Nikolaus Halmer: »Sucht nach Sog«

Nikolaus Halmer

»Sucht nach Sog«

 

Er beschäftigte sich zeitlebens mit Religion und Mythen – auch als diese von der Philosophie diskreditiert wurden. Erinnerung an den Religionsphilosophen Klaus Heinrich.

 

Der »Harmonieglaube der Auf­klärung« löst sich allmählich auf und damit auch das Ver­trauen in die Vernunft. Dieser Verlust betrifft das Individuum und die Gesellschaft. Die Zivilisation droht im »Sog der Selbstzerstörung« unterzuge­hen, in dem die irrationalen Mächte des Menschen wie Fanatismus, grenzenloser Hass und Gewaltbereitschaft dominieren. So lautet eine zentrale These des Religions­philosophen Klaus Heinrich, der am 23. No­vember verstorben ist.

Klaus Heinrich zählte zu den bedeutends­ten Gelehrten im deutschsprachigen Raum. Er befasste sich mit der Religion und dem Mythos, die von der Philosophie diskredi­tiert oder verdrängt wurden. Er sprengte den traditionellen Vernunftbegriff; sein Denken richtete sich auf eine erweiterte Vernunft, die Triebbedürfnisse, Wün­sche und die Sehnsucht nach einer trans­zendenten Sphäre miteinbezog. Ähnlich wie Hans Blumenberg oder Ernst Cassirer sah Heinrich die mythischen Erzählungen als eigenständige, kulturelle Ausdrucks­formen, die etwas sichtbar machen, was in den traditionellen philosophischen Kon­zeptionen bereits liquidiert wurde. Hein­rich ortete mythische Reste im Alltagsbe­wusstsein der Menschen, die in Form von irrationalen Grundannahmen auftauchen und das Verhalten der Menschen in unter­schiedlichen Ausprägungen beeinflussen.

Dieses religiöse und mythologische Resi­duum müsse analysiert werden – so laute­te die Forderung von Heinrich. Dabei ver­stand er sich keineswegs als dionysischer Nachfolger von Friedrich Nietzsche, der von einem Zustand träumte, »wo der blu­menbekränzte Wagen des Dionysos von Panthern und Tigern gezogen wird«.

Mitgründer der Freien Universität Berlin

Klaus Heinrich wurde am 23. Septem­ber 1927 in Berlin geboren. Im Alter von 15 Jahren erfolgte die Einberufung als Luftwaffenhelfer: 1943 wurde er wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs studier­te Heinrich vorerst an der unter sowje­tischer Militäradministration stehenden Friedrich­Wilhelms­Universität Philoso­phie, Psychologie, Theologie, Kunst­ und Literaturgeschichte. Bald geriet er in Kon­flikt mit den stalinistischen Universitäts­behörden und wechselte nach Westberlin, wo er an der Gründung der Freien Univer­sität mitwirkte. 1964 habilitierte er sich mit der Schrift »Versuch über die Schwie­rigkeit nein zu sagen«. Ab 1971 lehrte Hein­rich bis zu seiner Emeritierung 1995 am In­stitut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin.

Legendär waren die Vorlesungen des Ge­lehrten in dem überfüllten Hörsaal; Hein­rich sprach frei, ohne Notizen über ver­schiedene Wissenschaften. »Es gelang ihm, vor aufmerksamen Hörern jeglicher ideolo­gischen Couleur zu reden und angehört zu werden«, notierte die ehemalige Studentin und heutige Religionswissenschaftlerin Caroline Neubaur, »er wirkte therapeutisch, ohne im mindesten ein Guru zu sein, son­dern ein – Freud verpflichteter – aufgeklärter und selbst aufklärender Mythologe.« Heinrich verstand die Religionswissen­schaft als Kritik der Philosophie. Seine Aus­gangsthese bestand darin, dass die Phi­losophie einst als Konkurrentin der alten Religionen angetreten sei, die ein Modell der Rationalität ausbildete, das gegen »das Opium des Volks« mobilmachte. Bereits bei Herodot findet sich der Hinweis, der dem Staatsmann Solon zugeschrieben wird, dass das wahre Glück darin bestehe, eine philosophische Haltung auszubilden – also sich von den irrationalen Mächten der Reli­gion und der Mythen zu distanzieren.

