Luz
Oh, ihr Menschenbrüder

 

»Ein jüdisches Kind lernt an seinem zehnten Geburtstag den Hass kennen. Ich war dieses Kind.« / A. C.

… so hatte Albert Cohen »Oh, ihr Menschenbrüder« auf der Rückseite der Taschenbuchversion seines Buchs zusammengefasst. Wegen dieser kurzen Zusammenfassung habe ich dieses Buch mit sechzehn Jahren gekauft, es gelesen und es hat mich erschüttert.

Für mich war es sowohl die ergreifende Erzählung einer Kindheit, die am antisemitischen Hass zerbricht, als auch ein außergewöhnliches humanistisches Manifest. Beklommenen Herzens beendete ich das Buch in der jugendlichen Gewissheit, dass die ganze Welt es vor mir gelesen und verstanden hatte. Dann habe ich im Verlauf des Jahres 2015 das Bedürfnis gespürt, »Oh, ihr Menschenbrüder« noch einmal zu lesen. Ich war noch heftiger vom psychologischen Leidensweg dieses kleinen, am Rande des Wahnsinns herumgeisternden Jungen und von Albert Cohens hinterlassener Botschaft getroffen. Und beklommenen Herzens beendete ich das Buch mit der traurigen Feststellung, dass die ganze Welt ganz sicher immer noch nicht von diesem bedeutenden Werk durchdrungen war.

Trotzdem war die universalistische Aussagekraft noch immer da. Die hellsichtige Klage Albert Cohens über seine Mitmenschen (»Nicht mehr zu hassen ist wichtiger als die Nächstenliebe«) war noch immer da. Der kleine Albert war noch immer da. Auf dem von André Verret gezeichneten Einband versteckte das niedergeschlagene Kind sein Gesicht immer mit beiden Händen. Aber dieses Mal wollte ich die Augen dieses Kindes sehen. Also habe ich es so gezeichnet, dass es mich ansieht. Dass es uns ansieht. Damit der Schriftsteller, der aus ihm geworden ist, uns heute weiter zum Nachdenken bringt.

Luz, den 5. Februar 2016

Aus: Luz: Ô vous, frères humains. D’après l’oeuvre d’Albert Cohen. Paris 2016.