Wolfgang Fritz Haug – Helmut Reichelt. Zur logischen STruktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx

Wolfgang Fritz Haug

Helmut Reichelt. Die logische Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx

Eine Neuauflage lohnt sich zu besprechen, wenn das betreffende Buch entweder ein Klassiker seiner Art oder um einen bemerkenswerten neuen Text bereichert ist. Hier trifft beides zusammen. Allgemeintheoretische Interpretationen zum marxschen Kapital kommen um die Auseinandersetzung mit dieser Dissertation von 1970 nicht herum. Die Neuauflage ist zudem um ein Vorwort vermehrt, das durch seine Selbstbegrenzung und Abgeschottetheit von der internationalen Diskussion bemerkenswert ist. Eine Horizontverengung, die 1970, im historischen Moment der ersten intellektuellen Ernte einer von Kritischer Theorie und Studentenbewegung erfassten neuen Generation ihr Recht gehabt hat, wirkt drei Jahrzehnte später befremdlich. Wie damals fungiert auch im neuen Vorwort Backhaus, dessen Aufsatz »Zur Dialektik der Wertform« gerade erschienen war (1969), als Gewährsmann. Im Übrigen ist zwar das neue Vorwort datiert, doch findet sich kein Hinweis aufs ursprüngliche Erscheinungsjahr, und in der Einleitung von 1970 wird selbst der alte Backhaus-Aufsatz nach einem Sammelband von 1997 zitiert. Ob die Neuausgabe über solche Quellenmodernisierung‘ hinaus bearbeitet ist, wird ebensowenig mitgeteilt. So wird Geschichte getilgt und ein Schein von Gegenwärtigkeit erzeugt. Das deutet auf einen enthistorisierenden Gebrauch, den solche Abschottung nicht nur nicht stört, sondern der sie geradezu voraussetzt. Ihm kommt eine sich durch das neue Vorwort ziehende rhetorische Figur entgegen, die Erstmalig- und Einzigartigkeit reklamiert und das gesamte übrige Universum marxistischer Debatten der Problemblindheit in der marxschen Hauptsache zeiht.

Dieser doktrinale Kern wird in die Aura eines für Außenstehende undurchdringlichen Geheimnisses gehüllt. Das Vorwort beginnt mit dem Zitat aus einem Brief, worin Marx nach Veröffentlichung von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) an Engels schrieb, die Fortsetzung werde »viel populärer und die Methode viel mehr versteckt« sein (MEGA III.3, 49). Diese Äußerung gilt forthin als Tatsachenfeststellung übers Kapital. Hier habe Marx die Methode »versteckt« (7). Dass Gerhard Göhler 1980 »konstatiert«, Marx habe die Dialektik im Kapital »reduziert«, soll die Versteckthese ebenso bestätigen wie die Tatsache, »dass Marx auch noch in der zweiten Auflage des Kapitals methodologische Passagen ersatzlos gestrichen hat« (ebd.). Dass Marx im Nachwort zur 2. Auflage zum Verständnis seiner »dialektischen Methode« auf den Unterschied von Forschung und Darstellung verweist und seine Dialektikauffassung (»jede gewordne Form im Flusse der Bewegung« aufzufassen usw.) umreißt (MEW 23, 27f), gilt Reichelt nichts. Ulrich Müller hat ihm schon 1974 in einer vorzüglichen Rezension vorgehalten (Arg. 85, 16. Jg. 1974, 279-84), dass er »Marxens Wendung gegen Hegels spekulatives Verfahren [vernachlässigt], sein Insistieren auf dem Forschungsprozess, in dem allein die Abstraktionen zu gewinnen sind, von denen die systematische Darstellung ihren Ausgang nimmt, wodurch dieser der Charakter der gedanklichen Reproduktion gegeben wird im strikten Gegensatz zum sich selber in seine Konkretionen entfaltenden Geist« (282). Reichelt geht darauf ebensowenig ein wie auf alle übrigen inzwischen erschienenen Diskussionsbeiträge. Eine umfangreiche Literatur zu diesen Fragen ignorierend beharrt er darauf: »Umfang und Bedeutung dieser ‘Reduktion‘ sind bis heute nicht geklärt.« (7) In den früheren Schriften, v.a. in den Grundrissen (1857/58), liege die Methode »gewissermaßen ‘unversteckt‘ vor (8).

