britische und postfreudianische psychoanalytische Theorie zu messen. Aber scheinbar haben die Verfechter der immanenten Kritik vergessen, wie man Psychoanalyse immanent kritisiert. Und deswegen verharren sie starr im Begriffsapparat einer Psychoanalyse, die ihre Theorie noch an Patienten entwickelte, die schon zu Freuds Tagen kein zeitgemäßer Ausdruck der sie umgebenden Gesellschaftsordnung mehr waren. Anders die Britische Schule um Melanie Klein: der Ursprung ihrer Theorie war nicht das anachronistische, jüdische Bürgertum einer rückständigen Nation, sondern die Mittelschicht Londons seit den 1930er Jahren: also das spätkapitalistische Subjekt, wie es heute zugespitzt in Erscheinung tritt. Trotz oder gerade wegen ihrer fatalen Ontologisierung des Todestriebs, der den menschlichen Konflikt mit der Außenwelt zum Verschwinden bringt und zu einem des bloßen Seelenlebens machte, traf Klein mit erstaunlicher Präzision das Wesen menschlichen Daseins im Spätkapitalismus. Indem sie das Individuum als zwischen depressiver und paranoid-schizoider Position schwankendes und permanent projizierendes hypostasierte, beschrieb sie es adäquater, als die psychoanalytischen Vertreter der freudschen Orthodoxie es jemals gekonnt hätten. In ihrem Beharren auf die menschliche Aggression und deren destruktives Potential, auf die Bedeutung von Spaltung und Projektion im Alltagsleben und der Betonung von Neid und Schuld war Melanie Klein den Bestimmungen der Kritischen Theorie weit näher als ihre kontinentaleuropäischen Kontrahenten, die sich in ähnlicher Starre auf Freuds Orthodoxie beriefen, wie Antideutsche es heute tun. Das wäre nur ein Beispiel. Ein anderes wären die Erkenntnisse moderner Säuglingsforschung, welche recht eindrücklich Freuds Vorstellung über Prozess und Entwicklung der ersten Lebensmonate widerlegen. Sie lassen vermuten, dass die Umwelt auf den Säugling nicht bloß versagend eindringt, sondern dieser von Anfang an Interesse an ihr zeigt und Lust an den von außen kommenden Reizen empfindet, diese sogar aktiv sucht – er also nicht als primärnarzisstische Monade zur Welt kommt, sondern erst durch permanente Versagung zu einer solchen, also zum spätkapitalistischen Subjekt wird. Das hieße aber auch, dass das Lustempfinden des Säuglings sehr viel differenzierter ist, als Freud noch angenommen hatte, die Orale Phase sich also nicht ausschließlich auf das Lustempfinden beim Saugen an der Mutterbrust und die Stillung des Hungers beschränken lässt, sondern von Anbeginn an auf das Bestreben des Säuglings, die Mannigfaltigkeit der lustvollen Reize in sich aufzusaugen, auszuweiten wäre. Die Orale Phase wäre demnach eine Introjektionsphase (Ferenczi), in der die frühesten, rein sinnlichen Objektbeziehungen erfahren werden und so langsam den Grundstein des späteren Ichs und dessen Begriffe legen. Dadurch wäre es aber vorstellbar, dass das Kind, noch lange bevor es zum Begriff kommt, bloß sinnlich das Tauschprinzip erfährt, das die Eltern repräsentieren und auf dessen Grundlage sie mit dem Kind interagieren. Es ist also das gesellschaftliche a priori, dass sich in der Sinneserfahrung als Versagung niederschlägt, noch bevor das Denken eigentlich einsetzt. Dass bestimmte Entbehrungen für die menschliche Entwicklung unabhängig von der Gesellschaftsform notwendig sind, ist nicht abzustreiten. Allerdings werden die später erworbenen Begriffe auf die frühen sinnlichen Erfahrungen rückprojiziert und so, anstatt auf die Notwendigkeit von Versagung zu reflektieren, als Ontogenese hypostasiert. Nicht der an sich irrationale Verzicht ist das Problem, vielmehr dass dieser Verzicht nicht im Dienste der Freiheit vollzogen wird, sondern in dem des Kapitals. Darin wird seine Irrationalität erst zum gesellschaftlichen Prinzip. Dieses als zweite Natur erfahrene Prinzip des Verzichts wird unbewusst auf die ersten sinnlichen Eindrücke projiziert, wodurch diese dem Subjekt als dessen frühester Ausdruck erscheinen. Die Feststellung Adornos: „Individuum und Gesellschaft werden eines, indem die Gesellschaft in die Menschen unterhalb ihrer Individualisation einbricht und diese verhindert.“ findet darin ihren radikalsten Ausdruck.

