Magnus Klaue
Verzahnen wir einmal die Stränge
Dirk Braunstein und Christoph Hesse orten akademische Phrasen
Seit den 1980er Jahren ist das Phrasenlexikon zu einem populären Buchgenre geworden. Von Eckhard Henscheids 1985 erschienenem Kompendium »Dummdeutsch« über das von Klaus Bittermann, Gerhard Henschel und Wiglaf Droste 1994 vorgelegte »Wörterbuch des Gutmenschen« bis zu Frank Böckelmanns »Begriffe versenken« (1997) haben Autoren auf die lexikalische Form zurückgegriffen, um zu demonstrieren, was Böckelmann als geistige Erstarrung »im Bann der leeren Worte« beschrieben hat: die Transformation von Begriffen und Metaphern zu Signalwörtern, die nichts Spezifisches ausdrücken oder bezeichnen, sondern nur im Leerlauf funktionieren. Referenz all dieser Versuche war Gustave Flauberts uneingelöstes Vorhaben einer »Enzyklopädie der menschlichen Dummheit«, ein bedeutender Vorgänger im vorigen Jahrhundert auch das 1957 von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W.E. Süskind herausgebrachte »Wörterbuch des Unmenschen«.
Während Flauberts Anspruch jedoch ein enzyklopädischer war – auf den Zerfall des Wahrheitsanspruchs bürgerlicher Bildung sollte mit einer Universalgeschichte der Dummheit geantwortet werden –, bearbeiten seine Erben Einzelbereiche der Dummdeutschproduktion: Sternberger und seine Mitautoren den Niederschlag totalitären Denkens in der Sprache, Henscheid den Selbsterfahrungs- und Wellness-Jargon, Bittermann et al. die sprachlichen Verheerungen der Friedensbewegung, Böckelmann die Verfallsformen des linken Akademismus. Die Gefahr solcher Sammlungen ist, dass in ihnen die Sprachkritik zur Lachvorlage für diejenigen wird, an sie sich richtet: Journalisten legen Plastikwörterbücher an, und Geisteswissenschaftler amüsieren sich über Stilblüten in Texten von Studenten und Vorgesetzten.
Der Philosoph Dirk Braunstein und der Filmwissenschaftler Christoph Hesse haben nun ein Wörterbuch akademischer Phraseologie vorgelegt, dessen Form eng an »Dummdeutsch« angelehnt ist. Indem sie die »Einheit von Wichtigtuerei und Windbeutelei« ins Visier nehmen, die den Wissenschaftsbetrieb nach »Einklammerung« seines Wahrheitsanspruchs zusammenhalte, verweigern sie sich ebenso pauschaler Intellektuellenfeindlichkeit wie dem Witzbedürfnis von Kollegen. Obwohl die Autoren auch die Terminologie aufgreifen, die aus den Kultur- und Genderwissenschaften in den Alltagsjargon diffundiert ist (»Diskurs«, »Feedback«, »Heteronormativität«), liegt das Neue ihres Buches darin, dass sie die umgekehrte Sprachdeformation in den Blick nehmen: die verarmende Anreicherung wissenschaftlicher Terminologie durch Alltagsphrasen, die in der Umgangssprache ihre eigene Ausdrucksfähigkeit hatten, im akademischen Jargon aber hohl und tumb klingen.
Hierzu gehört das von der häuslichen Sphäre auf das akademische Feld importierte »Einbetten« (»Vor diesem Hintergrund geht es um die Frage, wie sich die medientheoretische Rekonstruktion der modernen Kommunikationstheorien in den umfassenden Horizont einer pragmatischen Kulturwissenschaft einbetten lässt«), die Rede von Horizonten, Hintergründen, Knackpunkten, Gefügen und Folien (»Muss Swedenborgs Rolle lediglich auf eine Negativfolie für die spätere Philosophie Kants reduziert werden?«) sowie von Dimensionen, Verflechtungen, Vorzeichen und Strängen (»Drei Stränge der Debatte werden näher beleuchtet«). Wenn gegen Ende des Buchs nacheinander die Wörter »verorten«, »vertiefen« und »verzahnen« gewürdigt werden, wird vollends deutlich, dass das Buch nicht einfach Kritik an einer herabgesunkenen Wissenschaftsterminologie übt, sondern vor allem gegen die Aufnahme einer trüben Alltagssprache in die akademische Diktion polemisiert.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 2022