In seinem Werk »Parmenides und Iona« verwies Heinrich auf die Apologeten der rationalen Helle, die die im Dunkel der Höhle verharrenden Menschen aufforderten, sich aus der von den Religionen und Mythen ver­ursachten Unmündigkeit zu befreien, um selbstbestimmt denken und handeln zu kön­nen. Die taghelle Vernunft wurde zum Fe­tisch der Philosophen, die in einem eigenen »szientifischem Jargon, der den jeweiligen Gewissen­Beruhigungsdisziplinen entlehnt war«, beschworen und gefeiert wurde, wie Heinrich in der Einleitung zu seiner Vorle­sung »arbeiten mit Ödipus« betonte.

Heinrich kritisierte die These, dass der Sieg der philosophischen Reflexion über die mythische Darstellung der Welt, der in der griechischen Antike erfolgte, als epochale Leistung zu betrachten sei. »Die Philosophie kannte weder Triebgrund noch Triebsubjekte, weder Geschlechter­spannung noch eine Theorie des Bewusst­seins der sozialen Klassen«, notierte Hein­rich. Das war der entscheidende Grund für die intensive Auseinandersetzung des Ge­lehrten mit den Mythen und Religionen: »Dort finden wir das Verdrängte der Phi­losophie: Morde, Hinrichtungen, Inzeste, Vernichtungsfantasien etc. Wenn man Geschichte real kennenlernen will, dann muss man sich damit – mit den Verfol­gungen, mit den Aktionen der Ausrottung und so weiter – beschäftigen, sonst ist man in einem Traumkarussell gefangen.«

Die chaotische Mannigfaltigkeit des Ir­rationalen übt laut Heinrich eine starke Anziehungskraft aus. In seinem Buch »Ver­such über die Schwierigkeit nein zu sagen« bezeichnet er diese Faszination als »Sucht nach Sog«, die sich in vielfacher Ausprä­gung bei den Individuen vorfindet. Er ver­stand darunter nicht das herkömmliche Suchtphänomen, das von Alkohol und Hal­luzinogenen ausgelöst wird, obwohl es da­mit zu tun hat, sondern das grundsätzliche Bedürfnis der Menschen, sich durch einen Sog, der einen ergreift, vom Alltagsleben zu entlasten und sich selbst aufzulösen.

Dieser Sog findet sich bereits in animisti­schen Religionen und vor allem in den mys­tischen Traditionen der Weltreligionen. Der spanische Karmelitermönch und Mystiker Juan de la Cruz beschrieb den ekstatischen Sog, der ein ozeanisches Gefühl auslöst: »Alles erlosch, ich gab mich auf / ließ meine Sorge fahren, vergessen unter Lilien.«

Im Gegensatz zu Autoren, die wie Tim­othy Leary, Thomas de Quincey oder Georges Bataille den Sog, den Rausch oder die Transgression verherrlichten, ortete Heinrich den gesellschaftlichen Kontext der »Sucht nach Sog«: »Entkörperungs­bedürfnis signalisiert eine übermäßi­ge Belas tung durch Verkörperungsforde­rungen. Es ist der Schatten unserer eigenen hilflos­ positivistischen, ebenso unleben­digen wie unpolitischen Arbeitswelt. Rand­phänomene spiegeln das Zentrum wider und agieren dessen Konflikte aus.«

Mediale Katastrophensucht

Die »Sucht nach Sog« stellte für Hein­rich nicht nur ein kulturhistorisches Phä­nomen dar; sie ist auch das Signum der ge­genwärtigen Industriegesellschaften, in denen sich der Sog »in einer Katastrophen­faszination äußert, die den Namen Kata­strophensucht verdient«. Sie wird durch Printmedien und digitale Medien verstärkt, die das Ende einer Epoche bedeuten, wie Heinrich in einem Interview betont. Die Globalisierung löse die traditionelle Ord­nung von Zeit und Raum auf, die Orien­tierung und Schutz bot, und verursa­che Unsicherheit, Chaos und irrationale Wutausbrüche, wie die sogenannten Quer­denker­Demonstrationen zeigen. Wenn es nicht gelinge, eine Balance herbeizufüh­ren, dann drohe eine radikale Regression, ein Krieg aller gegen alle; – denn »die Zivi­lisation ist ein hauchdünner Firnis«.

Aus: Die Furche 51-53