Darin unterscheiden sich Kleinianer gleichermaßen von Freud wie die Säuglingsforschung. Sie verlegen die Auseinandersetzung mit der Außenwelt schon an den Anfang des menschlichen Daseins, auch wenn die Außenwelt bei Klein als bloßes Surrogat nach außen projizierter Triebregungen des Säuglings erscheint und sie so objektive Versagung völlig leugnet. Die Säuglingsforschung wiederum kennt keinen Trieb mehr, bloß noch Affekte. Nichtsdestotrotz ist anzunehmen, dass Gesellschaft nicht durch primären Narzissmus und Reizschranke vom Säugling ferngehalten wird, sondern sein einziger Schutz die Eltern sind. Und das ist nicht erst heut e ein schwacher Trost. Der primäre Narzissmus, die Lust am eigenen Körper bzw. am Körper-Ich (Freud), ist Resultat der Interaktion mit der Außenwelt und diese eigentlich der Ursprung des Sexualtriebs. Allerdings ist sie zu Beginn reine Reizlust, weniger psychologisch als körperlich und wird erst im Laufe der frühen Entwicklung zu der psychischen Kraft, die Freud Libido nennt. Wenn aber schon die sinnlichen Erfahrungen gestört werden, dann hat das unmittelbare Auswirkungen auf die Libidoentwicklung selbst, noch bevor diese eigentlich regredieren kann. Dadurch tritt das gesellschaftliche Prinzip in die Psychologie ein, bevor diese überhaupt eine ist und so gar keine mehr werden kann.

Solche Dynamik ist Krug unbekannt, er bleibt in Freuds recht starrem Strukturmodell von Es, Ich und Über-Ich stecken und es scheint immer wieder so, als würde er das Ich als etwas von der Gesellschaft mehr oder weniger Unabhängiges begreifen. So schreibt er zum Beispiel: „Die Schematisierung der gesellschaftlichen Repräsentationen nach innen, „der Übergang fester Eigenschaften in einschnappende Verhaltensweise“, also zu fremden Objekten im Ich, stärkt wiederum die Schemata, die das Unbewußte der Wahrnehmung anbietet und beimischt“ (49f.) Dabei geht aber die Einsicht verloren, dass das Ich sich überhaupt erst an fremden Objekten durch Introjektion und Identifizierung bildet, seine Selbst- und Objektrepräsentanzen, aus denen das bewusste wie unbewusste Ich besteht, sich letztlich nur an den Erfahrungen mit der Außenwelt bilden können. Was dem Ich bei Krug als fremdes Objekt hinzukommt, ist nicht fremd, sondern fürs Ich konstitutiv. Die Schematisierung der gesellschaftlichen Repräsentation nach innen ist das spätkapitalistische Ich.

