Claus Peter Ortlieb – Täuschungen des Individualismus * Rezension zu: Sohn-Rethel, Von der Analytik des Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft
Claus Peter Ortlieb
Täuschungen des Individualismus
Sohn-Rethels Frühschriften
Die Rezeption der Werke Alfred Sohn-Rethels (1899 – 1990) ist durch erhebliche Zeitverzögerungen gekennzeichnet. Erst mit dem Erscheinen seines Ende der dreißiger Jahre verfaßten Hauptwerks Geistige und körperliche Arbeit mehr als dreißig Jahre später in der edition suhrkamp 1970 sowie der Publikation von weiteren Titeln in den Folgejahren sind seine Schriften einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Bis dahin waren nur drei kleinere Arbeiten von ihm zum Druck gekommen. Die Resonanz in den siebziger und achtziger Jahren war beachtlich und betraf vor allem die von Sohn-Rethel aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Warenform und Denkform, die er mit dem Versuch einer materialistischen Erkenntnistheorie zu beantworten versuchte, ohne dabei über eine “halbintuitive Einsicht” wirklich hinauszukommen, wie ihm selber durchaus klar war; zur Kritik an Sohn-Rethels Ansätzen und einem neuen Versuch einer Antwort auf seine Fragestellung siehe den Text von Eske Bockelmann: Die Synthesis am Geld. Natur der Neuzeit in EXIT! 5.
Nun sind im ça ira-Verlag dankenswerterweise und mit über achtzigjähriger “Verspätung”, herausgegeben von Carl Freytag und Oliver Schlaudt, frühe Schriften von Sohn-Rethel erschienen, die bis dato noch nicht in allgemein zugänglicher Form vorlagen. Titelgebend ist hier die Dissertation Sohn-Rethels Von der Analytik des Wirtschaftern zur Theorie der Volkswirtschaft aus dem Jahr 1928, die zusammen mit Dokumenten aus ihrem Umfeld und späteren Kommentaren den Hauptteil des Bandes ausmacht. Enthalten ist außerdem ein Beitrag zur Debatte über die Akademische Jugend aus dem Jahr 1930.
Das gemeinsame Oberthema des Bandes besteht in dem Verhältnis von Individuum und (bürgerlicher) Gesellschaft sowie in den Täuschungen, die ein die Gesellschaft ausblendender Individualismus bereithält. Die Schriften haben nicht nur historische Bedeutung, sondern bleiben aktuell, solange der Gegenstand ihrer Kritik nicht verschwunden ist. Auch wenn es, wie wir es von anderen Texten Sohn-Rethels kennen, viele dunkle Äußerungen gibt, in denen – wie es der Gutachter seiner Dissertation Emil Lederer formuliert – seine Denkkraft um sich selber kreist und die Texte daher nicht leicht zu lesen sind, finden sich doch zahlreiche Abschnitte, die geeignet sind, auch aktuelle Debatten zu bereichern. Sohn-Rethels Dissertation setzt sich mit dem methodologischen Individualismus der Grenznutzenlehre u. a. von Schumpeter [ 1 ] auseinander, die sich von der heute herrschenden neoklassischen Volkswirtschaftslehre allenfalls unwesentlich unterscheidet. Diese Lehre erhebt den Anspruch, das volkswirtschaftliche Geschehen aus dem Handeln und der Rationalität der einzelnen Wirtschaftssubjekte herzuleiten. Der Anspruch ist bis heute nicht erfüllt und kann auch gar nicht erfüllt werden, siehe meinen Text Marktmärchen in EXIT! 1. Die Verfehltheit des methodologischen Individualismus weist Sohn-Rethel im Falle Schumpeters insbesondere an dessen “Variationsmethode” nach, die sich als Vorläufer der neoklassischen Gleichgewichtstheorie deuten läßt, gegen welche die vorgebrachten Argumente immer noch gültig sind: Damit die auf der Anwendung von Mathematik beruhende Methode funktioniert, müssen ihrem Gegenstand so viele irreale Eigenschaften zugeschrieben werden, daß er mit dem realen wirtschaftlichen Geschehen so gut wie nichts mehr zu tun hat.