Jede Behauptung stützt die nächste, alle zusammen aber rechtfertigen ein Verfahren, bei dem »vom Kapital wesentlich prägnanter ausgesprochene Sachverhalte in der Sprache der Frühschriften reformuliert werden« (Müller 1974, 282f). Dass Marx, der unermüdlich Forschende, dazugelernt hat, ja dass er in mehreren Schüben einen epistemologischen Paradigmenwechsel vollzogen hat, dass das weiterentwickelte Denken eine zwar hegelfernere, aber historisch-materialistisch desto brauchbarere Dialektikauffassung einschließt, erscheint für Reichelt undenkbar. Dabei wäre doch kaum eine Einsicht anregender für heutigen Lernbedarf als die in Marxens Lernprozesse. Reichelt untersucht jene Veränderungen erst gar nicht. Er weiß sie von vorneherein als »Reduktion«, unklar ist nur, ob in Folge einer Art innerer Emigration oder eines Abfallens von der wahren Lehre. Diese scheint Verf. in der »Wertverselbständigung« in Gestalt des Geldes zu sehen, aus deren Nachvollzug Marx zumal in den Grundrissen »das Kapital in seiner gesamten Widersprüchlichkeit und Gesetzmäßigkeit […] zu entwickeln« bestrebt sei (14). Indem Marx im Kapital (wie in Zur Kritik) mit der Ware als Kapitalprodukt beginnt, könne »die weitere Entwicklung des Kapitals kaum noch nach dieser Methode erfolgen: sie muss also ‘versteckt‘ werden. Systematisch werden alle Hinweise auf diese Verfahrensweise entweder eliminiert oder in den Hintergrund geschoben.« (15) Entsprechend werde der Begriff der abstrakten Arbeit im Kapital nicht mehr wie früher systematisch entwickelt, sondern »definitorisch eingeführt« (16). Zu all diesen Schwierigkeiten komme hinzu, dass »in der gesamten Diskussion über die marxsche Theorie« deren »an Hegels wesenslogische Konzeption der setzenden und äußeren Reflexion« anknüpfendes Konzept der »Geltung« unentdeckt geblieben sei (17).

Ungeachtet der schwer verständlichen Selbstabschottung eines auf seine Jugendschrift zurückblickenden Autors gehört diese zu den paradigmatischen Werken der hegelo-marxistischen Linie. Das Problematische der »Analogie« zwischen Hegels Geist und dem Kapital bei Marx (Müller 1974, 281) lässt sich hier deutlicher studieren als woanders. Der Positivismusverdacht der Kritischen Theorie wird hier so weit ausgedehnt, dass er diese selbst erfasst (24). Die kritische Auflösung richtet sich auf alle »Verselbständigung« und Entfremdung als »Überhang gesellschaftlicher Objektivität« (24). »Wo erst die Individuen zu ihrem Recht kommen und nicht mehr unter ein – von ihnen selbst noch in dieser Form produziertes – Abstrakt-Allgemeines subsumiert sind, werden generelle Aussagen unmöglich. Mit der Aufhebung gesellschaftlicher Objektivität, der abstrakten Negation wirklicher Individualität, verschwindet der Gegenstand aller Theorie.« (48) Alles gegenüber den Individuen Feste an den Verhältnissen löst sich in dieser Perspektive mit dem Kapitalismus dereinst auf. Von der »inneren Logizität der Wertbewegung« (147) leitet Reichelt die Berechtigung ab, dem »Logischen« für die Dauer des Kapitalismus eine solche Schlüsselbedeutung zuzusprechen. Und solange der Kapitalismus besteht, gilt im Gegenextrem zur Entobjektivierungsperspektive, dass dessen Objektivationswelt ihr »Subjekt« »gleichsam nur noch nachschleift« und dass von ihrer »immanenten Logizität« »die Menschen wie eh und je […] mitgeschleift werden, aber seit Marx immer auch die Möglichkeit haben, sich, wenn schon nicht von dieser Form der Subsumtion unmittelbar zu emanzipieren, so doch in wissenschaftlicher Weise Klarheit über dieselbe zu verschaffen« (24).

Hier zeigt sich die Objektivitätskritik mit Objektivismus geschlagen. Die nachgeschleiften Subjekte finden keinen praktischen Anhaltspunkt, die politische Praxisperspektive sozialer Bewegungen findet sich ‘radikal‘ desartikuliert. Anregend ist gleichwohl nach wie vor Reichelts Thematisierung des allgemeinen, jede historische Konkretion aufschließenden, aber keine historisch spezifischen Verhältnisse abbildenden Kapitalbegriffs; ferner das Ernstnehmen der Wertformanalyse und des formgenetischen Erkenntnisinteresses von Marx. Die Auseinandersetzung mit Reichelts Grundoption, das Frühere bei Marx höher zu bewerten als das Weiterentwickelte, fordert angesichts der vorzüglichen Textarbeit zum Weiterdenken heraus.

Aus: Das Argument °246, 44. Jg., 2002, H. 3, 414f

Trennmarker