Krug übernimmt zudem Freuds fatale Gleichsetzung von primärem und sekundärem Narzissmus. Nichts aber ist irreführender, unterscheidet sich der kindliche Narzissmus vom erwachsenen doch wesentlich. Zielt der kindliche nicht starr aufs Ich, sondern ist als Libido sowohl aufs Ich als auch auf die Objekte gerichtet, also zur Welt hin offen und in der Lage, noch recht unbekümmert an ihr Lust zu empfinden, kennt der pathologische Narzissmus keine Außenwelt mehr. Er grenzt sich nach innen hin von ihr ab und projiziert von innenheraus nur noch das seine, dass ohnehin bloßes Surrogat der irregewordenen Außenwelt ist. Die vom Es nach außen gerichtete „reine“ Objektlibido prallt beständig von den versagenden Objekten zurück und kehrt so durch die Erfahrungen an der unbefriedigenden Außenwelt als verunreinigte ins Ich zurück und wird zur eigentlich verdrängenden Instanz. Nicht also das Ich selbst ist es, welches die Abwehr der Triebe vollbringt, sondern diese wird von einem „psychodynamischen Derivat, einer gleichsam verunreinigten, aufs Ich gerichteten und dabei unsublimierten und undifferenzierten Libido“ (Adorno) vollzogen. Also von der durch Verzicht enttäuschten und von den versagenden Objekten abgezogenen Libido, die so ihr spezifisches Ziel einbüßt, ohne aber ihre spezifischen gesellschaftlichen Qualitäten zu verlieren, und als gesellschaftlich präformierte ins Ich zurückkehrt. Dort wo das Es seine Objekte aufgeben muss, wird die zurückgenommene Libido zur Verdrängung eben jener Triebvorstellungen eingespannt, die eigentlich aufs Objekt gerichtet sind. Der Trieb verdrängt sich selbst. Das meint Libidopsychologie (Adorno). Antisemitismus und Paranoia sind dabei nicht bloß die Wiederkehr infantiler Größenvorstellungen und Regression auf die Stufe des primären Narzissmus, vielmehr erhält und verhärtet sie der psychische Apparat, um sich für all die zugemuteten Versagungen und Kränkungen zu entschädigen. Der sekundäre Narzissmus ist nicht, wie Freud behauptet, die glückliche Wiederkehr in den Zustand des primären, sondern barbarischer Selbstbetrug, in dem die Subjekte sich glauben machen, doch noch auf ihre Kosten kommen zu können. Aus diesem Grund reagieren sie so überaus empfindlich auf die geringsten Kränkungen, die sie daran erinnern, dass pathologische Selbstliebe nur ein ungenügsamer Ersatz für das ist, was Liebe sein könnte: nämlich Hingabe zum anderen im Stande der Freiheit.