Auf einer grundsätzlicheren Ebene liegt ein weiteres Argument Sohn-Rethels gegen den methodologischen Individualismus, daß nämlich die Rationalität der einzelnen Wirtschaftssubjekte nicht als letzter Grund des kapitalistischen Wirtschaftsgeschehens herhalten kann, sondern selber erklärungsbedürftig ist. Daß und in welcher Weise die Individuen ihren ökonomischen Nutzen maximieren, hat seinen Grund in den ökonomischen Verhältnissen, in deren Rahmen sie handeln. Der methodologische Individualismus setzt die Einzelnen als Einzelne immer schon voraus und schneidet die Frage nach der Herkunft ihrer spezifischen Rationalität einfach ab.
Ein kurzes Kapitel der Dissertation heißt “Die naturwissenschaftliche. Methode in der Ökonomie und ihre Überwindung”. Sohn-Rethels Verständnis dieser Methode ist an Kant orientiert. Während demzufolge das “An sich” des Gegenstands in der Natur verschlossen ist, sei er uns dagegen in der theoretischen Ökonomie gegeben als “die Erfahrung, welche die Subjekte von den Dingen als bloße .Erscheinung’ besitzen, und das zweckrationale Verhalten, zu welchem diese Erfahrung sie ihren persönlichen Wertungen gemäß bestimmt….
Wenn man sich also in der theoretischen Ökonomie mit den Grundlagen und Prinzipien der Erkenntnis überhaupt methodologisch in Übereinstimmung setzen will, so ist man zu einer Methode gezwungen, welche sich gerade umgekehrt wie diejenige der Naturwissenschaft verhält. Dieser ist die Beschaffenheit ihrer Gegenstände an sich selber verschlossen; sie muß ihrer Erkenntnis derselben (als Erscheinung) alle Aussage aus eigenem Denken hypothetisch vorwegnehmen, weil sie jenen gegenüber allein die Autonomie besitzt; die einzige Garantie ihres Erkenntniswertes liegt post festum ihrer Theorie im Experiment. Die theoretische Ökonomie aber steht erkenntnistheoretisch genau auf den Schultern dieser methodologischen Position der Naturerkenntnis: Ihr ist die Beschaffenheit und Grundlage ihres Gegenstandes an sich selber prinzipiell restlos einsichtig, denn diese ist nur die rationale Erfahrung der Subjekte selbst; sie darf ihrem Gegenstand prinzipiell in ihrer Theorie nichts vorwegnehmen, denn die erkenntnistheoretische Autonomie hat ihr gegenüber ihr Gegenstand; alle Garantie für ihren Erkenntniswert liegt für sie ausschließlich darin, daß sie sich ante festum ihrer Theorie der Identität ihrer Voraussetzungen mit den Bedingungen der Möglichkeit ihres Gegenstandes versichert, und hat sie diese Verankerung versäumt, so wird sie hernach aus ihren Ergebnissen niemals wieder eine gewinnen, sondern ihre Theorie steht ohne jeden Erkenntniswert im Leeren.” (105)
Sohn-Rethel weist hier einen wesentlichen Grund für das Fehlen jeglicher Erklärungskraft der Grenznutzenlehre und ihres methodologischen Individualismus auf. Einer der beiden Herausgeber des Bandes betont daher zurecht, daß Sohn-Rethels Dissertation eine wichtige erkenntnistheoretische Fundierung auch der neueren, oft an Popper orientierten und daher unzureichenden Kritik der neoklassischen Volkswirtschaftslehre bietet.
