Georges-Arthur Goldschmidt
Heidegger und die deutsche Sprache

 

In dem Buch von Georges-Arthur Goldschmidt erfährt man einiges über die deutsche Sprache, genauer gesagt, über die deutsche Sprache seit Luther. Er hat das Deutsche zu einer Blüte gebracht, die ihm selbst schon in seiner Anschaulichkeit innewohnte. Er hat es aber als deutsch protestantischer Missio­nar mit einer Eindringlichkeit aufgeladen, die Deutschland und Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert u.a. in voller Pracht in den Abgrund führte.
Goldschmidt stellt anfangs die meist­gebrauchten Verben des Deutschen vor: setzen, stellen, legen, gehen, brin­gen. Zusammen mit den fünf Präfixen auf-, unter-, ver-, mit-, und dar-, er­reicht die deutsche Sprache schon eine ziemlich große Anschaulichkeit. Die Verben beziehen sich alle auf Positio­nen im Raum, wobei die Präfixe eine noch genauere Positionierung erlauben. Viele Verben kommen von oder ver­weisen auf räumliche Bilder und Dar­stellungen. An verschiedenen epochalen Gemälden deutscher Maler u.a. Caspar David Friedrich wird verdeutlicht, dass es sich schon seit Anbeginn des Deut­schen respektive Altdeutschen um einen bedrohten Raum handelt, der sehr viel Unruhe sowie Bedrohungen ausstrahlt, im Vergleich zum ruhigen weiten Raum Frankreichs. Der „Deut­sche" Raum enthält viele Wälder, Dik­kichte und ist ziemlich unübersichtlich.
Goldschmidt fragt in einem weiteren Kapitel, ob die Anschaulichkeit der deutschen Sprache eine philosophische ist? Leider kann er nur anreißen, inwiefern Luther, Fichte und Kant das Ei­gentümliche des Deutschen für ihre Philosophie nutzten, weil er merkt, dass er sich, ob des Pensums, verzetteln würde. In einem nächsten Schritt kon­frontiert er deren Gebrauch mit der Sprache Heideggers. Ausführlicher fo­kussiert er die sprachliche Entwicklung von Fichte zu Heidegger in einem eige­nen Kapitel. Hier wird deutlich, dass Heidegger sowohl inhaltlich als auch formal, viele Anleihen bei Fichte nimmt. Sie zielen auf ein nationalistisches Denken, welches Heidegger radikalisierte. Goldschmidt thematisiert allerdings kaum, dass die Nationalismen Fichtes damals andere Absichten verfolgten.
Einen Schwerpunkt des Buches bildet mehr oder weniger der Vergleich der LTI mit der Sprache Heideggers. Ob­ wohl Goldschmidt kaum ausführt, was diese ominöse LTI sei, außer dass es sich um eine Schrift von Victor Klempe­rer handelt. Er hätte zumindest Folgen­des erklären können: LTI, Lingua Tertii Imperii, ist eine Schrift von besagtem Dresdner Romanisten, die die Termino­logie, Semantik, Hassrede, das Gebrüll wie den ideologischen Sprachgebrauch des Dritten Reiches analysiert. Obwohl sie schon 1947 erschien, fand sie erst in den 80er Jahren des 20 Jhs. breite Re­zeption im öffentlichen und wissen­schaftlichen Diskurs. Zugleich verwen­det Klemperer jedoch den Begriff der LTI für die Sprache selbst, die aus den Idiomen der Blut- und Bodenliteratur besteht, die Thomas Mann Schollenlite­ratur nannte. Diese betreibt eine intensi­ve Volksverhetzungs-, Antisemitismus-, Feind-, Reichsrettungs-, Verteidigungs-, Angriffs- und Sturmpropaganda.
Goldschmidt gleicht diese Nazipropa­ganda (LTI) mit Heideggers Entwick­ lung seiner eigentümlichen Sprache ab und zeigt ihre Verwandtschaft auf, was an sich ein ziemlich spannendes Projekt darstellt, wenn er es nicht zu sprunghaft, intuitiv und fahrlässig assoziativ ausge­ führt hätte. Dieses Thema verdiente es, systematisch wie chronologisch abge­handelt zu werden.  Solchermaßen er­schlösse es wesentlich mehr notwendige, differenziertere bzw. detailliertere Er­kenntnisse als die hier oft vorliegenden, krassen Redundanzen. Diese Chance hat Goldschmidt gründlich vergeigt.
