Rudolf Walther – Durchgeschlagener Nimbus

Rudolf Walther

Durchgeschlagener Nimbus

Daß Dissertationen nach dreißig Jahren wieder nachgedruckt werden, ist eher selten. Das liegt nicht nur an der beschränkten Haltbarkeit von Arbeiten, die sich in der Regel weniger durch wissenschaftliche Innovation auszeichnen als durch handwerkliche Solidität, mit der man sich die Eintrittskarte in die scientific community verschafft. Schon deshalb ist es bemerkenswert, daß im Freiburger Verlag ça ira jetzt Helmut Reichelts Doktorarbeit von 1970 wieder aufgelegt wurde. Richtig merkwürdig im mehrfachen Sinne des Wortes wird dies jedoch, wenn man Titel und Gegenstand der Dissertation betrachtet: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Iring Fetscher schrieb 1970 im Vorwort, Reichelts Schrift schaffe “eine wesentliche Voraussetzung für eine vertiefte und angemessenere Interpretation der Marxschen .Kritik der politischen Ökonomie'”. Und dieses Verdienst kommt der Arbeit ohne Zweifel zu.

Reichert beschäftigt sich nicht mit dem Kapitalismus, sondern allein mit den methodologischen Problemen und Fragen der “kategorialen Darstellung” von Marx’ Kapital (1867) und den Vorarbeiten dazu seit 1857. Er bearbeitet knifflige Fragen zum Wert- und Kapitalbegriff sowie dessen Entfaltung, seziert Kategorien wie Wert, Preis, Wertform, Wertgröße auf höchstem Abstraktionsniveau. Nur bei großen Texten verliert solche philologische Kleinarbeit und scholastische Tüftelei den Geruch von luxuriöser Vergeblichkeit. Fetscher attestierte Reichelts Schrift damals, daß sie ebensogut “als philosophische, soziologische oder wissenschaftstheoretische” wie als “politikwissenschaftliche Dissertation” hätte bestehen können. Es ist, als ob der Rang des Gegenstandes auf die Auseinandersetzung damit durchgeschlagen hätte, denn immerhin Adorno nannte das Kapital ein “großes Stück Philosophie”, und Reichelt demonstriert das an der methodischen Raffinesse, mit der es gestrickt ist.

Leider gibt Reichelt im Vorwort zur Neuauflage keinen Hinweis darauf, wie er sich die Lektüre seines Textes im völlig veränderten politischen und theoretischen Umfeld heute vorstellt. Er verrät auch nicht, für welche Leser er das Buch erneut zugänglich macht. Der Nimbus, den die Marxsche Theorie und die legendäre rote Reihe “Politische Ökonomie” der Europäischen Verlagsanstalt in den siebziger Jahren hatten, kann es nicht gewesen sein, der zum Nachdruck motivierte. Denn dieser Nimbus ist definitiv Geschichte. Ein Schelm, der den fast völlig schwarzen Einband der Neuauflage nicht als Menetekel deutet.

Aus: Frankfurter Rundschau vom 27. August 2002

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