Der kurze Text Das Problem der akademischen Jugend steht im Kontext einer Debatte, die in dem Band nicht aufgeführt ist, aus dem Text selber aber erahnt werden kann. Es geht um die Frage der Persönlichkeitsentwicklung, deren Unmöglichkeit Sohn-Rethel betont, solange sie individuell gesucht wird:
“Wir haben es an der Jugendbewegung schon vor dem Krieg erlebt und sehen es heute tausendfach bestätigt, daß jeder Versuch der persönlichen, .ethischen Unmittelbarkeit, allein oder in .Gemeinschaft’ unternommen, im Krampf endet, in einem seelischen Labyrinth, das stets so viele Irrwege hat, als man Auswege sucht. Sie verhallt im Pathos des ohnmächtigen guten Willens. Und auch der noch, weil er leerläuft, ist die ärgste, weil die grundsätzliche Verfälschung der Existenz. Es steht dahinter der Irrtum – der ein Anspruch ist –, daß die Probleme, an die wir heute stoßen, Probleme unserer Person seien. Aber der Mensch steht heute nicht mehr vor dem Problem seiner Einzelexistenz, er steht vor dem Problem der Existenz des Ganzen – des Ganzen der Gesellschaft. Nur der Umweg über das Existenzproblem der Gesellschaft ist der Weg zum Existenzproblem des Einzelmenschen …. Wer wir einzelnen sind, wie es um uns, um jeden persönlich steht, das zu wissen ist u nmittelbar unmöglich, wir finden da nur Relativitäten. Aber möglich ist zu wissen, wie es um das Ganze steht, wie es mit der Gesellschaft hier und jetzt bestellt ist, wie es mit ihr bestellt sein sollte, und was mit ihr geschehen kann, um sie zu verändern. … Die Unlösbarkeit des Persönlichkeitsproblems ist zur Lösbarkeit des Gesellschaftsproblems geworden.” (148)
Der damit formulierte Anspruch an eine kritische Theorie der Gesellschaft und eine diese verändernde Praxis stößt allerdings auf erhebliche Widerstände, die Sohn-Rethel folgendermaßen ausmacht:
“Aber hier steht uns die Hemmnis einer objektiven Schranke durch die Form der bürgerlichen Existenz entgegen. Denn deren unabstreitbare Form ist Individualismus, wie sehr ihm das Problem dieser Welt auch widerstreite. An diesen Individualismus sind wir gekettet, er bleibt trotz aller theoretischen Überwindung die Form unseres Daseins, unsres Studiums und der Problematik unserer Bildung. Hier liegt für Viele das Unglück. Denn wir können hiermit nur fertig werden, wenn wir diesen Individualismus im Gegensatz zu unsrem Sollen, zu unsrem Menschsein halten. Er ist die Schlacke, nicht das Ethos, die Täuschung, nicht die Wahrheit unsres menschlichen Seins.” (149)
Hinter den hier erreichten Erkenntnisstand sollte keine Theorie-Praxis-Diskussion zurückfallen. Er markiert die Schwierigkeit der Aufgabe, die bürgerliche Gesellschaft bewusst zu überwinden, ohne angeben zu können, wie das geschehen kann. Aber wer könnte das schon?
In dieser Diagnose liegt auch eine – von Sohn-Rethel selbst so nicht gegebene – Begründung für die offenbare Unverwüstlichkeit des methodologischen Individualismus, der nichts zu erklären vermag, aber gleichwohl die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der letzten hundert Jahre beherrscht. Er entspricht nur allzu sehr der alltäglichen fetischistischen Erfahrung der Subjekte mit ihrer Gesellschaft “als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen” (Marx), dem sie als vereinzelte Einzelne gegenüberstehen. Es ist die kapitalistische Gesellschaft selbst, die sich der adäquaten Erkenntnis durch ihre Mitglieder widersetzt, die sie täglich neu konstituieren und deren Gedankenformen zugleich von ihr konstituiert werden. Bei der Aufgabe, das gesellschaftliche Unbewußte zu durchdringen, bleibt einer kritischen Theorie der Gesellschaft daher nach wie vor viel zu tun.
Aus: Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft N° 11 (Juni 2013, S. 210 –213
Anmerkungen
[1] Josef Alois Schumpeter: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Leipzig 1908