In Sein und Zeit (1927) erprobt Heideg­ger eine radikal neue Sprache. Obwohl Sein und Zeit oberflächlich betrachtet in bürokratischen Paragraphen abgefasst ist, die Autorität und Unbedingtheit suggerieren, hat Heideggers Sprache hier unerwartete Intensität und Kraft, sie ist nach Goldschrnidt sogar „bewohnt". Heidegger erfindet neue Worte und damit scheinbar neue Wortbedeu­tungen. Es handelt sich dabei um eine „antreibende, vorwärtsdrängende und großartige Wortgebilde hervorbringen­de Sprache", die allerdings keinen Widerspruch zulässt. Die Sprache hebt an, will mitreißen und steigert sich vor allem bei den § 74/75 zu regelrechten Wortexplosionen wie „ekstatische Er­strecktheit". Zugleich meint Goldschmidt, dass derartige Wortschöpfungen zu einer Sprachverengung führen, die alles ausschließt, was diese Heideggerei nicht selbst ist. Letztlich führe sie zu „Wort­festungen", die nur eine ideologische Richtung zulasse.
„Die Kraft des Denkens verfängt sich in einem bestimmten Gebrauch der Sprache, die hier in ihrer Kampflust, in ihrer wie eine unverrückbare Gewiss­heit als Drohmittel benutzten Affirma­tion zum Zuge kommt" (116). Eine solche Radikalität mache Heidegger erheblich für den Nationalsozialismus und seine Sprache der LTI anfällig. Heidegger, geboren in Meßkirch (Ba­den), verbrachte hier seine Kindheit und frühe Jugend. Sein Vater war Mes­ner. Heidegger studierte zuerst Theolo­gie und sollte Pfarrer werden, bekam in der Jesuitenausbildung jedoch Herzbe­schwerden, worauf er zur Philosophie wechselte. In den 30er Jahren richtet Heidegger seine Sprache auf die „Todt­naubergisierung" des sprachlichen Aus­drucks aus, wie Goldschmidt halbiro­nisch formuliert. Es ist der Versuch den Heidegger als „einen Rückgang auf den ursprünglichen Gehalt unserer eigenen, aber ständig im Absterben begriffenen Sprache" beschreibt. In Todtnauberg lebte und sann Heidegger des öfteren länger als Eremit in einer Hütte des Schwarzwalds, die er Zeit seines Lebens aufsuchte. Im Nachbarort Muggenbrunn unterhielt er eine dauerhafte Freund­schaft (Kumpelei) mit dem Bauer Wießler. Die Erfahrung mit dem Dia­lekt und der Aura dieser Gegend inspi­rierten ihn, eine eigene, ,,schwarzwäldi­sche" Schollenliteratur zu entwickeln. Jetzt wurden Themen und Begriffe wie Zugehörigkeit, ein Gehören zur Gegnet und die Erörterung der Gelassenheit im Vergegnis oder in der Inständigkeit, die oft mit Eigenständigkeit konnotiert war, unheimlich mächtig. Gleichzeitig sprach die LTI von der zukünftigen Autono­mie, Autarkie und Eigenständigkeit des deutschen Volkes, um es auf die Kriegs­ wirtschaft vorzubereiten. Auffällig ist, wie sich Heidegger und die LTI nun stärker denn je gegenseitig befeuerten und antrieben.