Das spätkapitalistische Subjekt ist Resultat der konsequenten libidinösen Besetzung der durch Introjektion und Identifizierung zum Ich gewordenen, versagenden Objekte. Gegen diese richtet sich in der Depression nach innen hin die Aggression. Unerträglich geworden und zur suizidalen Selbstzerstörung tendierend, werden sie vom Subjekt nach außen projiziert und finden im Juden ihren konkretisierten Ausdruck. Nicht primär die Regression macht heute den Antisemiten aus, sondern sein pathologischer Infantilismus. Regression setzt einen vorangegangenen Reifungsprozess voraus, welchen die meisten heute nicht mehr vorweisen können. Die Menschen entwickeln kein kontingentes Ich mehr, welches die durch die gesellschaftlichen Ansprüche entstehenden Risse irgendwie noch zusammenhalten könnte, sondern ihr Seelenleben ist in unendlich viele unintegrierbare Teile gespalten, in denen sich die widersprüchliche Gesellschaft manifestiert. Im besten Fall wird dieses Elend von den Subjekten in narzisstischer Starre zusammengehalten, im schlechtesten aber machen sie die ohnehin irrationale Welt durch Projektion dem Wahnsinn gleich, der in ihnen herrscht. Das wäre von Klein und der Objektbeziehungstheorie zu lernen: wie das innere Chaos eigentlich zustande kommt, wie durch Spaltung die unerträgliche Ambivalenz versucht wird auszuhalten und wie das Chaos an unintegrierbaren Objektrepräsentanzen und Objektbeziehungen nur noch durch Projektion abzuwehren ist. Nichts davon aber kennen Krug oder die antideutsche Theorie. Deren einziges Glück ist es, dass Adorno seiner Zeit so weit voraus war, dass sie heute noch von seinem Begriff der Psychoanalyse zehren können, ohne Gefahr zu laufen, in ihren Analysen völlig irrezugehen. Aber wirklich zu verstehen, bemüht man sich nicht mehr. Man beharrt in marxistisch-leninistischer Manier auf einer Orthodoxie, deren Zweck es war und ist, die Erkenntnisse der Psychoanalyse gegen ihre eigenen aufklärungsfeindlichen Tendenzen zu verteidigen. Nichts weiter tat Adorno, wenn er Freud, Reich, Fromm, Horney u. dgl. kritisierte. Krug aber nimmt sich Autoren heraus, die weder für die Psychoanalyse noch für Sozialwissenschaften heute die geringste Rolle spielen, sondern zum bloßen Standardrepertoire antideutscher Kritik gehören, an denen man sich bequem abarbeiten kann, ohne sich noch irgendwie anstrengen zu müssen. Denn gesagt hat man darüber eigentlich bereits alles. Den Streit um Sartres Begriff von Freiheit, der schon langweilig war, bevor er noch wirklich begonnen hatte, kommentiert Krug mit einem nicht wirklich falschen, aber eher belanglosen Verweis auf Sartres noch belanglosere Psychoanalyserezeption. Gegen Lacan, der ohnehin unter jeder Kritik ist, schießt Krug mit den üblichen Platzpatronen und verwendet ansonsten viel Zeit darauf zu zeigen, wie Kritiker und dauergekränkte Intellektuelle der letzten Jahrzehnte versuchten, noch ein paar Schippen Erde auf das Grab der Psychoanalyse zu schaufeln. Die einzig wirklich interessante Referenz ist die auf Wilhelm Reich. Und dem tut Krug reichlich unrecht. Ganz undialektisch löst er Reichs Kritik einseitig in Richtung dessen mechanistischen Diamat-Denkens auf, ohne seine durchaus brauchbaren Einwände gegenüber der Psychoanalyse Freuds und dessen Schüler auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Reichs Forderung nach einer von den irrationalen gesellschaftlichen Zwängen befreiten Sexualität traf, so falsch und reaktionär sie in Reichs Ausführungen daherkam, das Problem der Psychoanalyse im Kern. Nämlich die Affirmation gesellschaftlicher Repression gegenüber dem Triebleben, dem nicht nur Freud, sondern vor allem auch seine Gefolgschaft, durchaus ein nicht unbeträchtliches Stück an Verachtung entgegenbrachte. Sie erkannten den Trieb an, um ihn zu bändigen, durch ein starkes Ich und durch Sublimierung. Dabei ist aber der Begriff der Sublimierung – den Krug, ganz orthodox nach Freud, als anzustrebende Form der Triebunterdrückung präferiert – keineswegs das progressive Pendant zur Verdrängung, sondern ein unbewusster Prozess im Dienste der Abwehr, nicht der Reflexion. Reich, mit seiner bedingungslosen Forderung nach der Entfesselung des Triebs, stand diesen Ansichten entgegen und behielt ihnen gegenüber recht. Nicht darin, dass er aufgrund seiner sozialistischen Idee vom neuen Menschen nicht sehen wollte, dass diese Entfesselung Barbarei bedeute, noch darin, dass er aufgrund seiner verqueren Libidotheorie nicht eingestehen konnte, dass ein gewisses Maß an Verzicht für die geistige Entwicklung der Menschen unabdingbar ist. Darin aber, dass die Befreiung des Triebs im Stande der Freiheit und durch Reflexion Lust und Wahrheit erst kennt. Nicht Unterdrückung, sondern Bewusstwerdung des Wunsches ist Aufklärung im Sinne der Psychoanalyse.

Reichs Fetischisierung der Libido, führte nicht nur, wie Krug meint, zu dessen späteren Orgontheorie und -therapie, sondern ist auch das Fundament seiner sehr spezifisch psychoanalytischen Schriften. Nicht zufällig war es Reich, der sich als einziger offen gegen Freuds neue Todestriebtheorie positionierte und diese in einem bemerkenswerten Aufsatz so eingängig widerlegte, dass man sich fragen muss, ob Freuds diesbezüglicher Tagebucheintrag: „Schritte gegen Reich einleiten“, nur dessen parteikommunistischen Bemühungen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung zulasten zu legen ist. Dass Reich, wie so viele Analytiker, dabei geneigt war, Aggression nicht nur als Ausdruck des Todestriebs zu kritisieren, sondern sie völlig zu unterschätzen und zu ignorieren, gibt ihm gegenüber Freud wiederum unrecht. Dieser hat, so fragwürdig seine Begründung des Todestriebs ist, sehr viel mehr Gespür für den inneren Zustand seiner Patienten bewiesen, als seine Kritiker innerhalb der analytischen Bewegung. Wahr ist aber nur die ausdrückliche Betonung der Aggression, nicht ihre Ontologisierung. Darauf machte Reich aufmerksam, indem er Aggression als Resultat realer Versagungen bestimmte und nicht als biologische Tendenz im menschlichen Organismus. Aggression, Perversion und Wiederholungszwang sind nicht Ausdruck eines Triebs, sondern Resultat menschlichen Daseins im Zustand der Unfreiheit. Liebe und Hass sind Ausdruck desselben Triebs, der sich unter den Anforderungen der Gesellschaft nach und nach gegen sich selbst richtet.