Goldschmidts Analysen sind interessant für diejenigen, die beginnen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, aber in der Sekundärliteratur zu Heidegger ist die Beschäftigung mit seiner Sprache schon seit den 80ern virulent. Deshalb verwundert, dass Goldschmidt späte Veröffentlichungen wie die Schwarzen Hefte nur in wenigen Nebensätzen erwähnt, und mit keinem Wort die nachgelassene Schrift Philosophie vom Ereignis (1936/38), obwohl er öfter auf den Begriff Ereignis bei Heidegger rekurriert. Beide nachgelassenen Schrif­ten weisen jedoch die größte Affinität zum Nationalsozialismus auf. Sie wur­den ab Mitte der dreißiger Jahre ver­fasst und teils in Vorlesungen vorgetra­gen. In der Interpretation von Klaus Heinrichs Sucht und Sog (Anfangen mit Freud, 1993) hat Heidegger in der Ereig­nisphilosophie das abgründige „Begeh­rensmodell" des Nationalsozialismus nicht nur affirmativ bestätigt. Er wollte zudem den Führer und das Volk in den von ihm schon gespürten Sog der Bewegung leiten. Heidegger wird sogar zu einem „Seismograph der Bewe­gung." Er wie die Süchtigen wollen darin „erfasst werden vom Sog, nicht mehr selbst Herr und eben doch nie Herr seiner Bewegung sein, sondern einer Bewegung angehören, die nach ihnen greift und die, wenn sie sie ergrif­fen hat, nicht nur Entlastung, sondern das Heil der gleichsam unterirdischen Vereinigung in Subjektlosigkeit bedeu­tet. Das aber geht nur durch einen Akt der Entleerung hindurch, die sie zur Übergabe präpariert: in Heideggers Terminologie „das Opfer des Seienden zugunsten des Seins"; in der Realität des Süchtigen die Abstoßung von allem, was ihn am Erreichen der Sog­ bewegung hindert" (48f.). Dazu betreibt Heidegger die Entleerung zum Zweck des ultimativen Ereignisses, der Vereig­nung, er „spricht von der Einfahrt in die Wesung - Wesung ist für ihn ein aufgeladener  Bewegungsbegriff  des Seyns" - als der hier gesuchten eigentli­chen Erfahrung".
Diese Vorlesungen, in der die nach­ gelassene Schrift, Philosophie vom Ereignis, einfließen, schwören opferkultisch auf die nahenden Kriegsereignisse ein und nehmen sie nahezu "erlebnisphiloso­phisch" vorweg.
Goldschmidt erwähnt auch nur kurz, dass Heidegger in den Kriegsjahren zu einer poetischen Sprache übergeht. In dieser Zeit behandelt er Hölderlins Hymnen Germaniens und hält größere Vorlesungen über Nietzsche u.a. als Überwinder der Metaphysik und Be­gründer einer neuen, alle Sinne ergrei­fenden Philosophie. Das Kampfge­tümmel und die Millionen Toten des zweiten Weltkriegs scheinen ihn in Hochstimmung zu versetzen. Aber Goldschmidt lässt auch dieses loh­nenswerte Material außen vor.
Nach der Niederlage Nazideutsch­lands jedoch kam die Enttäuschung. Der NS war plötzlich nicht mehr die Seyns/Bewegung, die alle im Er-eignis vereignet. Heidegger sprach nun zy­nisch von „vor der Zeit gebrachten Opfern". Das konnte nur heißen, dass er auf eine noch größere, noch radikale­re Bewegung wartete, die nun wirklich für das ultimative alles nichtende Er­eignis bereit ist. Oder es teils vermittels ihrer Sogintensität hervorrufen respek­tive herbeisehnen kann. Er zeigte sich als jemand, dem definitiv nicht zu helfen war. Seine Nachkriegssprache wird „leidenschaftslos, fast indifferent, wenn nicht in manchen Texten sogar nichtssagend" so Goldschmidt. Ihre Erstarrung und Ritualität tritt nun besonders stark hervor, sie versuchte (vorbewusst) etwas heraufzubeschwö­ren, das zu der großen Katastrophe in Europa führte und nun in Vergeblichkeit schwelgte. Mit den neueren tech­nologischen und politischen Entwick­lungen der Posrmoderne kann man jedoch nicht mehr sicher sein, ob Hei­deggers Warten auf das ultimative Ereignis in nicht allzu ferner Zukunft doch noch stattfinden könnte.
Goldschmidt avisierte ein Buch, das ein interessantes Thema versprach. Aufgrund der krassen Diskrepanz zwischen Vision und Talent ist er ihm jedoch nicht gerecht geworden.

 


Ottmar Mareis

Aus: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, Heft 74