Krug ignoriert diese Seite Reichs völlig, wie er auch sonst die Psychoanalyse abseits von Freud weitestgehend ignoriert. Es ist natürlich richtig, dass der immer schon gleichlautende Vorwurf, Freuds Theorien seien veraltet, gerade auch in der postfreudianischen Psychoanalyse zur bloßen Abwehr ihres kritischen Potentials diente und dient. Falsch wäre es aber, deswegen ihre Einsichten von vornherein abzulehnen oder sie zu ignorieren. Die Psychoanalyse hat sich in den letzten 70 Jahren durchaus weiterentwickelt und das oft nicht zum Positiven, aber sie deswegen so vollständig aus dem eigenen Denken auszuklammern, ist einer kritischen Theorie unwürdig. Dass Krug Mark Solms, den einzigen zeitgenössischen Psychoanalytiker, den er erwähnt, in einem Halbsatz abfertigt, zeugt von einer eigentümlichen Ignoranz. Adorno entwickelte seine Kritik an der Psychoanalyse an der zeitgenössischen Literatur, verteidigte Freuds Theorie gegen ihre Kritiker, wie ihre Befürworter, sogar gegen Freud selbst. Selbiges gälte es auch heute zu tun, anstatt Adornos Erkenntnisse gebetsmühlenartig zu wiederholen. Man macht sich selbst dumm, wenn man das, was man zu kritisieren vorgibt, eigentlich nicht mehr kennt. Adornos und auch Marcuses Kritik der Psychoanalyse und ihr Beharren auf Freuds Orthodoxie war vor allem das Beharren auf den Widerspruch von Lustprinzip und versagender Außenwelt und auf die aus diesem Widerspruch entstehenden und ins Unbewusste verbannten Konflikte. Dieser Widerspruch taucht in der psychoanalytischen Literatur beständig auf, muss notwendig auftauchen, entwickelt sich die Theorie doch an den Subjekten des antagonistischen Daseins. Die Psychoanalyse befördert diese Widersprüche gezwungenermaßen zu Tage und versucht sie zugleich mit den waghalsigsten Manövern wieder zum Verschwinden zu bringen. Das gelingt ihr meistens aber nur äußerst schlecht und alleine in der bloßen Bestandsaufnahme des psychischen Zustands ihrer Patienten kommt sie näher an die Wahrheit ihrer konstitutionellen Bedingungen, als ihr lieb ist.

Warum also gerade jene, die die Psychoanalyse als für Gesellschaftskritik unabdingliche Bedingung halten, eine derartige Ablehnung gegenüber der Auseinandersetzung mit Psychoanalyse verspüren, bleibt Gegenstand der Spekulation oder, man will fast dazu raten, der eigenen Analyse. Denn es wirkt oft so, als wäre die eigene Identität wichtiger als die Kritik, die falsche Identifizierung mit den Vorbildern so stark, dass jeder kritische Einwand, alles Neue als Gefahr eines potentiellen Vatermords und unerträgliche narzisstische Kränkung empfunden und abgewehrt wird. Aber es bleibt: Spekulation.

Die Psychoanalyse ist mausetot. Darin ist Krug wohl rechtzugeben. Leider gilt das auch in der Kritischen Theorie: dort ist sie mit Adorno, spätestens mit Horkheimer gestorben. Und ihre antideutschen Nachfolger betreiben mehr einen skurrilen Totenkult, als ernsthafte Versuche zu unternehmen, sie zumindest im eigenen kleinen Kreis wiederzubeleben.

Den Punkt, in dem Krugs Kritik Wirkung zeigt, auch wenn sie nicht wirklich neu ist, nämlich in der Darstellung der „fremden Nähe“ von marxscher und psychoanalytischer Orthodoxie, hätte Krug besser und prägnanter in einem zwanzigseitigen Aufsatz darstellen können. Trotz all der Kritik ist das Buch eine durchaus interessante Gedankensammlung über das Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik und als Grundlage zu empfehlen.

Die gekürzte Version der Buchbesprechung erschien in der Wiener Hochschulzeitschrift Unique (3/17); die längere Textfassung erreichte uns via E-Mail.

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